Wilhelmshaven …
Jan 082003
 

...wie es wirklich war

(hk) Nur eine oder zwei Handvoll WilhelmshavenerInnen sind bisher im Besitz des Buches mit dem obigen Titel. Von Hand zu Hand wird es weitergereicht, und die Zahl der „Fans“ steigt und steigt. Was ist das für ein seltsames Projekt?

Der Autor des Buches gibt sich nicht zu erkennen – er hat Wilhelmshaven vor vielen Jahren verlassen und lebt jetzt in Malaysia. Das Titelbild ist völlig daneben – unter dem Rüstringer Friesen prangt in Großbuchstaben der Schriftzug „Wilhelmshaven“ – in einer Schrift, die einfach scheußlich ist (Old English o.ä.) – darunter in ans 1000jährige Reich und den WZ-Schriftzug erinnernden Lettern „…wie es wirklich war.“
b186051„You can’t judge a book by looking at the cover“ sang Bo Diddley in den ausgehenden Fünfzigern – doch stimmt das auch für dieses Buch?
Im Vorwort schreibt der Autor: „Jeder wirklich heimatverbundene W’havener wird sich früher oder später das Wilhelmshavener Heimatlexikon (WHL) oder ähnliche Werke anschaffen – ein Muss! Was für eine Freude, die eigene Straße dort ausführlich gewürdigt zu sehen. Oder gar den Direktor der eigenen Schule, wenn auch die Erinnerungen an ihn manchmal zwiespältig waren.
Jedoch – noch anfänglicher Begeisterung treten beim Studium des WHL immer mehr Lücken zutage und mehr und mehr Zweifel mischen sich in die Bewunderung: die Nachkriegsgeneration (des Zweiten Weltkrieges, wohlgemerkt!), der der Chronist angehört, kann nun mal mit W’havener Originalen aus dem späten 19. Jh. herzlich wenig anfangen – als ob es zu unserer Zeit keine gegeben hätte…! Mancher nach Meinung des Chronisten unverzichtbare Begriff fehlt völlig, andere sind nur unvollständig erklärt: wer in W’haven denkt denn schon bei Brandt an den gleichnamigen Politiker? Kaffee Brandt, das war wichtig!! Möge das vorliegende Werk mit den Erinnerungen des Chronisten an seine Jugend in der Jadestadt zwischen 1950 und 1970 (neudeutsch könnte man es getrost: „Oral History of Wilhelmshaven“ nennen) zumindest einige Lücken schließen und als Wegweiser durch diese harte, aber auch schöne Zeit dienen.“
Das Vorwort macht es schon deutlich: Hier hat jemand seine Erinnerungen an Wilhelmshaven alphabetisch geordnet niedergeschrieben. Das erste Stichwort lautet Abenteuerroman, das letzte Zwiebelturm. Auf den knapp zweihundert Seiten dazwischen tummelt sich all das, was den Autor zwischen 1950 und 1970 bewegte, tummeln sich all jene, die in seinem Wilhelmshaven-Bild in dieser Zeit eine mehr oder weniger wichtige Rolle spielten.
Sehr persönlich schildert der Autor seinen Weg von den Drangsalierungen im Elternhaus (z.B. Stichwort: Abwaschen), über die Schule bis zur Lehrlingsausbildung und Berufsschule. Die persönlichen Eindrücke des Autors werden allerdings sehr schnell zu allgemeingültigen Erfahrungen der Jugendlichen aus dieser Zeit.
Doch neben Familie und Pauken gab ja auch noch die Freizeit – und hier beweist der Verfasser, dass er wohl auf allen Hochzeiten getanzt hat. Da wird nicht nur der Ball der Jugend im Schützenhof fein beobachtet beschrieben: „Die ersten Ankömmlinge fanden im hellerleuchteten Saal des Schützenhofs jede Menge weiß eingedeckter Tische aufgestellt, so dass das Ganze eher den üblichen Modeschauen ähnelte, die unsere Mütter so gern aufsuchten, als einem Tanzvergnügen für Jugendliche. Nur die große freie Fläche vor der Bühne ließ erahnen, was sich hier in Kürze abspielen würde…“
Weniger witzig seine Beschreibung des Frauenhauses: „Es war als Fluchtburg für Frauen prügelnder Ehemänner gedacht, wurde jedoch schon bald zu einer lesbischen Bastion in Bant.“
Dutzende mehr oder weniger bekannte Wilhelmshavener Größen tauchen in dem Buch auf – nur kennt man eigentlich keinen davon. Doch nach einigen Seiten wird klar: Aus Weiß wird Gelb, aus Westermann wird Ostermann, aus Scheuß wird Scheußlich, aus Bello wird Beppo usw… Die Namen wurden allesamt so verändert, dass eine Identifizierung nicht sonderlich schwer ist – man muss nur irgendwie die Zeit miterlebt haben.
Neben einigen Ungenauigkeiten (Antonslust: Kneipe an der verlängerten Genossenschaftsstraße nahe dem Friedhof Aldenburg), Geschmacklosigkeiten (Contergan – hier verbietet es sich, die Geschichte die dort als „selbst erlebt“ zu lesen ist, zu zitieren), diversen Erinnerungslücken (gab es nie einen René Morgenstern, den JourFix, die Gewerkschaft, das Blue Note?), vielen Abschweifungen in völlig nebensächliche Themen der Regenbogenpresse (Vera Brühne...), Bildzeitungsdenken (Intellektuelle werden durch Parker-Tragen zu Gammlern) entlarvt sich der Autor als wahrer Wilhelmshavener Marinejunge: SJB: Abkürzung für ,,Sozialistischer Jugendbund W’haven“. Der SJB entstand in den späten 60er Jahren als Sammelbecken junger pseudolinker Angehöriger der Halbintelligenz. Durch provokative Maßnahmen wie Störung der Marinetraditionsveranstaltung zum ,,Skagerrak-Tag“ und abstruse Leserbriefe an die WZ, in denen die DDR als beispielhaft für die BRD dargestellt wurde, gelang es dem SJB, in W’haven einen relativ hohen Bekanntheitsgrad zu erreichen. Wichtige Kämpfer des SJB waren der vom neuapostolischen Glauben abgefallene Benno Hanßen, Von Hin und Zurück, Peter Propeller, Günter Dünn, Werner Horror und nicht zuletzt Bolle Deschner, der sich als eine W‘havener Miniausgabe von Fritz Teufel aufspielte. Bei einigen W‘havener Mädchen mit zweifelhafter Reputation, so z. B. Birgit Borsig, waren die SJB-Revolutionäre jedoch sehr populär…. So blöde schrieb nicht einmal die Wilhelmshavener Zeitung.
Man merkt sehr schnell, dass der Autor im politischen Bereich völlig unbeleckt ist, doch die Stärken des Buches liegen in der Beschreibung des Lebens in der Südstadt (vornehmlich in Bant) und der Charakterisierung vieler Bürgerinnen und Bürger. Es ist die Geschichte einer Jugend, die sich von den Gedanken der Alten loslöst, die sich überall ihre Nischen baut – Nischen, die heute oftmals gesellschaftsbestimmend sind.
Ein kleines Denkmal setzte der Autor zum Beispiel dem Banter Original Erbsensuppe: Spitzname eines Banter Schrottsammlers, der von seinen Freunden ‚Hansi’ genannt wurde. (…) Mit seinem Pfeffer- und Salz-Mantel, den Gummistiefeln, der Mütze vom Reichsarbeitsdienst und dem Feuerhaken in der Hand, mit dessen Hilfe er in Abfallhaufen und Mülltonnen nach Altmetall suchte, war er eine bantbekannte Erscheinung.
Auch Muddi, die legendäre Garderobiere aus dem Club 69, findet sich in dem Buch wieder.
Doch mehr als einzelnen Personen widmet sich der Chronist den alltäglichen Kleinigkeiten, die im damaligen Leben eine Rolle spielten: Ahoi-Brause, Akim (Herr des Dschungels), Fichtennadelschaumbad, Birkin, Blausiegel, Brisk, Klapperlatschen, Prickel-Pit, um nur einige zu nennen. Immer wieder ranken sich seine Geschichten um Rocker, Banter Briten, Exis, Schlägertrupps aus F’groden, Gammler und eben um die zahlreichen Treffpunkte, an denen sich alle trafen.
Das Buch zu lesen macht Spaß – man legt es trotz einiger Dümmlich- und Peinlichkeiten nicht aus der Hand, bis man beim Stichwort Zwiebelturm angekommen ist – allerdings nur, wenn man/frau zu dieser Zeit eine Verbindung hat. Man muss schon wissen, wo der Club 69 war und was im Farmer Bill und in Blue City ablief. Für diese Leute empfehlen wir das Buch mit fünf Sternen, wir empfehlen dieses Buch zum gemeinsamen Lesen: Wer erinnert sich? Wer könnte sich hinter den Namen Bolle Deschner verbergen – und natürlich die Königsfrage: Wer hat’s geschrieben?
„Wilhelmshaven …wie es wirklich war“ – gespickt mit vielen Bildern – DIN A4-Format – 200 Seiten – Preis 15 € – Bestellung über: bendowski@gmx.de

