Das Paradies als Sündenfall
Wie Naturschutzgegner den Naturschutz benutzen
(iz) Gerade zwanzig Jahre ist es her, daß der Natur- und Umweltschutz offiziellen Einzug in politische und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse hielt. Zahlreiche Gesetze und Behörden zum Umwelt- und Naturschutz wurden seit den siebziger Jahren etabliert. Nicht zuletzt zwang auch der Durchbruch der GRÜNEN die „großen“ Parteien zum Umdenken. Nun schleicht sich fast unbemerkt die Umkehr zugunsten von Konsum, Wirtschaft und Technologie ein. Wie bei vielen bedauerlichen Entwicklungen, ist Wilhelmshaven auch hier mal wieder Vorreiter.
Nach hartem Kampf existieren eindeutige rechtliche Grundlagen, um die Berücksichtigung von Naturschutzbelangen z. B. in der Bauleitplanung zu garantieren (s. auch „Hintergrund). An diese Vorgaben ist auch die Stadt Wilhelmshaven gebunden. Es ist eine Frage der planerischen Kompetenz, Naturschutzbelange fachlich und wirtschaftlich zufriedenstellend in ein Bauvorhaben einzubinden. Hierzu kann sich die Verwaltung versierter Planungsbüros bedienen.
Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Stadt Wilhelmshaven nähert sich der Situation in den Neuen Bundesländern an, was in Hinblick auf entsprechende Förderquoten auch politisch so dargestellt wird. Und wenn einem das Wasser bis zum Halse steht, vergeht offensichtlich der Blick für die Frösche, die sich unter der Wasseroberfläche recht wohl fühlen. Der Blick in die Zukunft wird getrübt: was macht denn die Lebensqualität dieser Stadt aus? Neue Verkehranbindungen, Betonpaläste und Betriebe, die – wie das Schicksal der Firma Jadekost unlängst dokumentierte – auf tönernen Füßen stehen können? Oder (auch) die Schönheit und Ursprünglichkeit der Landschaft, die jährlich Millionen Gäste in den Raum Wilhelmshaven zieht?
Die Tatsache, daß Natur und Landschaft nicht vermehrbar und nur begrenzt ersetzbar sind, scheint sich den Köpfen unserer Politiker sowie Investoren und Medien zu entziehen – von der kommunalen bis zur Landesebene.
Da beklagt die WZ in einem ganzseitigen Artikel (20.1.95), wie fies es ist, daß die NWO ein rechtlich geschütztes Biotop auf ihrem Gelände einfach platt gemacht hat (das findet sie nicht fies) und nun dafür zur Rechenschaft gezogen wird (das findet sie fies). Da empfiehlt Hans-Jürgen Schmid, Industrie- und Gewerbeflächen sollten vom Naturschutzrecht ausgenommen werden – und jeglicher Aufwuchs dort ständig vorsorglich beseitigt werden. In harten Zeiten entfällt wohl die Sozialpflichtigkeit des Eigentums…
Im Dezember 1994 wird die Kaiserbalje, eine Wattrinne in der Ruhezone des Nationalparks, für die Binnenschiffahrt freigegeben. Naturschützer befürchten, daß dies erst der Startschuß für größere Projekte ist. Auswirkungen auf das angrenzende Hohe Weg-Watt und die Insel Mellum sind vorhersehbar. Anfang März 1995 engagiert sich die CDU-Landtagsabgeordnete Ortgies für eine Ausbaggerung der Kaiserbalje, um noch größeren Schiffen die Durchfahrt zu ermöglichen. SPD-Kollege Adam gibt ihr Rückenwind. Gleichzeitig wird eine Kanalanbindung zur Weser quer durch Butjadingen diskutiert.
Da gebietet Niedersachsens Wirtschaftsminister Fischer Einhalt: eine Ausbaggerung der Kaiserbalje birgt „Risiken für den Nationalpark, die vermieden werden müßten“. Nett von ihm. Oder? Nein. Zuständig ist ohnehin das Bundesverkehrsministerium, und das kann oder will sich solche Maßnahmen, deren Erfolgsaussichten für die Region zudem fragwürdig sind, derzeit nicht leisten. Gleiches gilt für den Stichkanal. Solche Sparmaßnahmen bringen jedoch keine Wählerschaft. Also ist der Naturschutz erstmal der Sündenbock. Und wenn doch wieder Geld für die Maßnahme da ist, wird sie sich umso schneller umsetzen lassen, weil die Naturschützer ruhiggestellt waren und die Zeit nicht genutzt haben, den Seehunden des Hohe-Weg-Watts eine Lobby zu verschaffen.
