Mißbrauch
Apr 191993
 

Schattenlicht

Kann sexueller Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen enttabuisiert werden?

(iz/ub) Im März dieses Jahres wagte sich der Intendant des Wilhelmshavener Stadttheaters, Georg Immelmann, an die Inszenierung eines Themas, das mehr denn alle anderen gesellschaftlichen Problematiken totgeschwiegen wird: sexueller Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen in der Familie oder durch andere Bezugspersonen. Der GEGENWIND sprach mit der Betroffenen-Selbsthilfegruppe „Schattenlicht“ über die Realität in Bezug zur künstlerischen Umsetzung der Thematik.

„Schattenlicht“ , das sind sechs Frauen zwischen 18 und 39 Jahren, die in ihrer Kindheit durch männliche Familienmitglieder oder andere Bezugspersonen sexuell mißbraucht wurden. Seit Februar des Jahres treffen sie sich regelmäßig mit Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle für Jugendliche und junge Erwachsene, um gemeinsam diese Erfahrungen zu verarbeiten, die ihr Leben, ihren Alltag, ihre Gefühlswelt und ihr Selbstempfinden geprägt haben.
Die Frauen haben sich gemeinsam mit Betreuerinnen der Gruppe das Stück „Kalte Hände“ im Stadttheater angeschaut. Nicht ohne Angst haben sie sich darangewagt, damit Eindrucke an sich heranzulassen, die gleichzeitig Chance und Gefahr für sie sein können. Die Chance, ihre eigene Verarbeitung voranbringen können, und die Gefahr, dadurch und dafür noch tiefer in den Schmerz im eigenen Unterbewusstsein einzudringen.
Doch es hat sich für sie gelohnt. Obwohl den Frauen Literatur und Theaterstücke bekannt sind, die das Thema besser umsetzen (z.B. das Stück „Frostnacht“, das unlängst am Oldenburgischen Staatstheater lief), haben sie „Kalte Hände“ als „gut“ und realitätsnah empfunden.
Realitätsnah die Mechanismen, mit denen die Hauptdarstellerin um Hilfe bei der Mutter schreit. Bettnässen oder andere auffällige Verhaltensweisen außerhalb der Normen, wie besonders gute Leistungen oder drastischer Leistungsabfall in der Schule, Eßsucht oder Magersucht: alles lautlose Signale, auf die nicht nur Mütter, sondern auch LehrerInnen, ÄrztInnen oder andere Kontaktpersonen äußerst sensibel reagieren sollten, was im Stück eben nicht der Fall ist.

Aus eigner Erfahrung kennen die Betroffenen auch das „Geschenkeritual“: das Mädchen muß „es“ nicht „umsonst“ machen. Im Stück erhält sie vom Vater (in dessen eigenem Interesse) Reizwäsche, die sie für ihn anziehen und für die sie sich bedanken muß. Diese Geschenke können auch Süßigkeiten sein oder ein Angebot, die Puppe zu reparieren. Diese Ritualisierung auf Prostitutionsebene nutzen die Täter wohl für die Verdrängung von Schuldgefühlen.
Welche Rolle spielt die Mutter im Stück und in betroffenen Familien? Mütter, so die Frauen von „Schattenlicht“, ahnen immer etwas, wenn der Ehemann oder Freund das eigene Kind mißbraucht. Sie wollen es oftmals nicht wahrhaben, sie wollen die familiäre Harmonie zumindest nach außen wahren, und: sie wollen den „Partner“, den eigenen Mann nicht verlieren, ihn um jeden Preis festhalten. Der Lebenspartner – wichtiger als das leibliche Kind? Im Stück verläßt die Mutter, als sie die bittere Wahrheit nicht mehr totschweigen kann, die Wohnung und läßt Vater und Tochter allein. Ein unwahrscheinlicher Schluß – warum wirft sie den Vater nicht hinaus oder geht gemeinsam mit der Tochter? Ihre Flucht versinnbildlicht das typische Verhalten betroffener Mütter, sich zu verstecken, die Augen zuzumachen, nicht hinzuschauen.
Die Tochter ist hilflos, ausgeliefert. Ihre lautlosen Schreie werden nicht erhört, nicht von der Mutter, nicht von der Schulärztin, nicht vom Pastor. So baut sie ihre eigenen Schutzwälle und Verdrängungsmechanismen auf. Mit solchen Schutzmechanismen konnten die Frauen von „Schattenlicht“ an bestimmten Stellen das Theaterstück verkraften: wenn es zu hart wurde, haben sie zugemacht, abgeschaltet. Gerade der stilisierte Schlußakt, der rein verbal zwischen zwei weit voneinander entfernten Personen ausgetragen wird, wurde von ihnen als schlimmer empfunden, als wenn die Szene sich konkret in dem Bett abgespielt hätte, das zentral vorne auf der Bühne stand.
Zu den Schutz- und Verdrängungsmechanismen gehört auch die sprachlose „Bezugsperson“, der Teddybär, die Puppe, auf die die eigene Situation und das eigene Wunschdenken projiziert wird. Der Teddy wird behütet, mit Zärtlichkeit überschüttet. Der Teddy kann aber auch beschimpft und bestraft werden, er ist das „Opfer“ des Opfers, wehrlos ausgeliefert.

