Das gibt zu denken
Starker Tobak bei der Eröffnung der „Tage der Sozialpsychiatrie“
(noa) Das ist herbe: Da lädt man einen ein, der einem eine schöne Eröffnungsrede halten soll zu einer Veranstaltung, und der beschimpft einen! Dass es einen da nicht auf dem Platz hält und man mal dazwischenredet, ist doch verständlich, oder?
Die Rede ist hier von dem Eröffnungsvortrag der 1. Wilhelmshavener und Friesländer Tage der Sozialpsychiatrie am 17. Oktober, die Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner aus Bielefeld gehalten hat. Ungeteilten und ehrlich begeisterten Beifall hat er von den Psychiatrie-Erfahrenen bekommen – die Fachleute, die ihr Geld an den psychisch Kranken verdienen, hatten jedoch zu schlucken, oder sie mochten nicht schlucken und unterbrachen deshalb den Redner mit empörten Zwischenrufen. „Heimleiter sind Geiselnehmer“, viele psychisch Kranke werden aus Geldgier in Heimen festgehalten, auch wenn sie alleine leben und ihren Alltag mit ambulanter Betreuung weitgehend selbständig meistern könnten, das mussten sich die Profis anhören. Am stärksten betroffen war die Gesellschaft für Paritätische Sozialarbeit (GPS), nicht etwa, weil sie diesbezüglich besonders schlimm wäre, sondern weil sie in Wilhelmshaven in der Arbeit mit den psychisch Kranken (beinahe) ein Monopol hat.
Psychisch Kranke wollen arbeiten und eine soziale Bedeutung haben, und deshalb sind psychiatrische Tagesstätten „rausgeschmissenes Geld“, sagte Dörner den zahlreichen Gästen. Das tut weh. Die Eröffnung der Tagesstätte der GPS in der Ebkeriege wurde seinerzeit mit der „WZ“-Überschrift „Letzte Lücke in der Versorgung psychisch Kranker geschlossen“ gefeiert. Das soll jetzt teurer Unfug sein?!
Klar war schon damals allen, seien es Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige oder Fachleute, dass die Tagesstätte nicht die letzte Lücke schloss. Es gibt keinen Krisendienst in Wilhelmshaven, und auch sonst fehlt noch einiges an Angebot, um psychisch Kranken ein möglichst gutes Leben zu ermöglichen. Auch wenn alle das wissen, ist es doch „starker Tobak“ (Hartmut Siefken in der „WZ“ vom 19.10), den „man erst mal sacken lassen muss“ (Peter Arp nach dem Dörner-Vortrag), wenn man das von einem Gast gesagt bekommt, während wir hier im kleinen Wilhelmshaven uns freuen, dass es hier doch schon (fast) alles gibt, was nötig ist.
Wir haben hier seit einigen Jahren eine Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. In einem Notfall muss man nicht mehr nach Oldenburg ins Landeskrankenhaus Wehnen, dessen Nennung besonders bei älteren Kranken ein Schaudern verursacht. Für die Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt gibt es bis zu einem halben Jahr psychiatrische Krankenpflege zu Hause als Krankenkassenleistung, danach, falls weitere Betreuung nötig und erwünscht ist, das „betreute Wohnen“ durch die GPS bzw. die psychosoziale Betreuung durch die Freien Sozialen Dienste Friesland (entweder auf Kosten des Sozialamtes oder aus dem eigenen Geldbeutel). Seit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes ist es jetzt etwas leichter, eine Psychotherapie zu machen – wobei zahlreiche Interessierte berichten, dass sie Wartezeiten bis zu anderthalb Jahren in Kauf nehmen müssen.
