Film ab – Hut ab!
Maritime Filmtage mausern sich zum Highlight Wilhelmshavener Kulturgeschehens
(iz) Schon länger her, aber trotzdem berichtenswert sind die 5. Wilhelmshavener Filmtage, die Ende September/ Anfang Oktober in der Jadestadt abliefen . Form und Inhalt dieser Veranstaltung werden mit jedem Mal professioneller. Wer sich diesem Augen- und Ohrenschmaus fünf Tage lang hingibt, läuft Gefahr, süchtig zu werden.
Ehe die zahlreichen Filmfans sich dem Rausch hingeben konnten, hatte sich das zehnköpfige Filmtageteam die Vorauswahl aus mehreren hunderten eingereichter Filme nicht leicht gemacht – und das an den heißesten Tagen des Jahres. Die 61 Favoriten wurden in neun Blöcke eingeteilt, die abwechselnd im Apollo und im Pumpwerk (mit liebevoll zum Kinopalast umdekorierter Halle) gezeigt wurden.
Die Vorführungen waren so eingeteilt, daß Hartgesottene (mit Hilfe des Programmheftes, das wieder sehr ansprechend und übersichtlich von Torsten Wieland gestaltet wurde) alle Veranstaltungen „mitnehmen“ konnten, ohne etwas zu verpassen. Ein kostenloser Shuttle-Bus ermöglichte pünktliches, umweltfreundliches und kommunikatives Pendeln zwischen den Aufführungsorten.
Wer damit noch nicht bedient war, konnte sich zwischendrin bei Sonderprogrammen noch viereckige Augen holen: Filme der berühmten Filmhochschule in Lodz/Polen; eine Hommage an Georg Stefan Troller, den „Altmeister des Fernsehdokumentarfilms“ (der eigens angereist war); „Auge um Auge“, ein Spielfilm über die Probleme von Asylanten in Deutschland, mit anschließender Diskussion mit dem Regisseur, Vertretern des AusländerInnenbeirates der Stadt und der Diakonie; sowie: „Special Guest: Oscar“ – neun göttliche Kurzfilme, die bereits mit dem Oscar ausgezeichnet wurden oder dafür nominiert waren.
Wer sich nicht aufs Zugucken beschränken wollte, konnte vormittags an verschiedenen Werkstätten mit Profi-Filmleuten teilnehmen, darunter auch Stefan Troller.
Aktive Teilnahme des Publikums war ohnedies angesagt. Neben der international besetzten Fachjury (Leitung: Oksana Bulgakowa) gab es wieder die Publikumsjury: je Aufführungsblock konnten 10 ZuschauerInnen anhand brauchbarer Kriterien jedem Film eine Punktzahl zuteilen. Zusätzlich beteiligte sich auf eigene Initiative eine zehnköpfige SchülerInnenjury der Cäcilienschule. Das Qualitätsniveau lag diesmal so hoch, daß die Wahl zur Qual und die Abschlußveranstaltung mit Bekanntgabe der PreisträgerInnen sehr spannend wurde.
Die Fachjury hatte sich für drei Filme zum Thema „Liebe, Tod, Sexua1ität“ entschieden. Den Hauptpreis „Eisenstein“ teilten sich:
- „Cats Cradle“ . eine surreale australische Komödie über die Probleme einer Familie, ihren verstorbenen Vater zu beerdigen – kurz, komisch und in schwanweißen Bildern aufs Wesentliche reduziert – nur: die Idee ist nicht neu und schon mehrfach geklaut worden. In Literatur und Film gab’s bereits einige Leichen, deren Entsorgung anderen Probleme und dem Publikum Lachkrämpfe bereitete, tote Henrys, Harrys oder die Pseudo-Leiche aus flauschigem Vinyl in Tom Sharpes „Puppenmord“. Da ist es schon ein bißchen schade, trotz der schönen Bilder bzw. Kameraführung, wenn andere Filme mit eigenen Ideen dahinter zurückstehen müssen.
- „Portrait of a boy with dog“ (ein Favorit der inoffiziellen GEGENWIND-Jury): Dokumentarfilm über den 13jährigen Gosha, den die Filmemacher, zwei Austauschstudenten an der Moskauer Filmhochschule, dort kennengelernt haben. Gosha, von seinen Eltern verlassen, lebt in einem Heim und berichtet schockierend trocken über Autoritäten, seine Langeweile, seine Träume und Hoffnungen. Das Publikum wird in die Berg- und Talfahrt zwischen kindlicher Hoffnung und brutaler Hoffnungslosigkeit hineingerissen. Fast gibt es ein Happy-End: ein alleinstehender Mann will Gosha adoptieren und gibt sich als liebevoller Onkel.
Am Ende entlarvt ihn der Junge, dessen Seele längst nicht mehr kindlich ist, als sehr bösen Onkel: „Ich will diese Dinge nicht mit ihm machen, denn ich möchte ein richtiger Junge bleiben.“ Der Film ist weniger unterhaltsam als herausfordernd, anstrengend; die Realität wird nicht beschönigt und nicht überzeichnet, sie genügt sich – leider – selbst als Vorlage. Hier hat die Jury ins Schwarze getroffen.
