Die Menschen sind jetzt reif!
IG Metall geht mit klug dosierten Forderungen in die Tarifrunde
(hk) Tarifauseinandersetzungen haben ihre eigenen Gesetze: Wenige Wochen vor Ablauf der Verträge stellt die Gewerkschaft fest, daß die Preissteigerungen so hoch waren, daß die Arbeitnehmer mit ihrem Lohn nicht mehr auskommen. Dann werden die Verträge fristgerecht gekündigt, die Gewerkschaften präsentieren ihre Forderungen, man tritt in Verhandlungen ein, es wird gegebenenfalls gestreikt und ausgesperrt und irgendwann trifft man sich ungefähr in der Mitte und schließt einen neuen Tarifvertrag ab.
Diese Form der Tarifauseinandersetzung kennen wir seit Jahrzehnten. Doch in diesem Jahr läuft alles ein bißchen anders. Der GEGENWIND sprach mit dem IG Metall-Bevollmächtigten Hartmut Tammen-Henke über die diesjährige Tarifrunde.
GEGENWIND: Wodurch unterscheidet sich die diesjährige Tarifrunde von den vorhergehenden?
Tammen-Henke: Die Situation ist die, dass die diesjährige Tarifrunde bei uns in der Metall- und Elektroindustrie etwas anders anfing, als normalerweise; nämlich dadurch, daß die Arbeitgeber die Tarifverträge von sich aus gekündigt haben – was ja im Regelfall eigentlich wir tun. Noch bevor wir unsere Forderungen präsentieren konnten, konfrontierten uns die Arbeitgeber in den ersten Verhandlungen im Dezember mit ihren Forderungen.
GEGENWIND: Wie sahen diese Forderungen aus?
Tammen-Henke: Die Arbeitgeber fordern für unseren Bereich die Streichung des zusätzlichen Urlaubsgeldes. Sie begründen diese Forderung damit, daß es sich dabei um eine „Luxusleistung“ handelt, die sie sich nicht mehr leisten können. Des weiteren fordern sie Veränderungen in den Urlaubsrahmenbedingungen. Wir haben eine Regelung, daß an Heiligabend und Sylvester nur ein halber Tag gearbeitet wird. Die Arbeitgeber sagen, daß das auch ein Luxus sei, dafür müßten die Arbeitnehmer Urlaub nehmen. Des weiteren wollen sie die Arbeitszeitrahmenbedingungen verändern.
GEGENWIND: Was meinen die Arbeitgeber damit?
Tammen-Henke: Wir haben ja tarifvertraglich vereinbart, daß bis 1995 die 35-Stunden-Woche realisiert wird. Momentan haben wir die 36-Stunden-Woche. Die Arbeitgeber fordern nun, daß sie die Arbeitszeit bei Bedarf auf 40 Stunden erhöhen können ohne dafür Überstundenzuschläge zahlen zu müssen, bzw. sie ohne Lohnausgleich auf 35 Stunden zu reduzieren. Die Arbeitgeber haben noch weitere Bestimmungen des Tarifvertrages gekündigt: Bezahlte Freistellungen bei bestimmten Anlässen, wie z.B. bei Beerdigungen, Sterbegeldregelungen, Regelungen über Lohnfortzahlung.
GEGENWIND: Was bieten die Arbeitgeber denn als Lohnerhöhung an?
Tammen-Henke: Wenn wir die drei Forderungen, 1. Streichung des Urlaubsgeldes, 2. Veränderung der Urlaubs- und 3. Veränderung der Arbeitszeitrahmenbedingungen akzeptieren, dann sind die Arbeitgeber bereit, eine Nullrunde zu machen.
GEGENWIND: Wie habt ihr auf diese Forderungen reagiert?
