17. März 2010
eingefangen von Imke Zwoch
Dies war der Tag der wandernden Mikrofone. Ständig waren die Akkus leer, oft waren nur Wortfetzen zu verstehen, die bescheidene Akustik im Gorch-Fock-Haus tat ihr Übriges. Die Ratsvertreter schoben sich gegenseitig die gerade funktionierenden Geräte zu, und der bedauernswerte zuständige Verwaltungsmitarbeiter joggte ständig zur Ladestation und zurück und musste sich noch Kommentare anhören. Okay, Wilhelmshaven möchte gern Energiesparhauptstadt werden, aber man muss es auch nicht übertreiben.
„What shall we do with the drunken children?”
Für Empörung hatten Schilderungen einer Krankenschwester zum Umgang mit alkoholisierten Kindern im Reinhard-Nieter-Krankenhaus (RNK) gesorgt: Man lege ihnen Windeln an, um ihnen das Ausmaß ihrer Verfehlung klar zu machen, und stelle zur aufrüttelnden Demütigung ein Foto vom Zustand bei ihrer Aufnahme auf den Nachttisch. So zitiert in der WZ vom 12.3. im Bericht über eine Podiumsdiskussion. Johann Janssen (LINKE) machte das zum Thema der „Aktuellen Stunde“. Er findet Demütigung als erzieherische Maßnahme untragbar. Michael von Teichman (FDP) hielt dem entgegen, dass „auch für Schwerstkriminelle drastische Methoden“ zur Anwendung kämen, oder kommen sollten. (Immerhin ordnete er Alkohol richtig als „legale Droge“ ein – oft wird in der Diskussion zwischen „Alkohol“ und „Drogen“ unterschieden. Gerade die legale Verfügbarkeit macht Alkohol so gefährlich.) Werner Biehl (Grüne) betonte, dass es hier um Kinder (nicht Jugendliche) ging: „Wie schaffen es 12-Jährige, in diese Situation zu kommen?“ OB Menzel ärgert sich über Angebote zum Flatrate-Saufen wie „11 Euro zahlen, für 33 Euro trinken“. Leider wurde das Thema auch für politische Scharmützel missbraucht. Menzel sorgt sich nicht nur um die Kinder, sondern auch um den Ruf des RNK. Im gleichen Atemzug machte er die Betreiber „gewisser Internetseiten“ für die Rufschädigung verantwortlich. (Dabei stand es doch zuerst in der WZ.) Sprich: Er darf über Leute lästern, die nicht übers RNK lästern sollen, weil es sich nicht gehört, über andere zu lästern, oder wie? Biehl lästerte über Janssen, weil der das Thema im Rat diskutierte, statt mit dem RNK direkt zu sprechen. Man fragte sich schon, worum geht’s hier eigentlich, um die Kinder oder um die nächste Wahl? Doch insgesamt ließ sich die Angelegenheit klären: In Einzelfällen hat das RNK von eingelieferten alkoholvergifteten Kindern Polaroidfotos gemacht, die sie in ihrem desolaten Zustand zeigen. Die Fotos wurden mit den Kindern unter 4 Augen mit dem Arzt besprochen und ihnen mitgegeben. Mit den Eltern wird auch gesprochen. Und gewindelt wird aus rein praktischen Erwägungen. Die Betten müssen ja nicht unnötig eingesaut werden. Auch Erwachsene, die ihre Ausscheidungen nicht halten können, bekommen Windeln, und nicht etwa, um sie damit zu quälen. Ob da nun bei der Krankenschwester oder im WZ-Zitat was durcheinander ging, sei dahingestellt.
„Der Respekt gegenüber den Jugendlichen gebietet aber auch eine Konfrontation mit der Realität“, so Klinikchef Dr. Liebner in einer von Menzel verlesenen Erklärung. Ziel der Behandlung sei, die Jugendlichen und ihre Familien in respektvoller Umgebung zu stärken für die Herausforderungen des Heranwachsens.
Wer Kinder oder Jugendliche wirklich demütigen will, sollte sie in eine Castingshow schicken. Profis wie Heidi Klum oder Dieter Bohlen beherrschen das aus dem FF. Hier lernt unser Nachwuchs, dass das Fehlen von Empathie ein wichtiger Baustein zum Erfolg ist. Und statt Polaroidfotos, die zu Hause in der Schublade der Betroffenen verschwinden, liefern sie öffentliche Videos, die jede/r beliebig aufzeichnen und abspulen kann, um sich daran zu ergötzen.
