Stadt wider Willen
Feb 282007
 

Martin Wein widmet seine Dissertation der geteilten Stadt an der Jade

„Dieses Buch erzählt eine Geschichte aus tiefster Provinz, die fast über Nacht zu einem strategischen Nabel des Deutschen Reiches wurde.“

Der Wilhelmshavener Journalist Martin Wein hat an der Fernuniversität Hagen im Fachbereich Kulturwissenschaften promoviert, wozu wir ihm herzlich gratulieren. Seine Dissertation über die Geschichte seiner Heimatstadt ist weit mehr als weitere drei Zentimeter geschriebene Wilhelmshavener Geschichte, die schon manches Regal füllt. Denn erstens zeichnen ihn seine flotte Schreibe und hintersinnige Recherchen aus, und zweitens hat er sich in das höchst interessante Detail der Jahrzehnte währenden politischen Teilung des jetzigen Stadtgebietes vertieft. Recht ungewöhnlich für eine wissenschaftliche Arbeit, wirft er die LeserInnen gleich zu Anfang schwungvoll in die damalige Zeit zurück: „Sobald die Wehen einsetzten, kehrte manch werdende Mutter in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts der preußischen Enklave Wilhelmshaven den Rücken. Wenn sie konnte, schlug sie ihr Wochenbett im maximal zwei bis drei Kilometer entfernten Rüstringen auf. Die Regierung des Freistaates Oldenburg, zu dem die Stadt gehörte, hatte die Gebühren für die Hebammen deutlich niedriger festgesetzt als die preußische Administration.“ Durchgängig wagt der Autor die Gratwanderung, akribische Quellenanalysen im augenzwinkernden Unterton zusammenzufügen. Die Überschriften sind pointiert und spannungsreich: „Avanti dilettanti – die Verhandlungen und ihre Führer“ – Die Kinder von Neuheppens als Faustpfand“ – „Dampf nicht nur in den Kesseln – Unmut am Krieg“ … Die Textpassagen zu Handlungen und Entscheidungen der „Oberen“ geraten dann insgesamt trockener als die Beschreibungen der Lebenssituation und Reaktionen der betroffenen „kleinen Leute“ – wodurch der Autor, ob gewollt oder nicht, zwischen den Zeilen Partei für Letztere nimmt und auch die Sympathie der LeserInnen kanalisiert. Für die Machthaber waren Bauern, Arbeiter und Soldaten nur Spielfiguren, deren Eigendynamik jedoch unterschätzt wurde. Was erstaunliche, wenn auch kaum nachhaltige Entwicklungen in der Organisation des Widerstands nach sich zog.
Nach dem mitreißenden Einstieg fehlt einem dann und wann aber doch ein bisschen der von solchen Arbeiten gewohnte strikte Aufbau – so was wie eine Einleitung, Anlass, Methoden, Thesen muss man sich mühsam vor allem aus dem ersten Kapitel herauspicken. Das umfasst zwar im Untertitel „Einleitung – Forschungsstand – Quellenbefund“, ist aber eben schon stark mit konkreten Zitaten und Voranalysen durchmischt. Hilfreich wäre vorab eine allgemeine, chronologisch aufgebaute Beschreibung der Situation und der Geografie gewesen, inklusive einer Karte mit den damaligen Grenzen. Karten und Abbildungen verschiedenster Art, auch farbig in bester Qualität, gibt es zwar zur Genüge, doch vermisst die geneigte Leserin ein Abbildungsverzeichnis mit Seitenzahlen, um hier und da mal das Gelesene nach eigenen Bedürfnissen visualisieren zu können. Die fehlenden Grundinformationen setzen also gewisse Vorkenntnisse voraus, was einem breiteren Publikum den Zugang erschwert.
Solche und andere kleine Schönheitsfehler können die Bedeutung des Gesamtwerkes jedoch nicht schmälern. „Stadt wider Willen“, soviel sei gesagt, lässt sich – auch wenn die flockigen Überschriften anderes erwarten lassen – nicht mal eben locker weglesen. Literarisch genussvolle Beschreibungen von Alltag und Zeitgeist wechseln bzw. mischen sich immer wieder mit höchst komprimierten Quellenanalysen. Doch wer sich die erforderliche Konzentration abverlangt, kann auf ein höchst erhellendes Werk zu den Wurzeln unserer Stadt zurückgreifen, das so einiges Wundersame erklärt und nicht selten erschreckend aktuelle Bezüge hat.

Imke Zwoch

Martin Wein: Stadt wider Willen.
Kommunale Entwicklung in Wilhelmshaven / Rüstringen 1853-1937.
Marburg: Tectum Verlag, 2006. 345 Seiten. 29,90 Euro.
ISBN-10: 3-8288-9201-9. ISBN-13: 978-3-8288-9201-9.

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