Neues Leben für die Südstadt
(iz) Junge Unternehmen haben in der Anfangsphase oft ein begrenztes Budget. Zudem benötigen sie einen Standort, ein Ladenlokal oder Büroräume, um auf dem Markt Fuß zu fassen. Um solche Unternehmen zu unterstützen, wurde das Projekt „Plug & Work“ ins Leben gerufen. Auch in diesem Jahr konnten sich Interessierte an einem Wettbewerb beteiligen, bei dem als Prämie netto-mietfreie eingerichtete Büro- oder Ladenflächen, Coaching und Netzwerkarbeit für ein Jahr ausgelobt wurden. Die vier Preisträger wurden jetzt im Rahmen einer Netzwerkparty in der Suedlounge vorgestellt.
Die Suedlounge, 2013 in der Rheinstraße 98 als „co-working space“ gegründet, ist eine Keimzelle der innovativen Zukunftsentwicklung unserer Stadt. Vom Exoten entwickelte sie sich bald zu einer angesagten Location für die städtische Wirtschaftsförderung. An diesem Abend war sie bestens gefüllt mit VertreterInnen von Stadt, Jadehochschule, Wirtschaftsförderung, IHK und Handwerkskammer, Unternehmen und weiteren Freunden und Unterstützern des Projekts. Die Veranstaltung wurde von Dr. Monika Michaelsen (Wirtschaftsförderung) und Juliane Heimann (Projektbüro Plug & Work) moderiert.
Die Juroren waren Heide-Mary Wilken (Agentur für Arbeit Oldenburg-Wilhelmshaven), Angelika Brünlow (Jobcenter Wilhelmshaven ), Prof. Dr. Thomas Lekschat (Jade Hochschule), Frank Happe (Wirtschaftsförderkreis Harlingerland), Norbert Philipp (Volksbank Wilhelmshaven) und Ralf Eckert (oldntec GmbH Oldenburg). Die Vorjahresgewinner Puzzle Pictures (Werbespots, Imagefilme ua), SoLid Coatings (Strahl- und Beschichtungstechnik) und Victim Brand (Schmuck und anderes aus ausgedienten Skateboards) sind zur Freude der Jury weiterhin gut im Geschäft.
In seinem Grußwort bezeichnete Oberbürgermeister Andreas Wagner die Südstadt als attraktivsten Stadtteil, der aber lange vernachlässigt wurde: „Wir nehmen jetzt Dinge ernst, die wir früher hätten ernst nehmen sollen“. Durch die fortschreitende Sanierung und Förderprogramme kämen hier jetzt „ganz andere Phantasien“ und „Gründermentalität“ auf: „Wilhelmshaven verjüngt sich, wir brauchen eine neue Unternehmergeneration, die nicht die eingefahrenen Pfade der Eltern beschreitet“.
Eine sehr sympathische Geschäftsidee präsentierten Anne Locker, Rebekka Pude und Joel Owona. Die drei Absolventen des Studiengangs Wirtschaftsingenieurwesen an der Jadehochschule haben in ihrer Masterarbeit Probleme behinderter Kinder im spielerischen Alltag identifiziert und wollen mit ihrer Firma FILONI Spiel- und Therapiebedarf für beeinträchtigte Kinder herstellen und bundesweit vermarkten: „Die Thematik der Inklusion ist allgegenwärtig. Sie wird viel diskutiert, aber zu wenig gelebt. Für behinderte Kinder bestehen immer noch physische und soziale Barrieren. Wir wollen uns diesen Problemen annehmen und Produkte entwickeln und vertreiben, die auf die Bedürfnisse dieser Kinder abgestimmt sind.“ Mehrfach behinderte Kinder, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, können nicht wie andere auf dem Bodenhocken, um im Sand zu spielen oder Spielzeug um sich herum auszubreiten. Das erstes FILONI-Produkt ist eine höhenverstellbare Spiel- und Lernplattform, die sich modular individuell ausstatten lässt, ob als Sandkasten, als Spielfläche oder mit einer Halterung zum Malen oder zum Lesen. Klingt so simpel wie naheliegend, man muss nur erstmal auf die Idee kommen und sie auch umsetzen. „Für unsere soziale Innovation erhalten wir das EXIST-Gründerstipendium des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, um diese Idee verwirklichen zu können.“ Und als Plug & Work-Preisträger nun auch die Räumlichkeiten und weitere Unterstützung vor Ort.
