Schimmelreiter
Aug 011997
 

Stormflut im Stadtpark

Gelungene Inszenierung des Schimmelreiters

(iz/noa) Nach Goethes „Urfaust“ und der Artussage in Tankred Dorsts „Merlin“-Interpretation hat sich die Landesbühne wieder einen großen alten Stoff für ihr Sommertheater vorgenommen. Großes Lob im Jeverschen Wochenblatt, Verriß in der WZ: Der GEGENWIND machte sich selbst ein Bild.Bei Open-Air-Veranstaltungen wirkt hinter den Kulissen stets Petrus mit, in Wilhelmshaven meist kontraproduktiv. Sturm und Gewitter sind beim Schimmelreiter zwar passend, aber an diesem Abend läßt es der himmlische Co-Regisseur bei einigen Tropfen bewenden. Die Naturbühne bietet mit dem Rosenhügel als „Deich“ beste Voraussetzungen, wenngleich die gedrehte Tribüne dem Publikum den Eindruck endloser Weite, den offenen Blick Richtung Stadtpark nimmt.
Das Stück, von Norberto Presta aus der Novelle in die Bühnenfassung umgesetzt, orientiert sich inhaltlich eng an der Vorlage, wobei die Charaktere mancher Figuren durch Regie und Darsteller anders interpretiert werden. Storms Möwerich Claus wird zur Möwe Clara (Constanze Weinig), die frech aber treu in Gummistiefeln mit typisch latschigem Möwengang die Unzulänglichkeiten ihrer menschlichen Kameraden verfolgt. Das häßliche Hutzelweib Trin Jans wird durch Beate Ehlers zur weisen Frau mit geheimnisvoll schönem Gesicht und einer Menge Frauenpower, die auch über ihren Schatten springen kann und dem verhaßten Deichgrafen, der einst ihre Katze erschlug, Frau und Kind im Kindbett rettet. Hauke Haien schließlich, dessen Entgleisungen bei Storm noch schicksalsgegeben scheinen, wird hier nicht glorifiziert, ist weniger Opfer als vielmehr Motor der tragischen Entwicklungen.
Die Musik von Erich Radke ist peppig, die Liedertexte sind gelegentlich etwas holperig und die Hauptdarsteller nicht durchweg begnadete Sangeskünstler. Die Dialoge sind O-Ton Storm. Wo Frau Schwarz die Distanz zur Vorlage sieht, können wir insgesamt nicht erkennen; leider ging der Text gerade an wichtigen Stellen, trotz des geschlossenen Aufführungsbereiches, oftmals akustisch unter. Bei der Oldenburger Inszenierung von Shakespeares „Sommernachtstraum“ im Schloßgarten (insgesamt professioneller und äußerst sehenswert) stimmte der Ton auf offener Wiese und in einem größeren Aktionsradius der Darsteller hundertprozentig. Es ist am falschen Ende gespart, wenn unzureichende Technik die Qualität des ansonsten gelungenen Stücks (hier schließen wir uns dem Lob des Kollegen Ernst Richter vom Wochenblatt an) schmälert.

Vom ehemaligen Wilhelmshavener Intendanten Immelmann als Groteske inszeniert, enttäuscht das Stück mögliche Erwartungen an eine traurige Romanze um das schöne, aber harte Leben an der Küste. So fehlen Barbara Schwarz von der WZ „die großen Bilder.“
Wer den originalen Handlungsrahmen – den Überlebenskampf des Menschen in einer extremen Landschaft – als Kernstück der Handlung betrachtet, hat nicht nur Theodor Storm mißverstanden, sondern auch Presta und Immelmann, die ihren künstlerischen Freiraum nutzen, um mehr als hundert Jahre alte Gedanken in einer zeitgemäßen Kulisse vorzutragen.
Immelmanns letzte Intendantenjahre in Wilhelmshaven waren von sinngemäßen Vorwürfen überschattet: zu frei, zu abstrakt, zu provokativ, kritisierten oftmals die WZ und der Teil des Publikums, der mit dem Theaterbesuch vor allem feine Abendrobe und Selbstdarstellung verbindet und bei Klassikern Brokat, Rüschen und kitschige Bühnenbilder erwartet.
Schwarz fragt nach der Zielgruppe der Inszenierung und kommentiert vernichtend: Familien mit Kindern bis 12 Jahren. Ob man den Kleinen die harte Auseinandersetzung mit Leben und Tod schon zumuten sollte, sei dahingestellt. Tatsächlich spricht die lockere Aufbereitung auch Jüngere an, die Theaterfans von morgen; nur weil Tiere hier Hauptrollen bekleiden, wird das Ganze nicht zu einem Kinderstück – sonst wäre auch der „fabelhafte“ Jean de la Fontaine ein Kinderbuchautor.
Jetzt wird ein so inhaltsschwerer Stoff unterhaltsam inszeniert, was Immelmann früher oft abgesprochen wurde – und ihm nun angekreidet wird. Sieht aus, als sollte der geschasste Intendant unter den Brechern der Provinzialkultur kein Bein mehr an Land kriegen.

Literaturtip: Theodor Storm, „Der Schimmelreiter“ Klett Lesehefte mit Materialien, ISBN 3-12-260640-2; 7,30 DM

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