Da scheitert der Bau einer neuen Hafenmole in Hooksiel angeblich an einem selten Borstenwurm namens Sabellaria. Zum Ärger von Wangerlands Bürgermeister Dietrich Gabbey, der früher noch ICI verhindern wollte, um das Fell der Seehunde zu retten, und nun seine eigenen Felle davonschwimmen sieht. Doch Hand aufs Herz: welchen Politiker interessiert ernsthaft ein Wattwurm, der noch nicht mal piep sagt oder die Touristen durch ein buntes Federkleid begeistert? Fünf Tage später räumt Regierungspräsident Theilen ein: wirtschaftliche und auch wasserbauliche Erwägungen haben beim Stopp des Molenbaus eine Rolle gespielt.
MdB Günther Bredehorn (FDP) und andere Deichbaufreaks sehen den Küstenschutz gefährdet, weil „überzogene ökologische Anforderungen“ angeblich die bereitgestellten Bundes- und Landesmittel auffressen. Warum sagt er nicht ganz ehrlich: Leute, wir kommen mit dem Geld sowieso nicht mehr aus und brauchen außerdem eine anteilige Aufstockung für Naturschutzmaßnahmen? Da hätte er sofort die Naturschützer auf seiner Seite, die als Küstenbewohner den Küstenschutz genauso ernst nehmen.
„Da hätten wir gleich ins Watt ziehen können“, beschwert sich ein friesländisches Hausbesitzerehepaar. Sie wohnen in einem Baugebiet, das auf extrem feuchtem Standort ausgewiesen wurde – ehemals wertvoll für die Natur, aber offensichtlich unbrauchbar für Bauzwecke. Trotz der teuer bezahlten Erschließungsmaßnahmen zur Entwässerung steht ihnen ständig das Wasser bis zum Hals. Kein Einzelfall.
Städtische Grünanlagen erfahren kurz vor der Brutzeit der Vögel einen Kahlschlag, damit Exhibitionisten im Unterholz keine unbescholtenen BürgerInnen mehr schrecken können. Schuld ist also nicht die Gesellschaft, die sich solche sogenannten Sittenstrolche (im Klartext: psychisch gestörte Mitmenschen) heranzieht, sondern die Vögel bzw. die Gehölze, in denen sie leben.
So wird – in sich völlig unlogisch, aber öffentlichkeitswirksam plaziert – der Zusammenhang zwischen Naturschutz und sozialen Problemen hergestellt. Und die Botschaft erreicht den Bürger, wie der Inhalt des WZ-Leserbriefes von Günter Mende (16.3.95) beweist: Umweltministerin Griefahn hatte die Stadt Wilhelmshaven aufgefordert, sich endlich an der Finanzierung des Regionalen Umweltzentrums (RUZ) in Schortens zu beteiligen (s. auch „Hintergrund“). Die Wilhelmshavener CDU-Fraktion bescheinigt ihr daraufhin mangelndes Demokratieverständnis und meint, das Land könne das RUZ ja finanzieren – wenn Frau Griefahn durch das Verfahren gegen Atommüllager nicht so hohe Schadensersatzforderungen provoziert hätte. Außerdem hätte Wilhelmshaven ja schon das Wattenmeerhaus.
Zeitgleich kündigt die Stadtverwaltung einen drastischen Personalabbau an. Also, schlußfolgert Bürger Mende: der Naturschutz ist schuld, wenn zukünftig Wilhelmshavener BürgerInnen schlechter im Rathaus bedient werden.
