Todesstrafe für Kindermörder
Feb 051997
 

Rübe ab! Schwanz ab!

Der Ruf nach der Todesstrafe. Über die Mechanismen kollektiven Zorns

(iz) Mitte Januar 1997 lagen in einigen Wilhelmshavener Geschäften Unterschriftenlisten aus. Die Forderung: Wiedereinführung der Todesstrafe für “Kindermörder” und “Vergewaltiger”. Als Initiatoren zeichnen mit Namen und Anschrift ein Mann aus Wilhelmshaven und eine Frau aus Zetel, laut beigefügtem Flugblatt stellvertretend für eine Gruppe von “Eltern und Mitbürgern”. Ihre Motivation: “Wir müssen etwas unternehmen, das betrifft uns alle … Nur wenn wir alle der Meinung sind, daß diese … auch den Tod verdienen … nur dann haben wir eine Chance … Stimmt dafür und helft alle mit!” Die Listen sollen direkt dem Bundespräsidenten zugeschickt werden … Im folgenden versuchen wir, diesen – für uns fragwürdigen – Aktionismus als Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema “Gewalt” zu betrachten.

Die Region wird von Kapitalverbrechen erschüttert. An zwei aufeinander folgenden Tagen werden ein kleines Mädchen aus Varel und ein älteres Ehepaar aus der Jadestadt ermordet. Die Medien schlachten das Sexualverbrechen an der kleinen Kim Kerkow aus. Verängstigte Vareler Eltern lassen ihre Kinder keine Sekunde mehr unbewacht, Spielplätze verwaisen. Angst, Betroffenheit, hilf- lose Wut machen sich breit.
Weltweit fallen unzählige Kinder – Tausende, Zehntausende, Hunderttausende? – alltäglicher körperlicher, sexueller Gewalt, seelischem, manchmal auch tatsächlichem Mord zum Opfer. Der Täter ist selten der böse Fremde aus dem Park. Der Täter heißt Papa, auch Mama, Opa, Onkel. Der Täter ist der fleißige deutsche Familienpapa, dem die Sextour nach Thailand doch vergönnt sein muß. Die Täter produzieren schmutzige Filme mit kaputten Kindern und verdienen ein Schweinegeld damit. Die Täter werben mit dem Bild der “kleinen Lolita” für ganz normale Produkte. Und alle gucken zu. Auch die Konsumenten sind Täter: Beihilfe zum (seelischen) Mord.
Aber das hier ist was anderes. Es geht um ein deutsches Mädchen, kein thailändisches. Keines aus Bayern, sondern eines aus Friesland. Das Mädchen von nebenan. Das geht uns plötzlich alle an. Da drehen wir nicht mehr den Fernseher lauter, wenn nebenan schon wieder das Kind brüllt. Das ist nun, mal wieder, in den Brunnen gefallen. Da müssen wir was tun. Dieses Kind ist nicht mehr zu retten. Also schmeißen wir den Täter hinterher: Todesstrafe! Rübe ab!
Es dauert lange, bis des Volkes Seele hochkocht; in der Regel muß es zuvor mindestens ein Todesopfer geben, das durch die Medien in aller Nachbarschaft gerückt wird. Erinnern wir uns an die Lichterketten Anfang 1993: Rechtsradikale ermorden ausländische MitbürgerInnen. Die Opfer häufen sich bis über die Schmerzgrenze, und es sind Kinder dabei. Das rührt an unsere Instinkte. Da reicht in jeder Stadt, wie in Wilhelmshaven, die Initialzündung durch ein, zwei Personen, und alle stehen geschlossen auf der Straße, verfrieren sich die Füße und verbrennen sich die Finger, bis der Zorn verraucht ist. Dann gehen alle wieder nach Hause, und zwei Jahre später ziehen die Republikaner ins Stadtparlament ein. Nichts haben sie verändert, die Fackelträger, jedenfalls nicht zum Guten. Nicht in sich und nicht in der Gesellschaft. Keiner will bemerken, wie sich täglich neuer Zündstoff zusammenbraut, und alle brauen passiv oder aktiv mit. Ob Ausländerfeindlichkeit, ob sexuelle Gewalttaten: die Mechanismen sind dieselben.
Auch wir trauern mit Kims Eltern. Wir trauern mit allen weltweit, deren Kindern solches widerfährt. Was passiert im Kopf derer, die nun nach Todesstrafe schreien? Mord ist Barbarei – auch der Mord an einem Triebtäter. Wem soll sein Tod etwas nützen? Nach der Wiederholungstat wird er wohl, unabhängig vom Strafmaß, lebenslang in Sicherheitsverwahrung bleiben. Die deutsche Justiz, dieser über alles erhabene Staat wird es ihm nicht mehr zugestehen, die Fehler unserer “Gesellschaft” vorzuführen. Therapieplätze sind nur für ein Fünftel der Sexualstraftäter vorhanden.
Während er viel Zeit zum Nachdenken hat, züchten wir seine Nachfolger heran. Todesstrafe: Hexenverbrennung. Wer sie for- dert, will sein schlechtes Gewissen verbrennen. Mitnichten kann er nachher angstfrei leben. Es bleibt die Angst vor sich selbst, die Angst vor einer Umwelt, in der Gewalt täglich vorgeführt und auf die abstrakte Ebene verbannt wird. Wer anfällig ist, kann Abstraktes und Realität nicht unterscheiden und ahmt nach, was täglich unzensiert präsentiert wird.
Der Mord am Ehepaar Flacke rückte durch den Kindermord schnell ins Vergessen. Das Motiv ihres Mörders: ein kleines “Verbrechen” (eine offene Hotelrechnung) durch ein großes vertuschen. Die Gewaltbereitschaft ist größer als der Mut, einen kleinen Fehler einzugestehen. Der Fernsehheld macht auch keine Fehler – und wenn doch, ist er danach tot.
Die Mediengewalt – im Doppelsinne – soll die Morde nicht rechtfertigen. Nicht nur “die Gesellschaft ist schuld”, auch der Kindermörder. Wir behaupten, wir lebten in einem zivilisierten Land. Die Vorgabe ist gut. Und während wir dem Täter, dem Spiegelbild unserer Zivilisation, einen fairen Prozeß, angemessene Verwahrung und eine Therapie zugestehen, können wir ja daran arbeiten, uns wirklich, endlich zu zivilisieren.

In der Region gibt es auch konstruktive Beiträge zur Problemlösung. Die Landessprecherin der Partei “Die Frauen”, Edith Brunzlow, hat einen Frauenstammtisch zum Thema Gewalt ins Leben gerufen. Treffen ist jeden letzten Freitag im Monat um 20 Uhr im Marienstübchen in Sande/ Altmarienhausen.

 

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