Menschenrechte im Kochbeutel
„Das Kontingent“ von der Landesbühne bravourös inszeniert
(iz) Wir schreiben etwa das Jahr 2040. „Das Kontingent“, eine internationale Friedenstruppe von Freiwilligen, soll weltweit politische Konflikte neutralisieren, ohne Partei für eine Seite zu ergreifen. 2. Januar 2002: Eine Marineeinheit startet von Wilhelmshaven aus zu ihrem Einsatz im weltweiten „Krieg gegen den Terror“. – Als die Landesbühne die Fiktion im März 2000 auf den jetzt aktuellen Spielplan setzte, konnte sie den realen Bezug nicht ahnen. Auch künstlerisch ist ihr ein Volltreffer gelungen. Nur die Autoren müssen sich kritischen Fragen stellen.
Hinter dem Pseudonym Soeren Voima verbirgt sich ein Autorenkollektiv aus Regisseuren, Dramaturgen und Bühnenbildnern des Frankfurter Theaters am Turm (TAT). Anlass zum Schreiben dieses Stückes war eine Meldung aus dem Bosnien-Krieg. Mehrere Frauen waren vor den Augen holländischer Soldaten vergewaltigt worden, die wegen ihres Neutralitätsgebotes nicht eingriffen.
Zum Inhalt: Bill, ein junger Amerikaner, muss wie alle Mitglieder der Eliteeinheit seine Nationalität und Identität hinter sich lassen, um seinen humanitären Auftrag neutral erfüllen zu können. Zunehmend gerät er jedoch in den Gewissenskonflikt zwischen geltendem Recht und subjektiver Gerechtigkeit. Seine spontanen Hilfsaktionen gefährden zunehmend das in harter Ausbildung erworbene Selbstverständnis seiner KameradInnen, die ihm schließlich mit ihrem „freundlichen Feuer“ Einhalt gebieten …
Formal ist „Das Kontingent“ eine gelungene Adaption Brecht’scher Lehrstücke, vom Duktus einprägsamer Bildsprache über die modellhaft reduzierte Szenenfolge bis zur Chordeklamation á la Eisler bzw. Dessau. Konkret soll hier Brechts „Die Maßnahme“ Pate gestanden haben. „Ein ziemliches dreistes Recycling“, so „Theater heute (Nr. 3, 2000); eine zeitgenössische Fortsetzung erfolgreicher und liebgewonnener Traditionen, möchten wir dem entgegen halten. In Abgrenzung zum ewiglinken Brecht – und da wird das Zeitgenössische durch den Zeitgeist erdrückt – ist „Das Kontingent“ jedoch „ein Lehrstück ohne Lehre“: Es bezieht keine eindeutige Position („everything goes“) und lässt die Zuschauer ratlos, wie „Menschenrechte“ zu interpretieren bzw. objektiv-optimal zu beschützen sind. Künstlerisch mag es stimmig sein, die unterstellte Neutralität der Protagonisten durch die Neutralität der inhaltlichen Synthese zu unterstreichen. Angesichts der gesellschaftspolitischen Aktualität könnte man den Autoren jedoch schlicht Feigheit unterstellen.
Als ernst zu nehmende Diskussionsgrundlage fehlt dem Stück aber vor allem ein wesentlicher Aspekt: Die Frage nach dem eigentlichen Motiv einer multinationalen Eingreiftruppe. Den entsendenden Staaten werden ausschließlich humanitäre Anliegen unterstellt. Damit beziehen die Autoren schon im Vorfeld, gewissermaßen auf einer Meta-Ebene eine eindeutige Position, die das angekündigte „Lehrstück ohne Lehre“ ad absurdum führt. Nur wer sich vorab über die bittere Realität informiert hat, kann zwischen den Zeilen herauslesen, dass allein wirtschaftliche Interessen wie Bodenschätze und billige Arbeitskräfte Anlass zur Intervention geben. Und dass die so genannte Hilfe sich auf hilflose Alibi-Aktionen beschränkt, wie die Ausgabe lächerlicher Reisrationen im Kochbeutel. „Zum Hammelbraten gibt es Reis im Beutel. Das ist praktisch“ sagt ironisch der Stammesfürst, der den jungen Amerikaner zum Essen einlädt und die abgefangenen Hilfslieferungen gegen Granatwerfer eintauscht. Und, pointiert: „Deine Vernunft ist Reis im Beutel.“ Menschenrechte instand. Ziel gezielt verfehlt.
Die Kritik am Stück ist jedoch nicht der Landesbühne anzulasten, die unter der Regie von Roland Hüve die Vorlage – als erst dritte deutsche Bühne nach Frankfurt (TAT) und Berlin (Schaubühne) – handwerklich einwandfrei inszeniert hat. Für die formal-architektonische Umsetzung des Erzähltheaters im Schauprozess, als Bühne-in-Bühne-Konzept, gebührt Timo Dentler Anerkennung. Auch seine Kontingent-Uniformen haben eine eigenständig überzeugende Ästhetik, die durch schlichte Requisiten in Sekundenschnelle einen glaubhaften Rollenwechsel innerhalb der Rolle – vom Soldaten zum Darsteller des Schauprozesses – ermöglicht. Erich Radke spinnt im Hintergrund wie Jan Beier als „Kontingent“-Musiker auf der Bühne den wesentlichen musikalischen Faden. Auch in der Gruppenleistung der DarstellerInnen gab es in der Premiere keinerlei Schwächen. Matthias O. Schneider konnte in den Schlüsselrollen als Ausbilder bzw. Journalist die feinen Nuancen zwischen den Zeilen ausnutzen, um der unsäglichen Gut-Mensch-Attitüde der Vorlage einen Realitätsbezug zu verleihen. Beeindruckend gleichfalls Marco Stickel als selbstbewusster Kommandeur eines traditionsreichen Bergstammes, wie Kyra Lippler in der ambivalenten Rolle der Soldatin, die bis hin zum Kameradenmord stets das Gute vor Augen hat.
In der Einführung zum Stück wurden u. a. Parallelen zwischen Brecht und Voima aufgezeigt. Um auch Unterschiede zu verdeutlichen, wurde Brecht thematisch “Kommunismus” zu geordnet, Voima hingegen “Menschenrechte”. Auch wenn damit keine tiefer gehende politische Interpretation beabsichtigt war, fühlte man sich zwangsläufig an unsere gleichgeschalteten Medien erinnert, die dem moralischen Alleinanspruch des Kapitalismus das Wort reden. Wie auch Bill: ”Ich glaube an die Demokratie, in der ich aufwuchs … Mein Privileg schmerzt mich: Ein Recht muss allen Menschen gelten!”
Geschenkt. Die Landesbühne könnte ihrer gelungenen Umsetzung einer diskussionswürdigen Vorlage noch das i-Tüpfelchen aufsetzen, würden den ZuschauerInnen bzw. bestimmten Zielgruppen, z. B. Marineangehörigen oder SchülerInnen, im Anschluss an die Vorstellung Informations- und Diskussionsmöglichkeiten angeboten. Kritisch-informierten LeserInnen können wir den Besuch der Aufführung uneingeschränkt empfehlen.
Weitere Aufführungen in Wilhelmshaven: FR 15.3. / FR 22.3. / SA 20.4. jeweils um 20 Uhr im Stadttheater.
Glückliche Menschheit!
Nicht eins, aber einig:
Einig im Recht.
Glückliche Menschheit!
Glückliche Völker!
Glückliches Jahrtausend!
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