Metallarbeiter
Jun 101991
 

Der Mensch im Mittelpunkt

Eine Buchbesprechung

(noa) Rechtzeitig zum 100jährigen Bestehen der Industriegewerkschaft Metall Anfang Juni publizierte der Historische Arbeitskreis des DGB das Buch „Der Deutsche Metallarbeiter-Verband und die Werft in Rüstringen und Wilhelmshaven zwischen 1918 und 1933“.

Es wäre jedoch verkürzt und würde die Leistung der Autoren Hartmut Büsing, Hermann Linkohr, Ernst E. Neumann, Bernhard Rohde und Otto Schütze herabwürdigen, wollte man das Werk nur als „Beitrag zur Hundertjahrfeier der Industriegewerkschaft Metall“ (wie der Untertitel lautet) vorstellen.
Eine chronologische Aufarbeitung von 100 Jahren Organisationsgeschichte wäre zu umfangreich geworden. Deshalb war sich die Arbeitsgruppe, die sich vor einem Jahr gründete, schnell einig, einen Ausschnitt zu wählen. Und der ausgewählte Zeitabschnitt, die Epoche der Weimarer Republik, zeigt so viele Parallelen zur gegenwärtigen Situation unserer Stadt, daß das Buch gerade jetzt sehr spannend zu lesen ist.
„Auch heute wieder – zum dritten Male in der Geschichte unserer Stadt, doch zum Glück dieses Mal ohne vorangegangenen furchtbaren Krieg – stellt sich die Frage: Was wird mit den Marine- und Werftbeschäftigten und ihren Familien, was aus unserer Stadt und ihren Bewohnern, wenn die Bundeswehr und mit ihr die Marine zahlenmäßig halbiert werden?“ (aus der Einleitung)
Schon im Gründungsvertrag waren Wilhelmshaven und Rüstringen auf eine Rolle als Kriegshafen festgelegt worden, indem auf den Ausbau als Handelsstadt ausdrücklich verzichtet worden war. Die wirtschaftliche Monostruktur hat in der Geschichte zu einem immer wiederkehrenden Auf und Ab geführt.
In der Zeit der Weimarer Republik waren es die Reparations- und Abrüstungsforderungen des Versailler Vertrages, die den Lebensnerv der Jadestädte trafen, und das in einem Ausmaß, das wir uns heute kaum vorstellen können. Ersatzarbeitsplätze mußten geschaffen werden. Auf der Marinewerft als dem größten Arbeitgeber wurden Fischdampfer statt Kriegschiffe gebaut, und Waschautomaten, Heizplatten und Bügeleisen erweiterten die Produktpalette. Dennoch „wurden wichtige wirtschaftliche Impulse für eine Dauerumstellung der Industrie Wilhelmshaven-Rüstringens auf zivile Produktion häufig schon im Keim erstickt. Denn trotz relativer Abwertung und Einschränkung des Militärs war man in Regierungskreisen zweifellos daran interessiert, einen Grundstock der Marine für zukünftigen ‚Ausbau zu alter Größe‘ zu erhalten.“ (S. 20) Und noch etwas wiederholte sich später wieder: Die Jadegemeinden beteiligten sich direkt und massiv an Wirtschaftsförderung und Firmengründungen und fuhren erhebliche Verluste ein.
gw101_buch1Ein anderer Versuch, den wirtschaftlichen Niedergang zu verhindern, war der Fremdenverkehr. Der Beiname „grüne Stadt am Meer“, den Wilhelmshaven jüngst zugunsten des Logos „Wilhelmshaven. setzt Zeichen“ verloren hat, stammt (wie das Seewasseraquarium) aus der Zeit nach dem 1. Weltkrieg.
All diese Maßnahmen konnten die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage nicht verhindern, wovon die stetig steigenden Arbeitslosenzahlen zeugen. Damals schon sollte eine Verkürzung der Arbeitszeit ein Ansteigen der Arbeitslosenzahlen verhindern. In der Revolution von 1918 war der 8-Stunden-Tag eingeführt worden; 1930 erhob die Gewerkschaft die Forderung nach dem 7-Stunden-Tag (bei 6-Tage-Woche), und ab 1931 ging es in Wilhelmshaven-Rüstringen um die gesetzliche Einführung der 40-Stunden-Woche. Demgegenüber gelang es den Arbeitgebern, die Verlängerung der Arbeitszeit auf neun Stunden täglich durchzusetzen.
Die Lebensverhältnisse waren für einen großen Teil der Bevölkerung unvorstellbar elend. Die Arbeitslosenunterstützung war so gering, daß viele Erwerbslose zusätzlich Wohlfahrtsunterstützung bezogen, aber trotzdem nicht auskamen. Bei einer wöchentlichen Arbeitslosenunterstützung von 18,53 Mark und einem Wohlfahrtszuschuß von 5 Mark rechnet ein Arbeitloser mit Frau und einem Kind seine Ausgaben für Lebensmittel, Haushaltskosten, Körperpflege, Bekleidung und Miete zusammen und kommt zu dem Fazit: „Die fehlenden 6 Mark werden im Augenblick noch durch frühere Ersparnisse gedeckt, aber wie lange noch, und es heißt: Der Hungerriemen muß noch enger geschnallt werden!“ („Volksblatt“ vom 22.1.1931.) (S. 86)