Charmant ist die Idee der Preisträgerin Manuela Nitschke. In ihrem Geschäft RADTRAKTION will sie maßgeschneiderte Fahrräder nebst Zubehör und Reparatur anbieten. Als sie vor zwei Jahren nach Wilhelmshaven zog, stellte sie fest, dass es in der Südstadt nur ein Fahrradgeschäft gibt. Ihr Schwerpunkt liegt in der individuellen ergonomischen Anpassung der Räder, die auf einem speziellen Sitz ermittelt wird. Zudem soll ihr Laden als „Wohlfühlraum“ die Atmosphäre für eine ausführliche Beratung bieten. Wir meinen: Wilhelmshaven hat zwar viel Potenzial als Fahrradstadt, der Autoverkehr spielt jedoch in Politik und Stadtplanung immer noch eine viel zu große Rolle. Somit ist für RADTRAKTION und weitere Entwicklungen rund ums Rad noch viel Luft nach oben.
Nicht mehr ganz jung, aber junggeblieben und innovativ fühlt sich Dr. Michael W. Preikschas, der vor 10 Jahren nach Wilhelmshaven kam. Nach über 25 Jahren in Forschung und Lehre im Bereich Marketing im In- und Ausland fasste er „Mut zum Institut“ für Technik und Vertrieb, kurz INTEV. Als technischer Unternehmensberater bereitet er Unternehmen auf die Zukunft vor. Als eines der Tätigkeitsfelder nannte er die oftmals schwierige Suche nach Unternehmensnachfolgern. Preisträger Nr. 4 ist die Werbeagentur MachMeine Werbung. Die Geschäftsführer Eike-Christian Janßen und Tobias Hagemann sind haben an der Jadehochschule Medienwirtschaft und Journalismus studiert. Ihre Produktplatte enthält u. a. Video- und Audioproduktionen. Seit 2012 gehören sie der Gründerbox der Hochschule an und arbeiten viel mit Studierenden zusammen.
Alle vier Preisträger werden ab 2017 in der westlichen Südstadt zu finden sein. Leider konnte keinem bei der Preisverleihung der symbolische Schlüssel für die Geschäftsräume überreicht werden, die Gespräche mit den Eigentümern laufen „auf Hochtouren“, so Dr. Monika Michaelsen (Wirtschaftsförderung) und Juliane Heimann (Projektbüro). Es sei nicht immer einfach, an die Eigentümer heranzukommen, und die eine oder andere Wunschimmobilie wurde den Projektträgern schon durch andere Mieter vor der Nase weggeschnappt.
Benno Dopjans, der vor drei Jahren gemeinsam mit Rabea Determann die Suedlounge gründete, hielt abschließend ein Plädoyer für den Pioniergeist in der Südstadt. Damals gab es noch wenig Anreize, diesen eigentlich charmanten Stadtteil wiederzubeleben. Viele klassische Ladengeschäfte im Erdgeschoss waren zu Wohnungen umgebaut worden. Mittlerweile gibt es im Umfeld positive Entwicklungen. 2014 wurde in der Lounge der Verein „Neue Botschaft Sued“ gegründet, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Stadt kulturell zu beleben, unter anderem durch die „Suedbar“, die als mobiles nichtkommerzielles Kulturevent Leerstände wie das ehemalige Möbelhaus Adena oder den alten Schlachthof mit neuem Leben erfüllt. Dopjans war auch an der Planung und Durchführung des „Xukunftscamps“ 2016 beteiligt.
Statt ständig auf Städte wie Oldenburg zu schielen und vergeblich zu versuchen, diesen nachzueifern, sollte man die kreativen Nischen nutzen, die WHV bietet: „Suche Dir ein eigenes Ziel, das keiner kennt“.
