Privatinsolvenzen
Dez 032004
 

Fast Spitze!

Wilhelmshaven liegt auf Platz 2 der Pleitestatistik

(red) Wilhelmshaven ist mal wieder Spitze. Fast! In der Statistik der privaten Pleiten im Verhältnis zu den Einwohnerzahlen belegt Wilhelmshaven den unrühmlichen zweiten Platz von insgesamt 439 statistisch erfassten Städten! Privat Insolvenz anmelden, Pleite gehen – was heißt das eigentlich? Wir haben den Geschäftsführer der IHV – Insolvenzhilfe e.V., Dipl. Soz. Päd. Tim Sommer, gebeten, einen Blick hinter die Zahlen zu werfen.

Nach der neusten Statistik der Firma Seghorn-Inkasso ist Wilhelmshaven auf Platz 2 der Verbraucherinsolvenzen nach Städten. Hinter Pirmasens belegt unsere Stadt mit 226 eröffneten Verbraucherinsolvenzen auf 100.000 Einwohner gerechnet (von Januar bis September 2004) mal wieder einen unrühmlichen Spitzenplatz in einer Negativ-Statistik. Diese Zahl ist dreimal so hoch wie der Bundesdurchschnitt und fast zehnmal so hoch wie in den Vorzeigestädten Bayerns. Seit Einführung der Insolvenzordnung im Jahr 1999 steigt die Zahl der eröffneten Insolvenzverfahren von Privatpersonen jährlich um fast 50%. Experten erwarten für die kommenden Jahre eine weitere Steigerung mit ähnlichen Quoten.
Doch hinter den nackten Zahlen verbergen sich die Schicksale vieler Menschen und Familien. Gerade Wilhelmshaven ist als strukturschwache Region mit einem hohen Anteil an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern ein Krisengebiet im Insolvenzbereich. Die zunehmende Verarmung von Familien und allein Erziehenden ist besonders in unserer Stadt gut zu erkennen. Auf diese Entwicklung hat auch die Bundesregierung in ihrem gerade vorgestellten Armuts- und Reichtumsbericht hingewiesen.
Nach den Erhebungen der Firma Seghorn-Inkasso sind besonders Familien und allein Erziehende von der privaten Pleite betroffen. Dies zieht sich durch alle Altersgruppen. Nur berufstätige Singles gelten nicht als Risikogruppe. Diese Entwicklung resultiert aus der Vernachlässigung von Familien in allen politischen Bereichen. So sind fast alle allein Erziehenden auf Sozialhilfe angewiesen, da keine ausreichende Kinderbetreuung zur Verfügung steht. Dies gilt insbesondere für Kinder bis zu 3 Jahren. Kaum eine allein erziehende Mutter ist so in der Lage, einer Arbeit nachzugehen und unabhängig von der Sozialhilfe zu werden. Darüber hinaus werden gerade allein Erziehenden kaum berufliche Weiterbildungsmöglichkeiten angeboten. Die Sozialämter zahlen lieber über Jahre Unterstützung, als für berufliche Alternativen zu sorgen.
Auch Familien gelten als besonders insolvenzgefährdet. Sinkende Einnahmen, steigende Lebenshaltungskosten und der rasante Abbau des Sozialstaates führen viele Familien in den finanziellen Ruin. Von der Abschaffung der Lehrmittelfreiheit bis zur Senkung der öffentlichen Unterstützung bei den Kosten der Kinderbetreuung, keine Bevölkerungsgruppe leidet so sehr unter der politischen Sparwut wie die Familien. Auch die hochgelobte Steuerreform entlastet Familien kaum.
Die familiären Auswirkungen von Überschuldung sind bis dato wenig beleuchtet worden. In vielen Fällen führen aber finanzielle Probleme zu Ehescheidungen und auch zu erhöhter Suchtgefährdung. Alkohol und Spielsucht sind hierbei die favorisierten Ventile. Wenn die Medien über den Amoklauf eines Familienvaters berichten, so wird im Nachsatz oft die Verschuldung als Ursache des Verhaltens genannt.
Doch auch eine Kommune kann unter der Last von überschuldeten Haushalten zusammenbrechen. Jeder Euro, welcher über Lohnpfändungen und Gerichtsvollzieher an die Gläubiger geht, fehlt den Betroffenen, um ihr Geld im Einzelhandel und Gewerbe der Stadt auszugeben. Hierdurch ergibt sich ein enormer Kaufkraftverlust für die örtliche Wirtschaft, welcher sich auch in Wilhelmshaven über tägliche Firmenpleiten und Geschäftsaufgaben bemerkbar macht.
Und auch Teile der Wirtschaft versuchen nach Kräften, verschuldete Menschen aus der Gesellschaft auszuschließen. So vermietet die Wohnungsbaugesellschaft Jade seit dem Verkauf nicht mehr an Mieter mit negativen Schufa-Einträgen. Hiervon ist laut einer Schufa-Statistik aus dem Jahr 2004 immerhin jeder zehnte Haushalt in Wilhelmshaven betroffen. Stellt sich die Frage, an wen die Jade in fünf Jahren noch vermieten will, wenn die Entwicklung so weitergeht!?
Und die Politik und Verwaltung? Seit Jahren bestreiten die Verantwortlichen die Notwendigkeit einer qualifizierten Schuldner- und Insolvenzberatung. Über juristische Kniffe wird aus der gesetzlichen Verpflichtung, eine Schuldnerberatung vorzuhalten, eine freiwillige Leistung. Und hierfür fehlen ja bekanntlich die Mittel. Darüber hinaus werden unsere städtischen „Sozialexperten“ nicht müde, die Arbeit z.B. der IHV – Insolvenzhilfe e.V. als unnütz darzustellen. So wurden die städtischen Zuschüsse für die Schuldnerberatung im Jahr 2000 eingestellt, wodurch nicht nur viele Schuldner eine Hoffnung verloren haben, sondern auch noch fünf qualifizierte Arbeitsplätze vernichtet wurden. Sämtliche Anschreiben der letzten Jahre an die Vorsitzende des Sozialausschusses blieben unbeantwortet. Einladungen, die Beratungsstelle zu besichtigen und sich über die Arbeit zu informieren, wurden nicht wahrgenommen. Nur gut, dass Statistiken, Zahlen und menschliche Schicksale nicht so einfach zu ignorieren sind. Und hinter jedem insolventen Haushalt verbergen sich im Schnitt zwei Wählerstimmen… Überschuldete Haushalte haben wir in Wilhelmshaven ca. 5.000!

Schuldnerberatung
beim Insolvenzhilfeverein Wilhelmshaven/Ost-/Friesland e.V.,
Rheinstraße 91, Tel: 139330

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