gw101_buch2Daß auch die in Lohn und Brot Stehenden nicht auf Rosen gebettet waren, zeigen Vergleichszahlen: Ein Ungelernter bekam knapp das Doppelte, ein Gelernter etwas mehr als das Doppelte wie der Arbeitslose. Im Dezember 1931 lebte dann jeder fünfte Einwohner Rüstringen-Wilhelmshavens von der Fürsorge.
Angesichts der während der ganzen Weimarer Zeit prekären wirtschaftlichen Lage befand sich die SPD ideologisch in derselben Zwickmühle wie gegenwärtig: „Während ihre Philosophie auf den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ruhte, Solidarität und proletarischer Internationalismus Fundamente ihrer Gedankengebäude darstellten, sie ebenfalls bestrebt waren, diszipliniertes Teil der Gesamtpartei zu bleiben, war andererseits für die S’PD in Wilhelmshaven und Rüstringen die Notwendigkeit gegeben, für Kriegsschiffunterhaltung und Kriegsschiffbau einzutreten. (…) Die Reichspartei nahm hier… eine ‚komplizierte‘ Haltung ein, hatte sowohl Taktik als auch Prinzipientreue auf ihre Fahnen geschrieben.“ (S. 28)
„Der Mensch sollte im Mittelpunkt stehen“, so beschrieb Mitautor Ernst E. Neumann bei der Vorstellung des Buches eine Intention der Verfasser. Der Mensch als Subjekt und Objekt von Geschichte – in den meisten Geschichtswerken taucht er bestenfalls in Person eines „bedeutenden Staatsmannes“ auf. Die Verfasser solcher „üblicher“ Geschichtsbücher interessieren sich folglich auch nicht für die Beiträge „derer da unten“ zur Kultur. (Verfasserin unterrichtet seit Jahren Geschichte nach unterschiedlichen Lehrbüchern und hat in diesem Zusammenhang als kulturelle Leistungen der Weimarer Zeit z.B. Abbildungen von Skulpturen bedeutender Bildhauer kennengelernt oder Sätze wie „Viele deutsche Dichter, Musiker, Maler und Bildhauer jener Zeit waren in der ganzen Welt hoch angesehen“ gelesen.)
gw101_buch4Die Autoren dieses Buches legen bei der Betrachtung der Arbeiterkultur in den Jadestädten einen anderen Kulturbegriff zugrunde: „Kulturbetrachtung im ursprünglichen Sinne zwingt also zur Berücksichtigung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der bei weitem überwiegenden Mehrzahl unserer Vorfahren am Orte. Es wäre im wahrsten Sinne un-menschlich, wollte man sich über Arbeitsergebnisse, gleich welcher Art, auslassen, gleichzeitig die Menschen, die sie tätigten, und die Verhältnisse, unter denen sie getätigt wurden, keines Wortes würdigen.“ (S. 122)
Der Deutsche Metallarbeiter-Verband war in diesem Sinne (wie die anderen Gewerkschaften) Träger kultureller Leistungen wie Bestandteil der Arbeiterkultur überhaupt. Die Organisationen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung nahmen damals (es gab noch kein Fernsehen!) viel umfangreichere Aufgaben wahr, als wir es heute von unseren Gewerkschaften kennen. Im Buch ist beispielhaft der Terminkalender der „Arbeiterjugend Rüstringen“ vom Juli 1920 wiedergegeben, der über Versammlungen und Bezirksleitertreffen hinaus eine Vielzahl von Aktivitäten wie Wanderungen, Spiele, Musikübungen, Sport usw. ausweist.gw101_buch3
Die Bevölkerung Wilhelmshaven-Rüstringens gründete eine Vielzahl von Vereinen, Gruppen und Organisationen zur gegenseitigen Unterstützung, sportlichen Betätigung, Freizeitgestaltung, politischen , musischen und literarischen Bildung, Gesundheitsfürsorge usw. „Kultur ist alles: Essen und Trinken, Kleidung, Wohnung, Umwelt und Stadt, Umgang und Philosophie, Zurückdrängung der Lohnarbeitszeit, Arbeit für alle in menschenwürdigen Arbeitsplätzen und -tätigkeiten, gerechte Besitzverhältnisse, Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen, Erziehung, Muße und Erbauung, schöpferisches Tätigsein, Frieden. In der Rüstringer und Wilhelmshavener Arbeiter-Kulturbewegung wurde der ‚Stempel der Zeit‘ (Murken) geschnitten, hier bildete sich der ‚Typus des Wilhelmshavener Menschen‘ heraus. Seine Traditionen, die an die besten humanen und demokratischen Bestrebungen unseres Volkes anknüpfen und sie fortführen, sind es wert, bewahrt zu werden.“ (S. 139) Dies Buch ist ein lesenswerter Beitrag dazu. Es ist bei der IG Metall und in den Wilhelmshavener Buchhandlungen erhältlich.

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