Tammen-Henke: Wir haben gefordert, dass erst einmal alle gekündigten Bestimmungen der Tarifverträge wieder in Kraft treten müssen. Daneben fordern wir eine Erhöhung der Löhne und Gehälter um 5,5 % und die Erhöhung der Ausbildungsvergütungen um 80.- Mark ab l. Januar 1994. Weiter fordern wir eine tarifvertraglich abgesicherte Übernahme der Auszubildenden für ½ Jahr – damit wollen wir erreichen, daß die Jugendlichen nach ihrer Ausbildung eine Chance für ihre Zukunft bekommen. Als nächsten Punkt, für uns vielleicht der wichtigste in der gesamten Tarifrunde, fordern wir den Abschluß eines Tarifvertrages zur Absicherung von Beschäftigung. Wir wollen erreichen, daß, bevor betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen werden, gemeinsam mit dem Betriebsrat alle Möglichkeiten überprüft werden, wie diese Kündigungen vermieden werden können. In einem „Pflichtenheft“, welches als Anlage zum Tarifvertrag gelten soll, haben wir dazu Vorschläge erarbeitet: Einführung, Ausweitung, Verlängerung von Kurzarbeit, Qualifizierungsmaßnahmen, die Ausweitung von Teilzeitarbeit, die befristete Herabsetzung der Arbeitszeit, befristete, unbezahlte Freistellungen, die Möglichkeit für Arbeitnehmer ab dem 55. Lebensjahr schrittweise ihre Arbeitszeit zu verkürzen, Gründung von Beschäftigungs- oder/und Qualifizierungsgesellschaften – die Überprüfung all dieser Möglichkeiten wollen wir gewährleistet wissen, bevor es zu einer Kündigung kommt.
GEGENWIND: Diese Verquickung von Lohntarifvertrag und speziellen Forderungen ist ja nicht der Normalfall. Stehen diese Forderungen starr nebeneinander, oder gibt es da auch Zwischenlösungen?
Tammen-Henke: Mit unserer 5,5·% -Forderung wollen wir den Kaufkraftverlust die Preissteigerungen, auffangen. Aber da ist auch Verhandlungsmasse drin. Wenn wir zu einem Tarifvertrag über die Sicherung von Beschäftigung kommen, dann sind wir bereit, über die Höhe unserer finanziellen Forderungen nachzudenken. Unabdingbar ist allerdings unsere Forderung, zumindest einen Ausgleich für die Preissteigerungen zu erreichen.
GEGENWIND: Wir haben eingangs über die Forderungen der Arbeitgeber gesprochen. Habt ihr mal nachgerechnet, was diese Forderungen für den Arbeitnehmer bedeuten?
Tammen-Henke: Die Streichung des Urlaubsgelds bedeutet ein Minus von 5 7 % bei einer Preissteigerung von 4 % bringt eine Nullrunde schon fast ein Minus von 10 % dazu die Verlängerung der Arbeitszeit und die Streichung der Urlaubstage – im Endeffekt sind e s 15 bis 16 %, die die Arbeitgeber den Arbeitnehmern aus der Tasche ziehen wollen.
GEGENWIND: Was macht die Arbeitgeber so frech? Sind die überzeugt davon, daß die Gewerkschaft im Betrieb nichts erreichen kann?
Tammen-Henke: Es gibt zwei Gesichtspunkte. Zum einen meinen die Arbeitgeber, daß die Kollegen in den Betrieben durch die Krisensituation hochgradig bereit sind zu verzichten: Es kursiert da der Ausspruch eines Arbeitgeber-Vertreters: „Die Menschen sind jetzt reif.“ Die Arbeitgeber glauben, daß die Gewerkschaften in Krisenzeiten nicht in der Lage sind, die Kollegen für ihre Forderungen zu mobilisieren. Zum anderen haben der massive Abbau von Arbeitsplätzen, die Streichungen von übertariflichen Zulagen usw., nicht zu einer Besserung ihrer Lage geführt. Und diese Erkenntnis macht sie wohl rasend. Jetzt gilt es, einen Kahlschlag zu probieren und die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, in die Knie zu zwingen. Die falsche Politik der Unternehmer: Arbeitslosigkeit für die einen bei gleichzeitiger Arbeitszeitverlängerung für die anderen unterstützt vom „Freizeitpark Deutschland“-Gerede der Bundesregierung, treibt die Krise hoch.