Schnitt: Es ist ein ernstes Thema, wie unsere Gesellschaft es schafft, Kinder ihrer Kindheit zu berauben, und wie wir – nicht nur in Kliniken – damit umgehen und gegensteuern können. Es war richtig, dass Janssen es auf die Tagesordnung brachte , sonst hätten weiterhin alle vor sich hingebrummelt. Janssen fragte, ob die Stadt nicht das Flatratesaufen verbieten könne. Die Verwaltung will das prüfen. (In Baden-Württemberg sind solche Angebote seit 3 Jahren verboten – red.)
Vorsicht, Demokratie!
Die Gruppe BASU/Ober-Bloibaum/Tholen beantragte verschiedene Änderungen der Geschäftsordnung. U. a. ging es Joachim Tjaden (BASU) darum, dass die Verwaltung, die gegenüber den Ratsmitgliedern streng die Fristwahrung einfordert (z. B. beim Einbringen von Anträgen), umgekehrt auch stärker an Fristen gebunden wird, um dem Rat die Arbeit zu erleichtern. Nicht durchsetzen konnte sich die Gruppe mit der Forderung, die bei Sitzungen anwesenden Einwohner/innen stärker zu Wort kommen zu lassen. Die Gegner des Antrags führten an, die Diskussion könne dadurch zeitlich völlig zerfasern. Da sollten sie sich mal selbst zuhören.
Festzementiert
Auf der Tagesordnung stand die (Wieder)Wahl des ersten Stadtrats, der allgemeiner Vertreter des OB ist – nicht als Repräsentant, sondern als Verwaltungschef. Menzel schlug vor, auf die Ausschreibung der Stelle zu verzichten und Jens Stoffers auf weitere 8 Jahre wiederzuwählen. Er würdigte Stoffers als „kompetenten und loyalen Mitarbeiter“, der seine Aufgaben – Personal, Gesundheit, Recht, Soziales – „geräuschlos abgearbeitet“ habe.
Naja, wie man’s nimmt. Zumindest im Bereich Soziales ging es nicht so geräuschlos ab, sondern bis vor die Gerichte. Ohne Herrn Stoffers persönlich, als Mensch, zu nahe treten zu wollen – fachlich gesehen hat er als Verantwortlicher für die Umsetzung des SGB II (Stichwort Hartz IV) keine Glanzleistung hingelegt. Die Kosten der Unterkunft sind für Tausende von Bedarfsempfängern in Wilhelmshaven zu niedrig angesetzt, wie gerichtlich bestätigt wurde.
Stoffers selbst sagte nach erfolgter Wiederwahl in seiner eigenen Laudatio, er müsse „ohne Ansehen von Person und Fraktion das Recht gleichmäßig anwenden“. Ratsvertreter bestätigten seine Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber und meinten damit neben Menzel auch den Rat. Eigentlich sind es aber doch die BürgerInnen, die seine Stelle bezahlen? Doch bei einer feierlichen Wahl gilt Kritik wohl als unanständig. Stoffers wurde in offener Wahl einstimmig gewählt, ohne dass ein Kritiker seiner städtischen Hartz-IV-Politik auch nur den Mund aufmachte.
Das tat nur, im Vorfeld, die Gleichstellungsbeauftragte Ellen Wolbergs, die zu jeder Stellenbesetzung gefragt wird. Sie monierte zu Recht, dass von den 4 Spitzenpositionen in der Verwaltung keine einzige mit einer Frau besetzt ist.