Noch eine kleine Leseprobe:

Im Gegensatz zu den Ausführungen des WHL waren die B.B. eher selten mit Hilfsdiensten für alte Leute beschäftigt. Die erwachsenen männlichen Exemplare liebten es, an sonnigen Nachmittagen rauchend in Unterhemd und Hosenträgern vor der Tür des Werfthauses zu stehen und mit einer Mischung aus Stolz und Versonnenheit ihren Kindern beim Verprügeln kiezfremder Jugendlicher, die sich dorthin verirrt hatten, zuzuschauen.
Setzten sich die Kiezfremden erfolgreich gegen die Banterbritenbrut zur Wehr, nahm der Vater noch einen tiefen Zug aus der Zigarette, schnipste den Stummel zwischen den Fingern weg und schritt selbst zur Tat.
Die Banter Britinnen waren überwiegend in Kittelschürzen gekleidet und trugen fast ständig Lockenwickler im Haar. Gab es einmal Meinungsverschiedenheiten unter ihren Männern, pflegten sie den jeweiligen Partner keifend zu unterstützen. Ihre Brutpflege kann als vorbildlich gelten: drohte der Nachwuchs bei Auseinandersetzungen zu unterliegen und war der Mann gerade Bier holen, konnten sie auch selbst handgreiflich werden. Am Wochenende überschütteten sie sich mit Tosca von 4711 („Mit Tosca kam die Zärtlichkeit“) und machten bevorzugt das Idioten-Dreieck unsicher.
Die rotznäsige und schlagkräftige Banterbritenbrut war in der ganzen Stadt gefürchtet, einige der bekanntesten Rabaukenfamilien wie Gelb, Ostermann und Schimko waren in Werfthäusern beheimatet. Stammverein der B.B. war der ESV, dessen Platz an der Genossenschaftsstraße ein wichtiges kommunales Zentrum darstellte.

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