Landesbühne statt Labskaus
Die Premieren der Landesbühne im September 2001
(iz) Für die einen ist ein Labskausessen die größte Kulturveranstaltung des Jahres, für andere ein Grund mehr, Wilhelmshaven den Rücken zu kehren. Intendant Gerhard Hess tröstete die derart „Kultur“geschockten, sie sollten doch mal einen Blick ins Programm der Landesbühne riskieren. Was die ersten Premieren der neuen Spielzeit angeht, können wir sagen: Ein guter Tipp.
„Verbrechen und Leidenschaft“ ist ein eher unbekanntes Stück aus der Shakespearezeit – mit dem bekanntem Handlungsrahmen eines verknoteten Beziehungsgeflechts: Beatrice liebt Alsemero, soll aber Piracquo heiraten. Unmöglich, sich gegen den Willen ihres Vaters und die gesellschaftlichen Normen ihrer Zeit aufzulehnen. Auf die Idee, mit dem Geliebten durchzubrennen – und damit auch den engen, aber behüteten Kerker der feinen Gesellschaft zu verlassen -, kommt die äußerlich sanfte Jungfer nicht. Statt dessen meint sie, die am Hof üblichen widerlichen Machtspielchen nur dies eine Mal selbst nutzen zu können: Ihr ergebener Diener de Flores soll den ungewollten Bräutigam aus der Welt schaffen – was auch klappt, aber weitere Entwicklungen ins Rollen bringt, die sie nicht mehr steuern kann … Die Parallelhandlung spielt in einem Irrenhaus, in das sich zwei Höflinge einweisen ließen – aus Liebe zur knackigen Arztgattin. Beide Handlungen spielen auf dem gleichen schrägen, surrealistischen Bühnenbild, nur durch Lichtwechsel ändert sich die Location zu Schloss oder Irrenhaus. Unterm Strich ändert sich nichts: Auch die Insassen der Anstalt sind „behütet“, so lange sie sich den grausamen Spielregeln unterordnen; auch die feinen Leute am Schloss sind nur Marionetten grausamer Puppenspieler, nur dass die Zwangsjacken und Ketten, die sie an der Flucht hindern, nicht real, sondern in ihrem Denken verinnerlicht sind.
Die Inszenierung des Irrenhauses stiehlt den Protagonisten im Schloss die Schau. Die ironisch zelebrierte Grausamkeit z. B. einer „Gehirnwäsche“ ist zum Brüllen komisch: Ist die angekündigte Tragödie nicht doch eine Komödie? Das macht alles nichts, zumal es wohl eher gewollt ist: Es ist eine Frage der Sichtweise, wo die Grenzen zwischen den klassischen Formen des Dramas verschwinden. Zu viele klassische Dramen beschränken sich auf die Feinanalyse „edler“ Charaktere – statt sie mal grundsätzlich in Frage zu stellen. Nein, Beatrice ist gar nicht nur lieb, aber sofort das heulende Elend, wenn andere – z. B. ihre Zofe, die sie für ihre Intrigen einspannt – nicht ständig Rücksicht auf ihre Gefühle nehmen. Sibylle Henning hätte diesen zwiespältigen Charakter differenzierter ausspielen können (es war ihr erster Auftritt im Ensemble, den sie trotz einer Verletzung selbst übernehmen wollte). Umgekehrt ist de Flores (brillant: Oliver Schirmer!) nicht nur ein Arschloch, sondern der einzige Mann, der Beatrice wirklich kennt und so liebt, wie sie ist – und sich für ihre jahrelange Arroganz rächt. Und alle miteinander sind sie reif für die Klapsmühle.
Ein sehenswerter Klassiker, der bis zum Ende nicht an Spannung verliert.