GEGENWIND: Bei den Arbeitgebern gibt es anscheinend zwei Strategien: Einmal die Ausweitung des Arbeitstages und die weitgehende Entrechtung der Arbeitnehmer, zum anderen die Arbeitszeitverkürzung – 4-TageWoche bei VW.
Tammen-Henke: VW ist ja ein Betrieb, der wesentlich durch Mitbestimmungsstrukturen der Arbeitnehmer geprägt ist. Auch auf der Vorstandsebene gibt es Leute, die sachgerecht und verantwortlich mit solchen Problemen umgehen können. In dem Arbeitgeberverband, der uns tangiert, gibt es sicherlich auch unterschiedliche Strömungen, aber die Forderungen, die jetzt zur Diskussion stehen, das war ein einstimmiger Beschluß des Arbeitgeberverbandes Nordwestmetall. Da haben sich die Hardliner durchgesetzt. Dennoch sind wir optimistisch, daß sich solche Modelle wie bei VW oder bei Daimler, die natürlich auch Verzicht bedeuten, durchsetzen werden, um Entlassungen zu vermeiden.
GEGENWIND: Lassen sich diese Modelle denn auf die Fläche übertragen? VW – da werden Spitzenlöhne gezahlt, und der Verzicht auf irgendwelche Sonderzuwendungen fällt sicher nicht so schwer wie in den vielen kleinen Betrieben des Metall- und Elektrobereichs.
Tammen-Henke: Solche Modelle lassen sich natürlich nicht einfach übertragen – das ist nicht machbar. Bei uns müssen Arbeitszeitverkürzung und Lohnverzicht in einem ganz anderen Verhältnis stehen. Aber es geht wirklich jetzt darum, diesen rasanten Arbeitsplatzabbau zu stoppen.
GEGENWIND: Wie sieht der zeitliche Rahmen der Tarifauseinandersetzung aus?
Tammen-Henke: Die Arbeitgeber haben die Verträge fristgerecht zum 31.12.93 gekündigt. Bis zum 28. Januar haben wir noch die Friedenspflicht. In dieser Zeit darf keine der beiden Seiten irgendwelche Arbeitskampfmaßnahmen durchführen. Wenn es nach dem 28. Januar kein Verhandlungsergebnis gibt, können Arbeitskampfmaßnahmen eingeleitet werden. Die Arbeitgeber haben bereits eine Angriffsaussperrung angekündigt. Ich hoffe jedoch, daß wir bis dahin ein Verhandlungsergebnis erzielt haben.
GEGENWIND: Wie will die Gewerkschaft in der Rezession einen Arbeitskampf führen? Glaubt ihr, daß die Kollegen genügend Kampfbereitschaft zeigen?
Tammen-Henke: Der Gedanke „Wenn wir verzichten, haben wir vielleicht eine Chance, unseren Arbeitsplatz zu behalten“, der ist da. Auf der anderen Seite steht, daß durch den Abbau von übertariflichen Zulagen in den vergangenen Jahren die Schmerzgrenze bei vielen Kollegen erreicht wurde. Wenn schon Kurzarbeit gefahren wird, wenn schon übertarifliche Zulagen beim Weihnachtsgeld gestrichen wurden, wenn Schichtzulagen gestrichen wurden – und wenn es jetzt auch noch ans Urlaubsgeld geht, Urlaubstage gestrichen werden sollen – das geht vielen Kollegen entschieden zu weit. Ich will nicht behaupten, daß wir von heute auf morgen einen Streik organisieren könnten. Aber die Bereitschaft, auch über einen Streik nachzudenken, ist in den Betrieben, anders als in den letzten Jahren, sehr sehr breit vertreten. Ein Streik ist ja nun wirklich keine leichte Sache und kein Spaß . Doch wir müssen uns darauf vorbereiten! Ich sag immer: „Das beste Mittel, einen Streik zu verhindern, ist, ihn sehr gut vorzubereiten .“
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