Opfer und Täter, Täter-Opfer-Schuldübertragung, das sind Kernbegriffe im Umgang mit sexuellem Mißbrauch. Der Vater wird, im Stück (vom Pastor) wie in der Realität, oft als Opfer in Schutz genommen. In diesem Zusammenhang wurden im Umfeld der Wilhelmshavener Inszenierung Aussagen gemacht, die nicht nur von betroffenen Frauen schlichtweg als empörend empfunden wurden. Barbara Schwarz geht in ihrer Premierenbesprechung in der WZ vom 15. März darauf ein, daß die Mutter sich dem Vater schon über längere Zeit sexuell verweigert und der Mann ja nun seinen Triebstau loswerden muß. Erich Fetting nimmt in seinem WZ-Leserbrief die Männer dahingehend in Schutz, daß es eben nicht alle oder viele, sondern nur wenige „schwarze Schafe“ sind, die solches tun, weil sie krank sind.
In einer der Aufführung folgenden Diskussion mußten sich die betroffenen Frauen sogar anhören, „wenn alle Arbeit hätten, wäre die Mißbrauchsquote um 8 % geringer.“ Der Statistiker war, selbstredend, männlich. Die armen, arbeitslosen, frustrierten Männer, wo sollen sie denn nur hin mit sich, zumal die Töchter ja „kleine Lolitas“ sind, die sexuelle Übergriffe geradezu herausfordern.
Nein, es geht nicht um Triebe, die da befriedigt werden, sondern schlicht und einfach um Macht, Machtausübung. Dem Chef oder anderen Männern gegenüber können sie keine Macht ausüben, bei der eigenen Frau wollen sie keine „Schwäche“ zeigen, also wird Macht ausgeübt gegenüber einem Wesen, das gnadenlos unterlegen ist und sich garantiert nicht wehren kann und wehren wird.
Das Stück setzt hier einen wichtigen Akzent, weil die Geschichte eben nicht im Milieu der sogenannten gesellschaftlichen Randgruppen angesiedelt ist. Der Vater ist Lehrer, Beamter in gutbezahlter Stellung. Kritisiert haben die Betroffenen allerdings, daß, klischeehaft für Täter und Opfer, Vater und Tochter die Schlüsselfiguren des Stückes sind. Nein, es sind auch Freunde der Mütter, Onkels, Opas, Hausmeister und Heimleiter, die zu Tätern werden.

Von den Frauen von „Schattenlicht“ kam an dieser Stelle der Einwurf, es hätten auch Vater-Sohn oder Mutter/weibliche Bezugsperson und Junge sein können. In dem Versuch, ihr eigenes, zwangsläufig pauschalisierendes Männerbild zu verändern, gehen sie sogar noch einen Schritt weiter: wenngleich eine geschlechtlich gemischte Selbsthilfegruppe für die Frauen nicht denkbar wäre, so wurde doch der Wunsch geäußert, einmal ein Gespräch mit einem Jungen oder Mann zu führen, der früher sexuell mißbraucht wurde.
Alle Frauen der Gruppe, die am Gespräch beteiligt waren, haben einen Partner. Das zeigt, wie stark betroffene Frauen an sich arbeiten können, um den Alltag „normal“ zu erleben, auch wenn in den Beziehungen massive, vor allem sexuelle Probleme auftreten.
Allen Opfern gemeinsam ist auch, daß ihnen die furchtbare Wahrheit nicht zur Zeit des Mißbrauchs bewußt wird, sondern erst 10, 20, 30 Jahre später.
Der Schmerz wird schon während der Kindheit empfunden, der seelische noch schlimmer als der körperliche, aber was da passiert, ist dem Kind noch nicht bewußt. Irgendwann gibt es einen Auslöser, ein Schlüsselerlebnis, Phantomschmerzen im Unterleib oder andere psychosomatische Erkrankungen, dann tauchen erste Bilder auf, immer wiederkehrende Träume. Auch das Theaterstück löste bei den betroffenen Zuschauerinnen neue Bilder aus oder verstärkte bereits präsente Vorstellungen. Die Bilder schweben im luftleeren Raum, denn in der Regel werden weder die Mutter noch der Täter diese Ahnungen bestätigen, falls das Opfer die Kraft aufbringt, zu ihnen zu gehen und sie nach der Wahrheit zu fragen. So sind sie weiter alleingelassen, wie zur Zeit des Mißbrauchs, mit ihrem Schmerz klarzukommen. Aber sie können sich auch untereinander helfen, und es gibt beratende und unterstützende Personen und Institutionen, die im Unterschied zum Pastor oder der Ärztin im Stück die Augen und Ohren nicht verschließen.

