Leonce und Lena
Okt 312001
 

Das Büchner-Experiment

Wie die Landesbühne “Leonce und Lena“ interpretiert

(iz) Selten ist die Theaterkritik so gespalten: Dicker Daumen nach oben in der WZ, Daumen senkrecht nach unten in der NWZ für Andreas Nathusius‘ Inszenierung von „Leonce und Lena“ in Wilhelmshaven. Wir werfen einen Blick in die Geschichte, um herauszufinden, welche Einschätzung richtig sein könnte und in welche Richtung der GEGENWIND-Daumen zeigen muss.

Georg Büchner zählt neben Heine, Grabbe, Freiligrath u. a. zu den Autoren des „Jungen Deutschland“ bzw. des „Vormärz“ (1830-48). Alle verfassten revolutionäre, politisch engagierte Literatur, die sich gegen den späten Absolutismus richtete. 1835 wurden die jungdeutschen Schriften verboten.
Nur 23jährig verstarb Büchner 1837 im Schweizer Exil an Typhus und hinterließ, neben der Novelle “Lenz“, gerade mal drei Bühnenstücke. Leonce und Lena war erstmals 1895 in München zu sehen. Noch 1891 wurde ein Magdeburger Journalist nach Abdruck von Danton’s Tod wegen “Verbreitung unzüchtiger Werke“ zu vier Monaten Gefängnis verurteilt (Uraufführung 1902, Volksbühne Berlin, Woyzeck 1913, Residenztheater München).
Die einzige literarische Schrift, die Büchner zu Lebzeiten zu (lebensbedrohlicher) Berühmtheit verhalf, war das revolutionäre Flugblatt “Der hessische Landbote“, das 1834 illegal gedruckt und verteilt wurde. Im gleichen Jahr gründete Büchner die geheime „Gesellschaft der Menschenrechte“. Nur die Flucht nach Straßburg und später nach Zürich rettete ihn vor dem Schicksal seiner politischen Gefährten, die im Gefängnis dahinvegetierten oder jämmerlich umkamen.
Wesentlich für das Verständnis von Büchners Denken, Anliegen und Werk sind zahlreiche erhaltene Briefe an seine Familie und Freunde.
Dass der ernsthafte, von den Verhältnissen erschütterte Autor “Leonce und Lena“ als Komödie anlegte, hat einen tieferen Sinn. Die Urfassung entstand als Beitrag zu einem Wettbewerb des Cotta-Verlags. Gefragt war ein Lustspiel in zwei Akten, das Büchner vermutlich in einem Monat runtergeschrieben hat. Trotzdem verfehlte er um zwei Tage den Einsendeschluss und damit die Aussichten auf die erhofften 300 Gulden Preisgeld. In seiner späteren Überarbeitung nutzte Büchner die selbe literarische Form, um hinter vordergründig absurd-unterhaltsamen Texten den sozialpolitischen Sprengstoff zu verstecken, dessen unverblümte Offenbarung ihn Kopf und Kragen gekostet hätte.
Regisseur Andreas Nathusius hat nun verschiedene Experimente mit dem Stoff angestellt. Zunächst mal wollte er das Stück in die Moderne übertragen. Inhaltliche Ansätze gab es da genug, befinden wir uns doch im Zeitalter des Neo-Absolutismus, wo Fürst Gerhard Schröder und sein Staatsrat Otto Schily einsam entscheiden, in ihrem Sinne und nicht dem des Volkes, was gut und was böse und wie letzteres zu bekämpfen ist. “Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ (Hessischer Landbote) war die Durchhalteformel von Demonstranten, die in den 1980er Jahren gegen umweltzerstörende Großprojekte antraten. Nathusius beschränkt sich jedoch auf die Form: Moderne Kostüme (diese Aufgabe hat Pia Wessels kreativ gelöst) und moderne Musik. Das geht ohne inhaltlichen Bezug ins Leere. Und so sprechen auch die Darsteller ihren Text ins Leere, als hätten sie ihn gerade notdürftig auswendig gelernt, ohne ihn zu verstehen. Nathusius will damit zeigen, wie sich die Protagonisten hinter Worthülsen verstecken, die keinerlei Bedeutung haben. In Büchners Verständnis sind die Texte somit vergeudet; die Darsteller müssten sie sich Wort für Wort auf der Zunge zergehen lassen, um dem Publikum die frühkabarettistisch verpackte Botschaft zu erschließen.