Premiere am 1.9., noch zu sehen am 23.10. (Stadttheater)
„Warum trägt John Lennon einen Rock?“ Ja, warum? War er doch ein Schotte? Nein, er ist weder Lennon noch überhaupt ein Er. John ist, als ihre Geschichte beginnt, ein englisches Schulmädchen, die zusammen mit drei frechen Freundinnen ihren Spaß hat. Bis ihnen die Pubertät in die Quere kommt. Schon Röcke sind John ein Greuel – unmöglich, darin rumzutoben, ohne die aufgezwungene „Anständigkeit“ zu verletzen; und jetzt soll sie sich auch noch schminken oder sonst was „aus sich machen“. Grässlich.
Nicht, dass John kein Interesse am anderen Geschlecht hätte. Etliche Ex-Freunde zählt sie auf –deren Vorstellungen sie nicht entsprechen konnte und wollte – und vor allem umgekehrt ebenso!
Bei allem Selbstbewusstsein hat John jedoch die Welt und sich nicht ganz begriffen. Wohl, dass das „feminine“ Sich-Rausputzen-und-Geben-Müssen eine Bestätigung männlichen Machtgehabes ist. Nichtsdestotrotz versucht sie lange Zeit, die Kehrseite der Medaille – männliche Kleidung bis zu Uniformen und militärischer Haltung – für sich zu nutzen. Das geht natürlich im wahrsten Sinne des Wortes in die Hose.
Die Feststellung, dass eine Frau sich nur so lange für sie interessiert, bis sie merkt, dass John auch eine Frau ist, macht John auch nicht glücklicher. Wirklich befreit fühlt sie sich erst durch die Freundschaft zu einem schwulen Mann, in der beide ihre gesellschaftlich vorgegebenen Rollen abstreifen können …
In dem einstündigen eine-Frau-Stück zieht Isabell Weißkirchen alle Register ihres schauspielerischen und kabarettistischen Talents. In den ersten Minuten der Premiere überschlugen sich die Sätze etwas – passend zum unendlichen Selbstmitteilungsbedürfnis der Protagonistin, aber für ältere bzw. schwache Ohren etwas hastig. Dabei ist jeder Satz wichtig – peng-peng! – geballte Breitseiten gegen das Rollenverständnis der Geschlechter, denen die junge Isabell – bei einer an sich schon famosen Vorlage – enormen Drive verpasst. Und ganz in der Rolle, die ihr auf den Leib geschneidert scheint, fängt sie sich dann auch. Turnt auf dem Netz, das ihr Aktionsraum ist – ein doppelter, gleichfalls sicherer wie schwankender Boden. Ob kletternd, tanzend, sich umkleidend, kopfüber, wirkt sie ganz bei sich, schießt den Text mit stetig wechselnder und passender Stimmlage, Mimik und Körperhaltung gegen das Publikum.
Das schien nur irritiert, als „John“ am Ende, in der Zeit mit ihrem schwulen Kumpel, schwanger wird. Vielleicht fehlte da eine erleuchtende Passage –war der Freund nun bi, oder war da noch ein anderer? Ist aber eigentlich egal, wesentlich ist das Ergebnis: Dass John damit auf die biologischen Vorgaben ihrer Frauenrolle zurückgeworfen wird. Da will sie auch allein mit klarkommen, kehrt dem Publikum den Rücken – das ihre Leistungen wie auch Regie und Ausstattung mit nicht enden wollendem Applaus benotete.
Ich glaube, das muss ich noch ein zweites Mal sehen.
Premiere am 2.9., noch zu sehen am 13., 15., 21. + 28.10. (Junges Theater)
Ist Ihnen schon mal die Festplatte ihres PCs abgeschmiert? Wurde sie von einem Virus befallen, gegen den es keine Impfung gibt? Haben Sie selbstgemachte Gedichte auf 5 ½ Zoll-Disketten und kennen niemanden, der noch das passende Laufwerk besitzt? Dann wissen Sie, wie trügerisch die Sicherheit ist, gesammelte Daten, geballtes Wissen in unbegrenztem Umfang elektronisch zu archivieren. So geht es auch Rick, der feststellen muss, dass seine gesammelten Videos zur Unkenntlichkeit verblasst sind.