Bei aller Arbeit an sich selbst, bei aller Unterstützung von außen werden jene, die einmal davon betroffen wurden, ihr Leben lang mit diesen Erfahrungen zu kämpfen haben. Angesichts dieser Tatsache geht es vor allem darum, sexuellen Missbrauch von vorn herein zu verhindern. Die erwachsene Umwelt muß sensibilisiert werden für die lautlosen Hilferufe der Opfer, für jegliche Verhaltensstörungen, die auf den Tatbestand hinweisen können. Und sie muß handeln, Tabus brechen, kein „misch Dich da bloß nicht ein“ mehr, keine angesehenen, „unbescholtenen“ Männer mehr schützen. Niemand darf sich dagegen wehren, durch Verlautbarungen „Schande“ über eine Familie zu bringen, in der doch bereits ein Schandtäter sitzt.
Kann ein solches Theaterstück einen Beitrag zu dieser gesellschaftlichen Veränderung leisten? Wie reagieren die Zuschauer während und nach der Aufführung? Auffällig war, daß (im Gegensatz zu anderen „Skandalstücken“ am Stadttheater) nur einzelne Personen während der Aufführung das Stück verließen, und das vielleicht nur, weil es in dieser realitätsnahen Inszenierung an manchen Stellen psychisch wie körperlich fast unerträglich wurde. Auffällig war auch, daß der männliche Hauptdarsteller, der Vater, im Vergleich zur Tochter-Darstellerin sehr wenig Applaus erhielt. Dabei war er wirklich gut, er hatte eine hervorragende schauspielerische Leistung gezeigt und erschien genau dadurch so widerlich, daß es dem Publikum unmöglich war, sofort von der Rolle auf den Schauspieler zu abstrahieren und ihm ebenfalls stehende Ovationen zukommen zu lassen – das Klatschen erstarb förmlich in der Hand. Den vom Mißbrauch betroffenen Zuschauerinnen gelang diese Abstraktion wiederum, da sie ihre/n konkreten Täter in sich tragen und so während der Aufführung und in der nachfolgenden Diskussion normal mit dem Schauspieler umgehen konnten.
Die Betroffenen haben angefangen, die Nachwirkungen des Stückes auf die Öffentlichkeit zu verfolgen. Abgesehen von den verqueren Äußerungen von Frau Schwarz und Herrn Fetting fiel wenige Tage nach der Premiere eine Zeitungsmeldung auf: Wilhelmshavener Mädchen zeigt ihren Stiefvater wegen sexuellen Missbrauchs an. Aber auch fast zeitgleich eine Meldung: Wegen sexuellen Mißbrauchs Angeklagter wird freigesprochen – dem Opfer wurde wieder mal nicht geglaubt.

Unterhalb der Gürtellinie
fühlte sich die Redaktion getroffen von einer Formulierung, die auf der Rückseite des Faltblattes zum Rahmenprogramm zu „Kalte Hände“ nachzulesen ist:

„Wir danken den folgenden Firmen, Institutionen und Privatpersonen für ihre Unterstützung! NDR, Hamburg … usw. … „und am Schluß: „und den vielen, vielen Vatis und Muttis, die dieses Thema so brisant werden ließen.“

Auch unsere Redaktion bedankt sich im Impressum „bei den vielen Ungenannten, die durch ihre Mitarbeit, durch Informationen oder durch ihre Politik zum Erscheinen dieser Ausgabe beigetragen haben.“ Das ist eindeutig sarkastisch gemeint: nur weil andere Leute irgendwelchen Mist bauen, kann bzw. muß diese Zeitung entstehen und lebendig sein.
Solche Ironie, sich bei den Verursachern eines Problems dafür zu bedanken, dass ein gesellschaftskritisches Stück entstehen kann, wäre gerade beim Thema „sexueller Mißbrauch“ absolut daneben. Wir konnten es uns einfach nicht vorstellen, daß ausgerechnet die Landesbühne, die viele gesellschaftskritische Themen bearbeitet und sich dafür auch noch beschimpfen lassen muß, so ins Fettnäpfchen tritt. Deshalb haben wir direkt bei der Landesbühne nachgefragt. Und siehe da: auch unter den MitarbeiterInnen im Stadttheater entstand eine heftige Diskussion über die Missverständlichkeit der Formulierung, sodaß das Faltblatt schon kurz vor dem Einstampfen stand. Gemeint war allerdings: wir danken den vielen Vatis und Muttis, die dieses Thema öffentlich gemacht haben, indem sie das Schweigen gebrochen haben.
Nach Rücksprache mit vielen, vor allem weiblichen MitarbeiterInnen, fiel der Entschluß, trotz der möglichen Provokation das Faltblatt so herauszugeben. Nach der hausinternen Diskussion war unsere Nachfrage die erste Reaktion von außerhalb. Wer sich außer uns noch gewundert oder empört hat, kann sich nach dieser Richtigstellung wohl wieder mit Herrn Immelmann und seinen Leuten solidarisieren.

Imke Zwoch

Kontakte und Beratung über Beratungsstelle für Jugendliche und junge Erwachsene, Schillerstr. 8, Mo.-Fr. 13-15 Uhr und nach Vereinbarung. Auch: SCHLÜSSELBLUME e.V.: Beratungs-, Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen; Blumenstr.

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