Zum zweiten hat Nathusius die Komödie in ein depressives Schauspiel (“ohne Schenkelklopfen“) verwandelt. Bei ihm ist Leonce nicht mehr die adelige Witzfigur, sondern ein bemitleidenswerter James Dean des Retro-Biedermeier. Auch hier wurde Büchner völlig verkannt. In seinem Sinne inszeniert und verstanden, sind gerade die Lacher von Bedeutung, weil sie irgendwo im Halse stecken bleiben.
Zum dritten steht bei Nathusius nicht die Gesellschaft, sondern der Einzelne im Mittelpunkt, gequält von Langeweile in der modernen Spaßgesellschaft. Langeweile und Fremdbestimmtheit quälen auch Büchners Urfiguren – nur in einem völlig anderen Kontext. Die Besetzungsliste wurde um die Hälfte gekürzt. Übrig bleiben König Peter, Prinz Leonce, sein Diener Valerio, Prinzessin Lena, ihre Gouvernante und die Kurtisane Rosetta . Es fehlen die Hofmeister, Staats- und Landräte, Prediger, Schulmeister – die Honoratioren eben, die zum eigenen Wohl dafür sorgen, dass der debile Adel weiter an der Macht bleibt. Und es fehlen die Komparsen, das arme Volk, um das es Büchner eigentlich geht – wie auch die Schlüsselszene, in der die Bauern gezwungen werden, ihre Unterdrücker hoch leben zu lassen.
Besonders glücklich wirken die Darsteller nicht mit der Vorgabe des Regisseurs, die herausfordernden Texte gelangweilt runterbeten zu müssen. Wohltuende Ausnahme ist Stefan Ostertag als König Peter, der als einziger wirklich präsent wirkt. Er konnte sich mit seiner Idee durchsetzen, aus den zusätzlichen Fragmenten, die Büchner zum Stück hinterlassen hat, eine Szene mit zwei Polizisten aufzunehmen, die er hinreißend und bedeutungsvoll als Hand- und Fußpuppenspiel zelebriert. Zudem schafft er es, die gestrichenen Nebenrollen indirekt in seinen Monologen wiederzubeleben – was belegt, dass sie eigentlich unverzichtbar sind. Dass Ostertag sich deutlich an Peter Ustinovs Darstellung des debilen Kaiser Nero in Quo Vadis orientiert, ist völlig angemessen.
Auch Philipp Kiefers Bühnenbild trägt etwas zur Rettung der Inszenierung bei. Im ersten Teil spielen die Akteure vor einer gepolsterten Wand, gegen die sie gefahrlos anrennen können wie Irre in der Gummizelle. Im zweiten Teil klappt sie nach hinten, ist der gefährlich unbekannte Boden der Freiheit, auf dem der entflohene Prinz umherirrt und sich dabei schon mal den Kopf einrennt.
BüchnerWie der Regisseur, muss auch der begeisterte WZ-Kritiker (“meistens trefflich bis genial umgesetzt“ … “Regieprinzip wäre im Sinne des Autors gewesen“) Büchner missverstanden haben: “In ‘Danton’s Tod‘ … erfahren wir, wie die Revolution ihre eigenen Kinder verschlingt. In ‘Leonce und Lena‘ setzt Büchner an der Wurzel an und will wissen, wer diese Kinder überhaupt sind.“ Äh – NEIN. Diese (adligen) Kinder, auserwählt, die Unterdrückung des Volkes fortzuführen, hat Büchner nun gerade nicht gemeint.
“Nathusius hat Büchner radikal in die Bild- und Bewusstseinwelt des 21. Jahrtausends transferiert.“ (WZ) (Ganz so weit sind wir noch nicht – gemeint ist wohl das 21. Jahrhundert.) “Radikal“ ist durchaus zutreffend, nur ist es im Sinne der radikalen Linken, der Büchner zuzurechnen ist, keine Transformation, sondern eine radikale Amputation. “164 Jahre später“ (nach Büchners Tod) “hat man nun sein Stück in Wilhelmshaven gründlich missverstanden.“ (NWZ).
Dramaturgin Carola Hannusch war im Vorfeld klar, dass die Inszenierung auch das Publikum spalten würde: Premierenbeifall wurde “von einzelnen Zuschauern lautstark und beharrlich gespendet“ (NWZ), viele behielten verlegen die Hände im Schoß.
Wohin zeigt nun unser Daumen? Unterm Strich ist Nathusius‘ Experiment in die Hose gegangen, die Prinzipien und Zusammenhänge, die Büchners Stück zu Grunde liegen, gänzlich umzumodeln. Vor allem ist ihm übel zu nehmen, dass er ein gesellschaftskritisches Stück aus einer bedeutenden geschichtlichen Epoche dermaßen entpolitisiert hat.

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