Mit der deutschen Erstaufführung von „Remember this – verschwommene Erinnerung“ des jungen britischen Multitalents Stephen Poliakoff (Autor, Bühnen- und Filmregisseur, internationale Auszeichnungen für Film- und Serienproduktionen mit dem BBC) hat die Landesbühne ein brisantes wie aktuelles Thema aufgegriffen – auch wenn es sich nicht jedem erschließt, es soll ja noch Haushalte ohne Computer oder Videoausstattung geben. Im Vorfeld – Vorankündigungen, Programmheft und Einführung zum Stück – werden Kern und Anliegen des Stoffs deutlich. Doch die Inszenierung selbst bietet kaum zusätzliche, aufrüttelnde Erkenntnisse. Ohne Höhepunkte dümpelt sie vor sich hin, was das Publikum mit artigem, aber verhaltenem Premierenapplaus quittierte.
Wenn es denn Aha-Momente gab, dann wurden sie in nachfolgenden Dialogen totgeredet – so, als sollte auch der dümmste Zuschauer garantiert kapieren, um was es geht. Großzügigere Streichungen hätten da gut getan.
Wirklich herausgearbeitet wurden Zusammenhänge, die mit dem eigentlichen Thema nicht eng verbunden sind. So der Vater-Sohn-Konflikt zwischen Rick und Sprössling Jimmy, der ständig unter Druck steht, seine Doktorarbeit fertig zu kriegen – und nach der merkwürdigen Wandlung seines Vaters die Diskette mit seinen bisherigen Ergebnissen verbrennt (das passt dann symbolhaft wieder zum Thema). Oder, dass Rick sich von seiner Braut Victoria zu deren Schwester Hannah wendet – einer zielstrebigen Unternehmensberaterin, die ihn in seinen Aufstiegsplänen und damit seinem männlichen Ego bestätigt. Letztlich erweist sich Victoria, die sein Tun und seine Ziele eher in Frage stellt – sei es durch Desinteresse, sei es durch ihren ganz anderen Lebensentwurf -, als die bessere Wahl. Ihre Art, das Leben wahrzunehmen, lässt schließlich das Lebensgerüst ihrer Gegenspieler, der Datenfreaks, zusammenbrechen: Sie braucht kein Video, sondern reale Wahrnehmungen, um intensive Erinnerungen an die Vergangenheit aufleben zu lassen. Diese scheinbare Nebenrolle füllt Kyra Lippler in allen Varianten überzeugend aus: Vom einkaufswütigen Hausmütterchen zur selbstbewussten Hausbesitzerin, die ihr Glück nicht daraus zieht, sich der schnelllebigen, fortschrittsgeilen Welt anzupassen, in der ihr Mann lebt.
Insofern können wir uns dem pauschalen „Daumen nach unten“ unserer Tageszeitung nicht anschließen. Applaus verdienen auch Bühnenbild und Ausstattung. Ein Gazenetz vor der Bühne erlaubt das Einblenden von Videos in die laufende Handlung, die dahinter wie auf einem Bildschirm abläuft. Live gefilmte Videostatements von Protagonisten vor der Bühne erscheinen im intimen Zoom auf dem überdimensionalen Bildschirm und vermitteln damit die Brutalität, die fehlende Intimität der modernen Medien. Passend zu diesem Wechsel zwischen hinter und vor dem Bildschirm wanderte auch der Ton – Lob an die Technik. In jedem Fall gibt die Aufnahme des Stücks – wenn auch mehr durchs Drumrum als die Inszenierung selbst – viel Stoff zum Nachdenken über unser schnelles Leben in einer medien-, daten- und karrieregeilen Welt.
Premiere am 22.9.; noch zu sehen am 22.10. (Stadttheater)
Nächste Premieren: Leonce und Lena von Georg Büchner Sa 20.10. Stadttheater
Rum und Wodka 14.10. Spectakel (Junges Theater)
Feuergesicht 27.10. Junges Theater
Die Schöne und das Biest (Uraufführung) von Ueli Blum Fr 2.11. Stadttheater
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