Arbeiten können psychisch Kranke bei der ARTEC im TCN in Roffhausen, die von der GPS betrieben wird. Wer im Prinzip dorthin will, aber noch nicht fähig ist, einigermaßen regelmäßig ein Mindestmaß an Leistung zu erbringen, kann in die schon genannte Tagesstätte der GPS gehen. Wohnen können die, die in der ARTEC arbeiten oder bei der Tagesstätte angemeldet sind, in einer von der GPS betreuten Wohngemeinschaft. Alle haben außerdem jederzeit die Möglichkeit, beim Sozialpsychiatrischen Dienst ein Gruppenangebot wahrzunehmen oder einfach so hinzugehen.
All das ist wichtig, und verglichen mit Zeiten, in denen psychisch Kranke jahrelang, z.T. lebenslang weggesperrt wurden, ein riesiger Fortschritt, auf den alle, die daran mitgewirkt haben und noch mitwirken, stolz sein dürfen. Aber es ist noch lange nicht genug. Die ARTEC bietet leider nur wenig verschiedene Arbeitsmöglichkeiten, und wer wirklich weder in der Hauswirtschaft noch in der Kabelkonfektion arbeiten möchte, findet in Wilhelmshaven eben keinen geschützten Arbeitsplatz. Und wer
unter den ergotherapeutischen Angeboten in der Tagesstätte nichts für sich findet, wird seine Zeit dort nicht als Vorbereitung einer Tätigkeit bei der ARTEC nutzen können.
Kein Konzept ist so gut, dass man nicht jederzeit darüber nachdenken sollte, ob es verbessert werden kann oder sogar, ob es noch angemessen ist. Dörners herbe Schelte war notwendig, um alle die, die im psychiatrischen Feld arbeiten, aufzurütteln und zum Denken anzuregen. Dörner selber hat vor seiner Pensionierung als Leiter einer psychiatrischen Klinik gewagt, weit über seinen beruflichen Rahmen hinaus zu denken und Utopien zu entwickeln. Er hat zusammen mit seinen MitarbeiterInnen in jahrelanger Arbeit alle LangzeitpatientInnen in ein mehr oder weniger eigenständiges Leben mit Arbeitsmöglichkeit je nach Fähigkeit entlassen und mit der Gründung des Psychiatrie-Verlages Arbeitsplätze für Psychiatrie-Erfahrene geschaffen. Als dieser Verlag anfing, zu sehr marktorientiert zu arbeiten und aufhörte, behindertengerechte Arbeitsplätze vorzuhalten, initiierte er einfach die Gründung eines anderen Verlages, bei dem psychisch Kranke arbeiten können[1].
Die Energie dafür, Utopien wenigstens teilweise zu verwirklichen, setzt Mut zur Selbstkritik voraus. Da sollte man sich als Heimleiter oder –betreiber schon mal fragen, ob es wirklich in Ordnung ist, Leuten das Bleiben nahe zu legen, die den Schritt in ein weniger betreutes Wohnen wagen wollen, oder ob das nicht tatsächlich einer Geiselnahme nahe kommt.
Acht Tage nach der Schelte durch Dörner hat die GPS eine neue Wohnstätte, diesmal für geistig und körperlich behinderte Menschen, eingeweiht. GPS-Geschäftsführer Dr. Dieter Warning wandte sich bei dieser Gelegenheit entschieden gegen Dörners provokanten Auftritt in der Woche zuvor. „Mit einer Geiselnahme habe die Arbeit der Betreuungskräfte nichts zu tun“, zitiert ihn die „WZ“ vom 26. Oktober. Da hat der Denkprozess wohl noch nicht eingesetzt.
[1] Gemeint ist der Verlag Jakob von Haddis im Förderkreis Wohnen – Arbeit – Freizeit e.V. In diesem Verlag ist u.a. das Buch „Ende der Veranstaltung. Anfänge der Chronisch-Kranken-Psychiatrie“, herausgegeben von Klaus Dörner, erschienen. Es ist denen zu empfehlen, die sich für Möglichkeiten der Integration psychisch Kranker interessieren und es auch wagen wollen, Utopien zu verwirklichen.
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