Kerzenhalter gesucht
Nach den Lichterketten: Wo bleibt der Widerstand gegen rechtsradikale Stehaufmännchen?
(iz/antifa) „Das gibt’s sonst nirgendwo in Deutschland, das gibt’s nur in Wilhelmshaven, daß sich 250 Rechtsradikale ungestört versammeln können“, triumphierte am Abend des 19. November 1994 Thorsten de Vries. Sollte er recht behalten? An diesem Samstagabend trafen sich über 200 Neonazis am Börsenplatz und tummelten sich in der Innenstadt, ohne daß Polizei oder Öffentlichkeit etwas dagegen unternahmen.
Seit Anfang Oktober formieren sich die Neonazis wieder mal in Wilhelmshaven. Thorsten de Vries, Zentralfigur der norddeutschen Stiefelfaschisten, hatte während seiner Gefängnisstrafe noch Besserung und Abkehr von der Szene gelobt. Kaum war er entlassen, wurde er am Abend des 1. Oktober mit 60 bis 100 Gesinnungsgenossen auf dem Börsenplatz gesichtet. Anlaß der Versammlung war ein „Konzert“ im Lokal „Heimliche Liebe“. Zum friedlichen Konzert der „Kelly Family“ hatten sich die Wilhelmshavener am Nachmittag scharenweise eingefunden. Am Abend hatten die Neonazis, abgesehen von 15 Polizisten, die nicht aktiv wurden, den Börsenplatz für sich. Einige Dutzend AntifaschistInnen, die sich spontan eingefunden hatten, konnten das Treiben von weitem nur beobachten, um nicht die Knochen zu riskieren. Anschließend verteilten sich die Faschisten in die Gaststätten „Tollhaus“ und „Kogge“. Keine der Kneipen erteilte den Neonazis Hausverbot oder verwies sie der Örtlichkeiten.
Eine Woche später wurde in Fedderwardergroden eine Punk-Party Ziel eines Angriffs von Neonazis. Mehr als 20 vermummte und bewaffnete Faschos stürmten das Haus. Erfolglos bearbeiteten sie Tür und Dachfenster. Das Polizeirevier befindet sich praktisch nebenan. Eine Stunde lang belagerten die Angreifer den Raum, bis die Polizei eingriff und die Neonazis vertrieb, die zwischenzeitlich die Fahrräder der Partygäste demolierten.
5 Wochen später fand das eingangs erwähnte Treffen auf dem Börsenplatz statt. Aufhänger war wiederum ein Konzert in der „Heimlichen Liebe“. Eine einzige Zivilstreife war während des mehrstündigen Spektakels zugegen sowie Beobachter des politischen Kommissariats (K7). Nach Polizeiangaben war später eine Hundertschaft präsent. Weder die anwesenden Polizisten noch einige Dutzend AntifaschistInnen, die sich in der Stadt zusammengefunden hatten, hätten etwas gegen gewaLichterketten oder lttätige Übergriffe gegen Asylbewerberlnnen-Heime o. ä. ausrichten können.
In der WZ war nichts von alledem zu lesen. Einzig das „Jeversche Wochenblatt“ berichtete unter dem Titel „Rechtes Rockkonzert unter Polizeischutz“: … „Die Polizei ging mit zivilen und uniformierten Beamten im Bereich der Gaststätte auf Streife, weil Störaktionen der ‚linken Szene‘ (!) befürchtet wurden …“
Unlängst wurde im Stadttheater das Musical“ Cabaret“ aufgeführt: Dort amüsiert sich im Berlin der 30er Jahre das Publikum, teils unbefangen, teils wissend, aber ignorant oder billigend angesichts des mörderischen Spektakels, das derweil außerhalb der Mauem des Amusements stattfindet. Am Abend des 19.11.94 sitzen viele WilhelmshavenerInnen im „Spectakel“ und schwelgen im Genuß einer Premiere, die soeben im „Jungen Theater“ aufgeführt wurde. Die Nähe zwischen kultureller Fiktion, die letztlich eine vergangene Realität abbildet, und der Gegenwart scheint gespenstisch. Wieder braut sich, nur wenige hundert Meter entfernt, in den ansonsten menschenleeren Straßen der Jadestadt das braune Unheil zusammen, und keiner will etwas gesehen haben. Diejenigen Theaterbesucher, die davon erfahren, beschränken sich auf betroffene Blicke und die Feststellung, nun müßten sie wohl besser mit dem Taxi nach Hause fahren …
Wer sich in Gefahr begibt kommt darin um. So lautet eine alte und immer noch gültige politische Weisheit.
250 Neonazis dürfen sich in Wilhelmshaven versammeln. Hilflos stehen ein paar· Dutzend aufrechte AntifaschistInnen da und warten, warten auf die Hunderte und Tausende. die sich Anfang letzten Jahres mit Kerzen und Fackeln zusammenfanden, in vielen deutschen Städten wie in Wilhelmshaven, auf genau dem gleichen Börsenplatz. wo jetzt die braune Bedrohung Gestalt annimmt. Wo waren sie, die Massen, die damals aufmarschierten, um ihre Solidarität mit unseren ausländischen MitbürgerInnen und ihre Abscheu gegen Faschisten laut und. beifallsträchtig zu demonstrieren? Wo waren sie? Im Theater, in der Kneipe, vorm Fernseher, in der warmen Stube. Und die Neonazis warten geduldig ab, bis der Hass der Masse sich zu weichem Wachs gewandelt hat.
Kalt wird es werden in Deutschland, wenn sich die ach so aufrechten BürgerInnen fortan am heimischen Herd auf ihren Lippenbekenntnissen ausruhen. Sie alle haben sich zu Kerzenhaltern degradiert
Imke Zwoch
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