Der SPD-Vorstand unter Norbert Schmidt fordert ganz offen „Flächen für die Ansiedlung von Gewerbe ohne hohe Auflagen“ (WZ v. 9.3.95). Es dürften keine Bedenkenträger zum Zuge kommen. Vorfahrt gebühre der Wirtschaft. Einhellig – die GRÜNEN ausgenommen – kritisieren Ratsmitglieder ein „Maximum“ an Naturersatz, ein „zu großzügig angewendetes Verhältnis zwischen Bau und Naturersatzmaßnahme. “
Eine wachsende Zahl von Betrieben verkrümelt sich aus der Stadt in die Umlandgemeinden – nach eigenen Aussagen, weil die Stadt völlig unflexibel auf Anforderungen der Betriebe reagiert. Als BioPin in Jever um Flächen nachsuchte, wurde rasch ein runder Tisch gebildet und im gemeinsamen Gespräch aller zu beteiligenden Institutionen planreifes Gelände gestellt. In Wilhelmshaven kann solch ein Verfahren dahinplätschern, bis der Betrieb konkurs ist.
Die Gemeinde Sande z.B. stellt ansiedlungswilligen Betrieben einen entwässerten Intensivacker zur Verfügung. Der ist im Ankauf teurer, erfordert aber erheblich geringere Erschließungskosten und weniger Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen für den Naturschutz als die Feuchtwiesen oder Röhrichtgebiete, welche die Stadt Wilhelmshaven zu Bauland umwidmen will.
Ein Mitarbeiter der nach Sande geflüchteten Firma Reichelt drückte es schön aus: Während Wilhelmshaven seine Blicke auf die Expo und nach Tsingtau richtet, merkt keiner, wie hier währenddessen die Kühlhäuser schmelzen: Hans Jürgen Schmid begründet in der WZ Reichelts Weggang damit, dass aufgrund der Naturschutzauflagen die Stadt Wilhelmshaven nicht (wie die Gemeinde Sande) umgehend Bauflächen zur Verfügung stellen könnte. Unterliegt die Freie Republik Friesland nicht der Gesetzgebung von Bund und Land? Die Krönung lieferte dann wieder mal seine Kollegin Schwarz, die den Eindruck hat, daß über „die Ansiedlungspolitik und wirtschaftliche Zukunft dieser am Boden liegenden Stadt … allein die im BUND zusammengeschlossenen Natur- und Tierfreunde und eine junge Biologin im Stadtplanungsamt bestimmen … Und so gehen denn Wilhelmshavener Betriebe nach Friesland und der darbenden Stadt erhebliche Gewerbesteuern verloren.“
Immerhin geht zwischen ihren Zeilen hervor, daß die Entscheidung über das Gewerbegebiet Güterstraße nicht deshalb vertagt wurde, weil der Naturschutz nicht kompetent ist, sondern weil die Ratsvertreter sich in Sachen Naturschutz erstmal schlau machen müssen. Den Leuten kann geholfen werden: zehn Minuten Lektüre unseres Hintergrundberichtes.
Hintergrund: Was ist das „Osnabrücker Modell“?
Im Eifer des Gefechts von Parteien und Lokalpresse fallen die bestehenden verbindlichen Grundlagen des Naturschutzes der Polemik zum Opfer. Oder sie sind den Verantwortlichen gar nicht bekannt – so wie die Mitglieder des Bauauschusses ein ökologisches Bewertungsmodell kritisieren, von dem sie gar nichts verstehen. Im Folgenden werden, für alle Interessierten und auch oder vor allem für unsere politischen Entscheidungsträger, die wichtigsten Hintergründe, um die in letzter Zeit gestritten wurde, möglichst einfach dargestellt.
Täglich werden bundesweit etwa 120 ha Fläche bebaut. Das entspricht 1.200 großen Hausgärten. Fläche ist Lebensraum und/oder Produktionsmittel. Fläche ist nicht vermehrbar. Wer Flächen für Industrie, Gewerbe, Verkehr oder Wohnbebauung nutzt, vernichtet oder beeinträchtigt Lebensräume für Tiere und Pflanzen, verändert das Landschaftsbild und damit das gesetzlich verbriefte Recht des Menschen auf Naturgenuß als Ausdruck der Lebensqualität.
