Soziales Elend
Jun 011988
 

Von allen verlassen?“

Hunger, Armut und Psychosen: Über die Schwierigkeiten, mit Randerscheinungen der Wohlstandsgesellschaft umzugehen.

(woku) Soziales und psychisches Elend gibt es nicht nur im Asphaltdschungel der Großstädte. Hunger und Armut gibt es mitten unter uns – zum Beispiel in einer Wohnung direkt bei der neuentstandenen Geschäftszeile in der nördlichen Gökerstraße.

Seit Jahren lebt dort die 35jährige Frau Janßen (Name geänd.) mit ihrer alten Mutter in einer Notunterkunft der Stadt. Außerehelich geboren und in zerrütteten Familienverhältnissen aufgewachsen, fand sie nach der Schule keine Arbeit. Gelegentliche Fließbandarbeiten halfen über das Ärgste hinweg. Dann wieder arbeitslos – jetzt schon seit Jahren. 354,- DM Sozialhilfe pro Monat reichen kaum zum Überleben. Das Verhältnis zur Mutter, die ebenfalls von Sozialhilfe lebt, ist gespannt. Frau Janßen wird alkohol- und tablettensüchtig. Lautstarke z.T. gewalttätige Streitereien zwischen Mutter und Tochter, ständige Auseinandersetzungen mit den Nachbarn und eine Alkoholpsychose mit schweren Angstzuständen und Halluzinationen bringen sie 1986 für sechs Wochen nach Wehnen.
Die Stadt wird aktiv, ein Gutachter wird bestellt. Verwahrlost und ungepflegt findet er die beiden vor, dazu „stumpf und wenig schwingungsfähig“. „Das Schlimmste sei, daß sie immer Hunger hätten.“ Sein Urteil: Frau Janßen „ist aufgrund ihrer schweren Persönlichkeitsstörung und ihres Hanges zum Alkohol nicht mehr in der Lage, ihre Angelegenheiten zu besorgen. Sie bedarf dazu eines Pflegers“, der sich um ihre Geldangelegenheiten kümmert.

SozialesDas Amtsgericht warnt am 8.9.1987 vergeblich vor der Bestellung eines ehrenamtlichen Pflegers: „eine private Person dürfte in diesem Fall völlig überfordert sein“. Doch die Stadt hat kein Geld und so nimmt am 6. November ein privater Vermögenspfleger – selbst arbeitslos – mit viel Engagement die Betreuung auf. Ein erster Hausbesuch wirkt schockierend: Schon im Treppenhaus penetranter Harngeruch, die Wohnungstür durch Beilschläge lädiert, in der kleinen Wohnung Müll, etliche Katzen und Berge von Zeitungen. Der Pfleger: „Das Badezimmer war überfüllt mit Gerümpel, in der Wanne lagen zwei tote Katzen, auf dem Boden im Wohnzimmer ein Haufen Kot.“ Die Mutter bestätigt, was er aus den Akten weiß: „Es wird kalt, ich friere wie ein Schwein und gehe mit den Sachen ins Bett. Ich habe alles verloren. Ich heize nur mit Pappe, für Kohlen habe ich kein Geld. Ist man schon von allen verlassen? Alle Menschen sind böse.“ Als der Vermögenspfleger die Sozialhilfe Frau Janßens rationiert, damit sie nicht gleich für Alkohol ausgegeben wird, verschlechtert sich das Verhältnis. Er wird bedroht, sieht in einer Einweisung der Tochter den einzigen Ausweg und organisiert einen Platz in Sanderbusch mit Rehabilitationsmaßnahme. Frau Janßen will zwar aus der Wohnung mit den teilweise abgerissenen Tapeten heraus, versagt dann aber die Zustimmung, als es ernst wird.

Die Stadt winkt ab. Ohne Zustimmung der Betroffenen gibt es nicht so ohne weiteres eine Zwangseinweisung in eine Anstalt. Die früher geübte Praxis, Verhaltensauffällige, die zugegebenermaßen anders leben als die Mehrheit der Bevölkerung“ (so ein städtischer Mitarbeiter) gleich in eine Anstalt zu sperren, wird abgelehnt. In seinem Eifer, Frau Janßen gegen ihren Willen, aber „zu ihrem Besten“ aus der Wohnung zu holen, bittet er den städtischen Amtsarzt, Dr. Michalke, um Amtshilfe. Im Rahmen eines erregten Gesprächs( „Was soll ich denn mit diesem Scheiß? Wir leisten grundsätzlich keine Amtshilfe.“) muß er sich von dem als gelegentlich recht rüde auftretenden Arzt duzen lassen. „Jetzt hau hier ab. Ich werde die Polizei anrufen, daß man sie verbringen wird.“
Michalke wirft seinerseits dem Pfleger „ausgeflipptes“ Verhalten vor. „Der ist aus der Rolle gefallen und fing an zu toben. Ein berechtigtes Anliegen hatte er nicht an mich.“
Frau Janßen hilft das Gerangel wenig. Überforderte private Zwangspfleger, Behörden, denen die Hände gebunden sind, eine Wohlstandgesellschaft, die kein Geld aufbringen will für die, die das Pech haben, mit Arbeitslosigkeit, Armut und Alkohol groß geworden zu sein – aber vielleicht hatte sie ja noch „Glück“. Der ärztliche Gutachter wirft ihr zwar „Arbeitsscheu“ vor, doch „daß sie nicht in Kriminalität und Prostitution hineingeraten ist, mag auf einen Rest von innerlichem Halt zurückzuführen sein.“

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