Nordseetribunal
Jun 121989
 

ICI: Schuldig

tribunal

Jury fordert PVC-Ausstieg

(hk) BAYER, BASF, HOECHST, ICI oder Bundesumweltminister Töpfer unschuldig, nein mit einem Freispruch hatte niemand der über 400 Teilnehmer/innen des Nordseetribunals gerechnet. Trotzdem blieb der Jury-Spruch, zumindest in ersten Reaktionen, hinter den Erwartungen der Kläger zurück.

Der Urteilspruch der Jury war in vielen Bereichen eine Überraschung – denn statt der von den Klägern erwarteten Einzelverurteilung der angeklagten Firmen (Motto: „Die Nordseeverschmutzung hat Namen“) drehte die Jury den Spieß um und nahm in einer „Gesamtschau“ die vorgetragenen Fälle zum Anlaß, Grundsätze für eine Umkehr in der Umweltpolitik aufzustellen. Dadurch blieb der Jury-Spruch in konkreten Punkten hinter den Erwartungen zurück.
Vor dem Nordseetribunal waren bekanntlich auch die Produzenten von PVC (unter ihnen auch die ICI-Wilhelmshaven) der „Mitschuld am Zusammenbruch der Nordsee“ angeklagt.
In monatelanger Arbeit hatten die Kläger (neben anderen auch die BUW) alle Fakten und Erkenntnisse über die Produktion von PVC, seiner Nutzbarmachung durch den Zusatz von zumeist hochgiftigen Substanzen, bis hin zum Verhalten des PVC auf Mülldeponien und in Verbrennungsprozessen zusammengetragen und zu einer Anklage zusammengefaßt.
Da die PVC-Industrie es ablehnte sich vor dem Nordseetribunal selbst zu verteidigen, mußte eine Arbeitsgruppe auch noch eine Pflichtverteidigung erarbeiten, die argumentativ besser war als alles, was in den letzten Jahren von den Public-Relations-Abteilungen der PVC-Industrie veröffentlicht wurde.
Nach Vortrag von Klage und Verteidigung wurde klar, daß die Jury nicht gewillt war, einfach den Forderungen bzw. Empfehlungen der Kläger zu folgen. Mit großer Sachkenntnis setzten die Jury-Mitglieder den Klägern und der Verteidigung zu. Jede offene Flanke wurde erkannt und hinterfragt. Die Jury trieb so manchen Kläger zu einem hilflosen „da kann ich nichts zu sagen – das weiß ich nicht“.
Allein die Tatsache, daß die Jury bis morgens früh halb sieben über ihren Spruch gebrütet hat, straft all diejenigen Lügen, die von „Vorverurteilung“ und „Farce“ gesprochen hatten.
Daß zum Schluß ein Schuldspruch für die PVC-Industrie herauskam – das war logisch und zwangsläufig. Die Tatsache, daß der PVC-Bereich besondere Berücksichtigung im Jury-Spruch fand, veranschaulicht die Schwere der durch PVC verursachten Umweltprobleme.

Ausführungen der Jury zu PVC:

(…) Sie erzeugen irreversible Schäden einer neuen Qualität. Weder das Ausmaß des Schadens, noch lineare, causale und zeitliche Verknüpfungen von Ursachen und Wirkungen sind im voraus zu erkennen – auch nicht beim Einsatz aller wissenschaftlichen Möglichkeiten. Deshalb sollten Herstellung und Gebrauch grundsätzlich unterlassen werden.
(…) Die PVC-Industrie (hat) sich deshalb schuldig gemacht im Sinne der Anklage.
(…) Im Zusammenhang mit der Herstellung von PVC erscheint die ursprüngliche Entwicklung dieser Produktreihe nachvollziehbar, nach dem heutigen Stand der Erkenntnis ist es jedoch höchste Zeit, aus der Chlor- bzw. Halogenchemie auszusteigen und die Entwicklung von Ersatzstoffen voranzutreiben. Wir fordern Wissenschaft, Politik und Industrie auf, unverzüglich ein Ausstiegsscenario vorzulegen. (…)
Dieser Jury-Spruch ist eindeutig – so eindeutig wie der Zusammenhang zwischen PVC und dem Gifteintrag in die Nordsee. Daß es dennoch seitens der Kläger eine anfängliche Unzufriedenheit gab, liegt in erster Linie an den doch recht allgemein gehalten Formulierungen des Jury-Spruches. Die Kläger hatten in ihren „Empfehlungen“ konkretere Schritte gefordert:

„Die PVC-Hersteller sollen aus eigener Verantwortung heraus

– auf einen weiteren Ausbau des PVC-Marktes und der PVC-Herstellung verzichten. Insbesondere dürfen keine Ersatzmärkte in „Schwellenländern“ geschaffen werden.
– binnen ½ Jahres ein detailliertes und zeitlich definiertes Rücknahmekonzept für die PVC-Altlasten vorzulegen.
– umgehend durch Kennzeichnung ihres Produktes dafür zu sorgen, daß kein PVC mehr in Verbrennungsprozesse gelangt und daß PVC nicht länger das Recycling anderer Kunststoffe behindert.
– innerhalb eines Jahres ein Konzept für einen schrittweisen, arbeitsplatzerhaltenden und sozial verträglichen Ausstieg aus der PVC-Produktion vorzulegen. Dazu gehört sowohl ein zeitlich fixiertes Szenario einzustellender Verwendungsbereiche als auch die Projektierung von Forschung im Bereich chlorfreier Ersatzprodukte.

Dennoch sind die Aussagen des Jury-Spruches richtungweisend für die Arbeit der Initiativen „vor Ort“. Es wird nur darum gehen, die erarbeitete Linie in die Praxis umzusetzen.

 

Kommentar:

Aufgeschreckt
reagierte die PVC-Industrie auf das Nordseetribunal. Das konnten die Leser/innen der WZ besonders an den von der ICI entfachten Aktivitäten ablesen.
Da gab es eine WZ-Sonderseite unter der Überschrift „PVC-Recycling? Bei ICI hat man dafür schon Rezepte“. Daß der Informationsgehalt des Artikels gleich null war – wen stört’s schon?
Da gab es ein Public-Relation-Klimbim für Politiker und Journalisten in Bad Zwischenahn. Dann gab es noch einen Bericht über die Umsatzsteigerungen bei der ICI. Jeder Artikel war natürlich mit dem Hinweis verbunden, dass das alles überhaupt nichts mit dem „sogenannten Nordseetribunal“ zu tun hat. An dem ganzen Werbegetrommel war eigentlich nur eines bemerkenswert: Während in allen Artikeln jegliches Problem durch PVC bestritten, „jeder Zusammenhang zwischen PVC und Schädigung der Nordsee ausgeschlossen werden könne“ (ICI-PR-Manager Czieslik in der WZ vom 24. Mai 1989), räumte Czieslik in der WZ am darauffolgenden Tag zumindest das Vorhandensein von Nachteilen ein: „Diese Gesellschaft lebt mit den Vorteilen dieses Materials, dann muß sie auch mit den Nachteilen leben können!“
Müssen und wollen wir aber nicht, verehrter Dr. Czieslik!

Hannes Klöpper

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