Dem trägt die Eingriffsregelung im Niedersächsischen Naturschutzgesetz (NNatG) Rechnung: Wer Tieren und Pflanzen die „Wohnung“ nimmt, nimmt einen Eingriff an Natur und Landschaft vor. Wenn dieser Eingriff vermeidbar ist, ist er nicht zulässig. Wenn er nicht vermeidbar ist (was die Vorhabenträger fast immer nachweisen können), muß er so klein wie möglich gehalten werden. Vor Ort kann z. B. ein Ausgleich geschaffen werden durch einen großen Anteil unversiegelter und naturnah begrünter Flächen im Plangebiet. Ist ein Ausgleich vor Ort nicht möglich, muß andernorts Ersatz geschaffen werden – möglichst nahe am Eingriffsgebiet, um Tieren und Pflanzen den „Umzug“ zu erleichtern, oder zumindest im gleichen Landschaftsraum, um den natürlichen Zusammenhängen von Lebensräumen und Landschaftsästhetik gerecht zu werden.
Es ist ein Widerspruch in sich, Natur nach ökonomischen oder statistischen Maßstäben zu bewerten. Um die optimalen – nicht maximalen! – Flächen und Maßnahmen für Ausgleich oder Ersatz eines Eingriffs festzulegen, sind jedoch Planungshilfen erforderlich. Hierfür stehen Vorhabenträgern verschiedene naturschutzfachliche Modelle zur Verfügung (z. B. das „Osnabrücker Modell“, das im allgemeinen praxisnah zu handhaben ist). Wer kennt das Mindestareal, das ein Brutvogelpaar für die Balz und das Sammeln von Nistmaterial und Futter braucht? So wie man für die Gebäudestatik dem Architekten vertraut, ist für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen der Rat von Naturschutzfachleuten erforderlich.
Neben großflächigen Naturschutzgebieten gibt es allerorten Biotope, die durch die Ausdehnung menschlichen Wirkens gefährdet sind, z.B. Röhricht (s. NWO), Feuchtgrünland, Naßwiesen und Kleingewässer. Durch den §28a+b des NNatG stehen diese ohne aufwendige Verwaltungsverfahren unter Schutz. Der Grundstückseigentümer erhält Nachricht über die Unterschutzstellung und natürlich Unterstützung bei Schutz und Pflege seines Kleinods. Handlungen, die solche Biotope zerstören oder beeinträchtigen, können in Ausnahmefällen von der Naturschutzbehörde genehmigt werden.
Im Regierungsbezirk Weser-Ems gibt es ein offizielles Konzept für ein Netz regionaler Umweltzentren. Es ist so angelegt, daß die Nutzer – Schulen, Kindergärten, Erwachsenenbildung, fachliche Fortbildungen und alle interessierten BürgerInnen – auf kurzem Wege ein solches Zentrum erreichen können. Das Prinzip lautet „Lernen mit Herz, Kopf und Hand“: Natur lässt sich nicht im Klassenzimmer begreifen, sondern direkt draußen vor Ort. Im Zentrum wird die Arbeit mit Mikroskopen, Labors, Videos usw. ergänzt
Mehrere Landkreise bzw. kreisfreie Städte als Bildungsträger nutzen ein solches Zentrum gemeinsam, was nicht zuletzt auch Geld spart: statt jede Schule mit aufwendigen Labor- und Medieneinrichtungen auszustatten, werden diese finanziell geteilt und in der Nutzung voll ausgelastet.
Die Regionalen Umweltzentren (RUZ) unterstehen also den Kreisen als Bildungsträgern; das RUZ in Schortens soll die Landkreise Friesland und Wittmund und die kreisfreie Stadt Wilhelmshaven bedienen. Hingegen werden die Nationalparkhäuser und -zentren von den Städten oder Gemeinden, in denen sie beheimatet sind, gemeinsam mit Umweltverbänden getragen. Sie sind konzeptionell in das Netz der RUZ eingebunden, aber anders organisiert und stellen nur einen bestimmten Lebensraum (Wattenmeer) vor. Das Wattenmeerhaus ersetzt also nicht das RUZ in Schortens bzw. entbindet die Stadt Wilhelmshaven nicht von ihrem gesellschaftspolitischen Auftrag der Umweltbildung, den sie über das RUZ – übrigens bislang als Hauptnutzerin – erfüllen kann.
Imke Zwoch
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