Schule
Feb 272002
 

Reform des Schulsystems

Förderstufe statt Orientierungsstufe oder: Bleibt alles, wie es war?

(noa) Die PISA-Studie brachte neuen Schwung in die seit über einem Jahr laufende öffentliche Diskussion über die Orientierungsstufe. Am 2. März wird der SPD-Landesvorstand tagen und beschließen, welchen Weg das Schulsystem in Niedersachsen gehen soll. Doch schon seit mindestens drei Monaten wird immer wieder gemeldet, dass die Orientierungsstufe ganz bestimmt und sicher abgeschafft wird.

Abgesehen davon, dass das noch keineswegs beschlossen ist, ist mittlerweile auch längst nicht mehr klar, ob das gewünscht ist. Lange vor PISA, schon im Februar 2000, forderte der Landeselternrat von der Landesregierung eine Akzeptanzuntersuchung über die OS, da diese Schulform seit ihrem Bestehen umstritten ist. Die Lehrkräfte der OS geben am Ende der 6. Klasse Schullaufbahnempfehlungen, die häufig den Vorstellungen der Eltern vom künftigen Werdegang ihrer Kinder nicht entsprechen, und um die Prognose einigermaßen aussagekräftig hinzubekommen, müssen viele Tests geschrieben werden, so dass die OS schon schnell nach ihrer Einführung den Ruf einer zweijährigen Dauerprüfung für die Kinder hatte. Viele Eltern fügten sich murrend der Schullaufbahnempfehlung aus der Überlegung heraus, dass an dem Gymnasium, zu dem sie ihr Kind schicken würden, ja bekannt wäre, dass es „nur“ eine Realschulempfehlung habe und dass man dort dann schon dafür sorgen werde, dass das „Urteil“ der Orientierungsstufe bestätigt würde. Dieses „Urteil“ jedoch, so denken viele Eltern, sei allein schon deswegen unsicher, weil der Stress durch die vielen Tests die Kinder daran hindere, ihr Leistungsvermögen voll zu zeigen.
Die Landesregierung nahm seinerzeit die Forderung des Landeselternrates entgegen und begann zu untersuchen, wobei sie allerdings das Ergebnis, die OS werde eher abgelehnt, vorweggenommen zu haben und entsprechend untersucht zu haben scheint. Die Förderstufe als Nachfolgeschulform der Orientierungsstufe war bald auf dem Tisch: Statt unabhängiger Einrichtungen zur Beschulung der Klassen 5 und 6 sollen die Kinder nach dem 4. Schuljahr die Realschule oder das Gymnasium besuchen, aber keineswegs so, dass schon von Anfang an feststeht, auf welcher Schulform das Kind am Ende landet. Die Durchlässigkeit soll gewährleistet werden einerseits durch einen für alle gleichen Lehrplan und andererseits durch die Mischung der Kollegien aus Lehrkräften aller drei weiterführender Schulformen. Der einzige Unterschied zur Orientierungsstufe würde bei diesem Modell darin bestehen, dass die Förderstufen einer der anderen Schulformen organisatorisch zugeordnet wären.
Diesen Aspekt betonte Günther Heußen (schulpolitischer Sprecher der SPD Weser-Ems und Lehrer an der OS Sande) in seiner am 11.12.01 veröffentlichten Kritik an der Kultusministerin: „So ist zum Beispiel die Zerschlagung der OS zugunsten von Förderstufen an allen Schulformen außer der Hauptschule das Gegenteil von dem, was die Pisa-Studie nahe legt – nicht zuletzt weil damit de facto eine Trennung der Kinder nach Klasse 6 einhergehen wird.“
Etwa zwei Wochen zuvor hatten die SchulleiterInnen Wachtel (GS Wiesenhof), Bültena (Agnes-Miegel-Schule) Kläne (HS Heppens), Schudnagis (GaM) und Bouillon (OS Nogatstraße) sowie Stadtelternratsvorsitzender Rahlf und Bezirksregierungssprecher Pauluschke beim „WZ“-Stammtisch über die Frage diskutiert, was nach der Orientierungsstufe kommen wird. Die Darlegungen des Elternsprechers waren im „WZ“-Bericht (1.12.) so kurz abgehandelt worden, dass er nachschob: „Wenn die Schulstrukturreform greift, dann werden Eltern nach der Klasse 4 und der Klasse 6 ein Recht auf die ‚Wahl der Schulform’ ihrer Kinder haben. Dieser freie Elternwillen ist bei den LehrerInnen umstritten und sollte in einem ersten Vorschlag der Landesregierung auch eingeschränkt werden. Der LER und auch der StER Wilhelmshaven hat allerdings eine andere Meinung vertreten.“ Hier deutet sich an, dass die Eltern sich das Recht auf die Entscheidung darüber, welche weiterbildende Schule ihre Kinder besuchen, nicht nehmen lassen werden, egal ob mit OS oder Förderstufe.
Ob „WZ“-Stammtisch, Landtag oder Gewerkschaft – alle, die sich an der Diskussion um die Zukunft des Schulsystems beteiligen, bleiben jeweils bei ihrer Position und sehen sich auch durch PISA darin bestärkt: Ministerpräsident Gabriel, der sich schon seit Monaten dadurch hervortut, dass er sich ohne Absprache mit seiner Kultusministerin über das Schulwesen äußert und Beschlüsse ankündigt oder ihre Beschlüsse kippt, sieht durch die PISA-Studie bestätigt, dass das dreigliedrige Schulwesen grundfalsch ist, stellt es jedoch andererseits nicht in Frage, sondern zementiert es eher durch die Förderstufen-Pläne. Die CDU-Fraktion „fordert Abkehr von der ‚Spaß-Pädagogik’, fordert mehr Leistungsdruck schon in der Grundschule und will die Dreigliedrigkeit des Schulsystems schon ab Klasse 5 (wie es schon einmal war). („WZ“, 13.12.01) Und in derselben Ausgabe berichtet die „WZ“ von einer Veranstaltung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Jever, auf der ihr Bezirksvorsitzender Strohschein die Ursache für die katastrophalen PISA-Ergebnisse darin sah, dass fast bundesweit ab Klasse 5 die Kinder getrennt nach Schulformen unterrichtet werden (haben die Niedersachsen unter den getesteten deutschen Kindern besser abgeschnitten, da sie erst zwei Jahre später aufgeteilt werden?)
Günther Heußen, der kurz vorher gegen die Zerschlagung der OS angetreten war (s.o.), scheint einer der wenigen zu sein, die im Lauf einer Diskussion ihre Meinung zu ändern bereit sind: Er war auch bei der GEW-Veranstaltung in Jever und stellte dort ein Modell für eine gemeinsame Regelschule für alle Jugendlichen von Klasse 5 bis Klasse 10 vor. Kurze Zeit später bekräftigte Heußen seine Kritik am dreigliedrigen Schulsystem und warnt die Landesregierung vor ihren Reformplänen, die „genau in die falsche Richtung“ wiesen. („WZ“, 24.12.01)
Aus Hannover kamen ab Januar dann Reformideen zu anderen Themen: Ministerpräsident Gabriel forderte die Einschulung von Kindern schon mit fünf Jahren und nahm diese Idee postwendend zurück. („WZ“, 12.1.02) Kultusministerin Jürgens-Pieper wollte das Sitzenbleiben abschaffen und bekam postwendend Widerspruch aus allen Ecken. („WZ“, 5.2.02)
Etwas langsamer als ihre friesischen KollegInnen waren die GEW-Mitglieder in Wilhelmshaven. Aber auch sie erinnerten an  alte Forderungen nach einer gemeinsamen Beschulung aller Kinder. Die Förderstufe, so der GEW-Kreisvorstand Wilhelmshaven, ist lediglich eine Worthülse: „Bei einem schulformspezifischen Curriculum könnte man auf die Förderstufe verzichten und gleich in der fünften Klasse mit den jeweiligen Schulformen einsteigen. Ein einheitliches Curriculum aber lasse die Frage aufkommen, was die Förderstufe von der Orientierungsstufe unterscheidet.“ („WZ“, 8.2.02)
Der Stadtelternrat Wilhelmshaven sieht zur Behebung der schlechten PISA-Ergebnisse andere Erfordernisse. In einer Resolution zur Schulreform in Niedersachsen fordert er am 15.1.02 u.a.:

  • „Schulformempfehlung nach Klasse 4 mit freier Elternentscheidung
  • Klasse 5 und 6 als Förderstufe angegliedert an die SEK I bzw. SEK II Schulen
  • Zur Wahrung der Chancengleichheit und Durchlässigkeit zu den weiterführenden Schulen müssen in den Förderstufen aller Schulformen die gleichen Unterrichtsinhalte vermittelt werden
  • Endgültige Schulformwahl durch Schulempfehlung nach Klasse 6 mit freier Elternentscheidung“

Nachdem Mitte Februar die „WZ“ wieder meldete, dass die Abschaffung der OS jetzt sicher sei (wie schon einmal am 24.11.01 mit einem Zitat des stellvertretenden SPD-Landesvorsitzenden Wolfgang Jüttner: „Ich gehe davon aus, dass die Orientierungsstufe zum 1. August 2003 abgeschafft wird“), interessierte uns, wie das für Wilhelmshaven konkret aussehen wird. Bernd Pauluschke (Bezirksregierung) kann sich dazu aber erst nach dem 2. März äußern, wenn der SPD-Landesverband getagt hat. Er scheint davon auszugehen, dass das, was dort beschlossen wird, dann auch Gesetz wird.
Die Landes-Grünen jedoch sehen das anders: „Massenpetition soll Novelle der SPD stoppen“, heißt es am 23.2.02 in der „WZ“, und weiter: „Bis zum Beginn des Wahlkampfes soll die Reform den Landtag passiert haben, sieht der Fahrplan der Sozialdemokraten vor. Die Grünen hielten jedoch daran fest, landesweit den Widerstand gegen die SPD-Reform zu organisieren.“ Sie sind Bestandteil des „Niedersächsischen Bildungsbündnisses“ zu dem auch die GEW, Erziehungswissenschaftler sowie Lehrer- und Elternverbände gehören. So wie’s aussieht, aber nicht der Stadtelternrat Wilhelmshaven.

Sorry, the comment form is closed at this time.

go Top