Die Suedlounge wird heute von Jens Bertram und Birgit Tönjes-Deye weitergeführt, die dort mit dem „Webkraftwerk“ angesiedelt sind. Auch wenn die Förderung durch „Plug & Work“ auf die westliche Südstadt beschränkt ist, hat sich auch im Südosten einiges getan. Seit dem Frühjahr ist in der östlichen Rheinstraße die „Senfonie“ (Fachgeschäft für selbst hergestellten Senf sowie Essig, Öl und weiteres) ansässig. Am 3. Dezember eröffnet Petra Harnack in der Rheinstraße 48 ihre kreative Nähwerkstatt und wenig später öffnet Familie Rasche die Türen der „Soulshine Fabrik“ für Industrial und Vintage Design in der Rheinstraße 36.
Im kommenden Jahr bietet sich zum dritten und letzten Mal die Gelegenheit, sich auf eine Förderung im Rahmen von Plug & Work zu bewerben. Alle, die einen Geschäftsstandort in der westlichen Südstadt suchen, können sich jetzt schon bei Dr. Monika Michaelsen (04421-5066424) oder Juliane Heimann (04421-5066430) bewerben.
Das Projekt „Plug & Work“ wird im Rahmen des ESF-Programms „Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier (BIWAQ)“ durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit und den Europäischen Sozialfonds gefördert und setzt auf die Stärkung lokaler Ökonomie. Projektpartner ist die Wirtschaftsförderung der Stadt Wilhelmshaven.
Die aktuellen Entwicklungen in der Südstadt sind ein heller Streif am dunklen Horizont der demografischen Entwicklung in Wilhelmshaven. Allmählich sollten die Ewiggestrigen im Rat kapiert haben, dass das Lebensmodell ihrer Jugend – mein Job, mein Haus, mein Auto – nicht geeignet ist, die begehrte Altersgruppe der heute 20- bis 35jährigen nach Wilhelmshaven zu holen bzw. hier zu halten. Das zuletzt am Stadtrand ausgewiesene Baugebiet Potenburg inklusive gesichtslosen Supermärkten oder das totgeborene Gewerbegebiet Langewerth sind die beiden jüngsten Kardinalfehler einer Stadtplanung, die eine weitere Entleerung der Innenstadt fördert und sinnlos den grünen Stadtrand zerstört, statt das charmante Potenzial gewachsener Strukturen zu erkennen und wiederzubeleben. Autos fressen Geld und Platz, besetzen Freiräume zum Leben, genießen einen viel zu hohen Stellenwert gegenüber dem Rad- und Fußgängerverkehr. Manche Großstadt ist da schon viel weiter als die Provinz. Zur Wohn- und Lebensqualität gehören lebendige Stadtteile, der sprichwörtliche „Kiez“, in dem kleine Ladengeschäfte zum Bummeln einladen und gleichzeitig Orte der Begegnung und Kommunikation sind.
Durch das Programm „Plug & Work“ sind in der westlichen Südstadt einige solcher Kristallisationspunkte entstanden. Im östlichen Teil haben mutige ExistenzgründerInnen auch ohne Förderung den Grundstein für eine Trendwende gelegt und ziehen weitere an. Diese kleinen Erfolge kann sich die Politik nicht auf die Fahne schreiben, auch wenn sie sich gern damit schmückt. In den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob die alten und neuen Ratsmitglieder kapiert haben, was anders laufen muss, um der Stadt ein attraktives Profil mit Zukunftsperspektive zu verleihen.
Die AnwohnerInnen tragen ihren Teil dazu bei, indem sie diese Angebote auch nutzen, statt bei den Billigheimern oder im Internet zu kaufen. Mehr als 50% sind nicht zur Wahl gegangen. Wer kein Vertrauen mehr in die Politik hat, kann trotzdem an der Basis viel bewegen durch sein tägliches Handeln, durch nachbarschaftliche Initiativen, durch das eigene Konsum- und Mobilitätsverhalten. Wer weiß, vielleicht kehren eines Tages auch die kleinen Lebensmittelgeschäfte in unseren „Kiez“ zurück. Dazu braucht es keinen Ratsbeschluss, aber ausreichend KundInnen. Solange aber eine Ratsmehrheit den Ketten und Discountern rote Teppiche ausrollt, bleibt es ein harter Kampf von David gegen Goliath.
Imke Zwoch
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