Als eigenständiger, poetischer Film erhielt den Spezialpreis „Sleepy Haven“, angekündigt als „erotischer Tagtraum“ eines Matrosen – eine Aneinanderreihung maritimer Sequenzen in bleu, denen Auge und Seele eigentlich nur mit Hilfe bewußtseinserweitender Drogen folgen können. Auch durch untermalendes Meeresrauschen und knappe Einblendungen männlicher Geschlechtsteile am Ende von langen 14 Minuten wurde der Film nicht erotischer. Vielleicht sollten wir eine Jury aus Seeleuten befragen. Hier schien jedenfalls die Diskrepanz zwischen dem Geschmack des interessierten Publikums, das mit verhaltenem Applaus reagierte, und dem hohen, experimentell orientierten künstlerischen Anspruch der Fachjury am größten zu sein. Trotzdem: „Sleepy Haven“ gehörte zu mehreren Filmen, die nach den Filmtagen für weitere Aufführungen angekauft wurden.
Die SchülerInnenjury entschied sich für „One way ticket to Oblivion“ der Niederländerin Colette Bothof. Die Story: blindes Hippiemädchen trifft taubstummen Motorradfahrer; Liebe und Verständigung funktionieren über die Tastsinne und vor allem den sechsten Sinn. Am Ende geschieht ein Wunder: das Mädchen, erblindet durch eine Vergewaltigung, die sie vor ihrem inneren Auge grausam verfolgt, erlebt zärtlichen Sex mit dem Taubstummen und kann durch dieses zweite Schlüsselerlebnis wieder sehen.
Ein wirklich schöner Film, auch beim zweiten Mal schön anzusehen, einfach ein Märchen mit Happy End – nein, nur fast: als das Mädchen ihren Lover erblickt (der eigentlich gar nicht so übel aussieht), läuft sie vor ihm davon – er war ihr nur nützlich, solange sie ihre Unzulänglichkeit geteilt haben. Jetzt ist sie „normal“, und der Behinderte wird zurückgestoßen. Welch tiefschürfende Erkenntnis. Schicksalsroman auf Bravo-Niveau. Das soll bei weitem nicht heißen, daß nur ernsthafte „Problemfilme“ anerkennenswert sind. Bei dem Wust an Seifenopern, die uns heutzutage verblöden sollen, sind wirklich gute Unterhaltungsfilme, die mehr das Gefühl als den Intellekt ansprechen, wirklich nötig. Nur Unterhaltung? Wenn der Film ein Problem aufarbeiten will, dann weniger die Tatsache, daß liebende einander unvermittelt verlassen oder daß Behinderte immer den Kürzeren ziehen, sondern das traumatische Erlebnis einer Vergewaltigung. Und das ist schade: dieses Problem ist zu ernsthaft, um es dermaßen zu verkitschen. Es mag symbolisch gemeint sein – daß ein zärtlicher Lover einer Frau helfen kann, die schrecklichen Erinnerungen einer Vergewaltigung verblassen zu lassen, aber sie ungeschehen zu machen; wie durch ein Wunder, passiert leider eben nicht. Nebenbei erinnert die Figur der Blinden, hoffnungslos, verwildert, ungepflegt, aber trotzdem immer schön und sexy, freakig, durchtrieben, sehr stark an die Streunerin in Agnes Vardas „Vogelfrei“, die, allerdings weniger überzeichnet und glorifiziert, gleichfalls Sehnsüchte und Hoffnungslosigkeit der Jugendlichen widerspiegelt.
Bei aller ehrlichen Anerkennung für die SchülerInnenjury für die Ernsthaftigkeit und Ausdauer, mit der sie ihre Aufgabe wahrgenommen haben, sind sie ein bißchen eben vom Herz-Schmerz á la Bravo-Schicksalsroman überrumpelt worden.
Der Favorit der Publikumsjury (und auch ein Favorit der Redaktion) war schließlich „Jagdzeit“. Der Film des Schweizers Rolando Colla erzählt von fünf jungen Rechtsradikalen, die Jagd auf Fremde machen – und wie einer erlebt, wie er selbst zum Fremden werden kann. Colla gelingt es, ein leider sehr aktuelles Thema kompakt und unterhaltsam, aber immer der Ernsthaftigkeit des Problems angemessen rüberzubringen.
Die Lebendigkeit dieses Filmfestivals, der enge und aktive Kontakt zwischen Veranstaltern, Filmemachern und Publikum, wurde am Schluß sehr deutlich symbolisiert: „Jagdzeit“ war gerade im letzten Block gelaufen und sollte deshalb nicht, wie alle anderen prämierten Filme, nochmals gezeigt werden – doch das Publikum, nach vier Tagen immer noch nicht ermüdet, bestand trommelnd und pfeifend darauf, seinen Lieblingsfilm nochmals anzuschauen.
Alles in allem: Hut ab vor dem Filmtageteam! Das sind: Stefan Leimbrinck, Hartmut Wiesner, Christiane Lange, Katja Gohe, Michael Kundy, Torsten Wieland, Marion Hoffmann, Olaf Gräber, Susanne Degener (Ministerium für Wissenschaft und Kultur) und Volker Steinkopff (Uni OL).
Des Vertreter des Niedersächsischen Kultusministeriums (Filmreferat), Jochen Coldewey, erklärte auf der Abschlußveranstaltung mit Nachdruck, daß er sich in zwei Jahren nachdrücklich für die Filmtageförderung einsetzen wird. Hoffentlich fühlt sich OB Menzel, der sich auch für die Fortführung dieses „kuscheligen Festivals“ aussprach, unter Zugzwang gesetzt – trotz der erheblichen Kürzungen, die den Wilhelmshavener Kulturetat bedrohen, nach Zusage der Landesmittel durch Sicherung der städtischen Zuschüsse die 6. Maritimen Filmtage 1996 festzuklopfen! Der(Image)Verlust dieser mittlerweile international renommierten Veranstaltung wäre nicht zu verantworten.
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