Städtebauliche Unordnung
I: Am westlichen Stadtrand, wo früher Wiesen und eine Molkerei waren, haben sich Bau- und Gewerbegebiete in die Landschaft gefressen. Im Bereich Potenburg nördlich der B210 ist noch was frei. Obwohl die Innenstadt immer leerer wird und die Bevölkerung weiter schrumpft, sollen dort weitere Wohnbauflächen entwickelt werden. Man stritt sich nur darum, und das ausgiebig, ob nicht doch eher noch mehr Gewerbeflächen benötigt werden. Einziger Lichtblick: Ein Teil des Wohngebietes soll als Modellsiedlung mit „energieoptimierten Gebäudestandards“ entwickelt werden. Das fand auch Claus Westermann (Grüne) gut, der als Solaranlagenbauer zwar interessensmäßig nicht unbefangen ist, aber wenigstens weiß, wovon er spricht. (Unsereins fragt sich, warum nicht längst alle Wohnbauten, und erst recht Gewerbegebiete mit großen Dachflächen, standardmäßig in Richtung Sonnenenergie entwickelt werden.) Sein Kollege Werner Biehl betonte, dass das vorhandene Wäldchen am Potenburger Weg erhalten werden soll. Sein Optimismus in Ehren, aber beim Erhalt vorhandenen Grüns haben Planer und Bauherren bislang meist wenig Phantasie bewiesen: Erst das Reißbrett und dann gucken, was übrig bleibt.
II: Wo jetzt der alte Wassertank an der Weserstraße steht (westlich der Neckarstraße), will die Spar & Bau ein weiteres Wohngebäude erstellen. „Dieses ist das letzte Gebäude, um das städtebauliche Gesamtbild zu vervollständigen“, steht in der Begründung, sowie „Komplettierung eines Bestandsgebietes durch ein Wohngebäude“ und „Berücksichtigung des Denkmalschutzes“. Ein harmonisches Gesamtbild gibt es dort schon lange nicht mehr, jeder macht, was er will. Nicht mal die drei in den letzten Jahren dort errichteten Gebäude geben ein harmonisches Bild ab, geschweige denn passen sie sich an die umliegende denkmalgeschützte Bausubstanz an. Das einzige, was zählt: Die Eigentumswohnungen am Wasser verkaufen sich wie geschnitten Brot. Aber dann sollen sie das auch sagen und nicht so einen Unfug in ihre Vorlagen schreiben.
III: Der westlichen Südstadt geht’s auch nicht besser: Zwischen Ansgari- und Seediekstraße, neben dem Willehad-Krankenhaus, entsteht ein weiteres Alten- und Pflegeheim. Da war doch was? Richtig: Die (leer stehende) Ansgarischule. Fähige Stadtplaner würden so ein Stück historische, stadtbildprägende Bausubstanz in den neuen Komplex einbinden. Wär doch super als Eingangsbereich, Verwaltungstrakt und Treffpunkt mit Café, und irgendwie sinnig, wenn die alten Menschen dort mit einem Stück ihrer Zeitgeschichte leben könnten.
Doch mangels Phantasie und Kreativität wird die Schule abgerissen – Stichwort Reißbrett, siehe oben. Und auch hier bedrückend: Einstimmiger Beschluss des Rates – macht sich keiner mehr einen Kopp um so was?
Big Brother befreit euch von Wildwuchs
In Siebethsburg sollen zwei Spielplätze umgestaltet werden. Beim Bolzplatz Papingastraße „wurde das direkte Platzumfeld von wild wachsendem Baum- und Strauchbewuchs befreit“. Abgeschirmt durch die Bäume und Sträucher, habe sich der angrenzende Spielplatz zu einem beliebten Jugendtreff entwickelt. Alternativ will man für die Jugendlichen „eine offene und attraktive Begegnungs- und Bewegungsstätte im Freien“ neben dem Spielplatz Edenburgstraße schaffen.
Zahlreiche Studien belegen, dass Kinder und Jugendliche für ihre gesunde Entwicklung „Wildwuchs“ benötigen, wo sie spielen bzw. sich treffen können, ohne ständig unter Beobachtung zu stehen. Wo keiner hinguckt, machen sie zwar auch dummes Zeugs; kaputte Spielgeräte und Müll sind unerfreuliche Begleiterscheinungen. Aber sie nur noch auf dem Präsentierteller zu haben, auf DIN-genormten Spielplätzen und überpflegten Grünanlagen, kann nicht die Lösung sein. Aber irgendein Grund findet sich ja immer, Natur in der Stadt plattzumachen.
Früh übt sich
Jüngster Zuschauer war wieder Bolle Sommer, noch keine zwei Jahre alt. Diesmal kletterte er sogar auf einen freien Rats-Stuhl – im schwarz-gelben Sitzbereich. Aber bis er über den Tisch gucken kann, hat er ja noch genug Zeit, sich zu orientieren.
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