Kommunalwahl 2006 – 1
Sep. 272006
 

So wählten die WilhelmshavenerInnen

Tschüs Wähler!

Der Abwärtstrend bei der Wahlbeteiligung setzt sich fort

(ub) Jeder zweite Niedersachse hat die Kommunalwahl diesmal einfach ignoriert. Für das Land ist das ein neuer Minusrekord bei der Wahlbeteiligung. Besonders heftig fiel die Wahlverdrossenheit in Wilhelmshaven aus. Nur noch 41 % aller Wahlberechtigten ließen sich hier an die Wahlurne locken. Woran hat’s gelegen? Lässt sich die Wahl“müdigkeit“ erklären?

Kommunalwahl 2006

Am Morgen danach

– nach dem Wahlabend – herrschte Katerstimmung. So sehr sich die Strategen der Parteien auch bemühten, ihr Abschneiden bei der Kommunalwahl in Niedersachsen als Erfolg zu verkaufen, so tief saß der Schock über die außerordentlich geringe Wahlbeteiligung.
In ganz Niedersachsen haben nur noch 51,8 % der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Damit wurde der bisherige Wahlbeteiligungstiefstand der letzen Kommunalwahlen im 2001 (Wahlbeteiligung seinerzeit 56,2 %) noch mal locker und kräftig getoppt. Besonders im nördlichen Niedersachsen nähert sich die „Partei der Nichtwähler“ der Zweidrittelmehrheit.
In Oldenburg lag die Wahlbeteiligung nur noch bei 44,4 %; in Delmenhorst hatten 57,7 % der Wahlberechtigten Besseres vor und, wie so oft bei zweifelhaftem Ruhm, stürmt Wilhelmshaven die Hitliste: 59 % der Wählerinnen und Wähler blieben zu Hause! Gibt es Gründe für diesen Abwärtstrend? Lassen sich Wählerbewegungen statistisch noch relativ sicher einordnen, so ist es umso schwieriger, ein schlüssiges Ranking der Gründe für die Wahlverweigerung zu erstellen. Wir bieten einen bunten Erklärungsstrauß.

Kein Wahlwetter

Bei der Kommunalwahl Niedersachsen im Jahre 2001 herrschte in weiten Teilen Niedersachsen ein richtiges Schweinewetter mit Sturm und Regen. Strahlender Sonnenschein dagegen am 10. September 2006. Logisch, der norddeutsche Stammwähler braucht Scheißwetter!

Europa ist schuld

Landesweit konnte man am Wahlabend und den Tagen danach in tief zerfurchte Politikergesichter blicken. Die geringe Wahlbeteiligung gab „Anlass zur Sorge“. Aber, so SPD-Fraktionschef Wolfgang Jüttner gegenüber dem NDR: „Die Demokratie ist nicht gefährdet. Nicht jede nicht abgegebene Stimme ist ein Protest.“
Und überhaupt: Nicht mehr wählen gehen ist europäische Normalität. Jüttner: „Wir bewegen uns auf ein europäisches Normalmaß hin.“ (NDR)

Die Krise der Großen

Der Politologe Daniel Gardemin von der Universität Hannover betont: „Seit der Kommunalwahl 1986 haben CDU und SPD allein in Niedersachsen rund eine Million Stimmen an die kleineren Parteien und das Lager der Nichtwähler verloren…. Das ist eine Krise der Politik, die vor allem die Großen trifft. Besonders die großen Volksparteien haben es versäumt, auch in sozial schwierigem Umfeld um Stimmen zu werben. Ich habe mit vielen Politikern gesprochen und festgestellt, dass sie in Problemviertel mit sozialen Schieflagen häufig gar nicht hineingehen … die Parteien machen keine Politik für diese Menschen und schimpfen dann noch darauf, dass sie gar nicht oder extreme Parteien wählen.“ (Wiesbadener Kurier)

Schuld hat „Berlin“

Wenn’s grad passt, finden sich Schuldige auch auf bundespolitischer Ebene. Schuld hat Berlin. „Ich glaube, dass viele Menschen in die Große Koalition (in Berlin) große Hoffnungen gesetzt haben und einfach enttäuscht sind.“ Dieser Ansicht ist, wen wundert’s, ein Mann der Opposition – FDP-Vorsitzender Philipp Rösler. Dem kann sich der Landtagsfraktionschef der Grünen, Stefan Wenzel, nahtlos anschließen: Auch er sieht „als Hauptgrund für die geringe Beteiligung die Unzufriedenheit der Wähler über die große Koalition in Berlin“. (Spiegel) Oder glauben die Wähler zunehmend, dass die Kommunalwahl unwichtig ist? Dies vermutet der Vorsitzende des SPD-Bezirkes Braunschweig und Bundesumweltminister Sigmar Gabriel: „Viele Menschen glauben, die wichtigen Entscheidungen würden nur in Berlin getroffen.“ (dpa)

No future?

Hohe Arbeitslosigkeit, kommunale Verschuldung, leere Kassen, Abbau von Sozialleistungen, Hartz IV, raffgierige „Heuschrecken“, die den ehemals kommunalen Wohnungsbestand zerfleddern, Wohnungsleerstand, der ganze Stadtteile veröden lässt, ausgeträumte Expovisionen, unklare Zukunftsvorstellungen (der ausgewiesene Jade-Weser-Port-Gegner Acki Tjaden erzielt das zweitbeste persönliche Wahlergebnis!) – wie war die Situation vor 5 Jahren? Geht es vorwärts? Gibt es Anlass zur Hoffnung? Oder haben die notorischen Wahlverweigerer recht, die sagen: „Die (Stadträte) machen ja doch, was sie wollen – und am Ende müssen wir zahlen“?

Tschüs Wähler!

Man kann das auch ganz anders sehen. Der Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen analysiert die Wahlverdrossenheit wie folgt: „Im Rückgang der Wahlbeteiligung drückt sich seit nunmehr zwei Jahrzehnten signifikant die soziale Spaltung der Gesellschaft aus – die Kluft zwischen privilegierten und randständigen Schichten, die Ungleichgewichte bei sozialen Chancen und gesellschaftlicher Teilhabe. Eben dies macht die abstürzende Wahlbeteiligung doch ein wenig dramatischer.“
Die Welt der Politik wird mehr und mehr zum eigenen Kosmos, der sich seiner früheren lebensweltlichen Wurzeln entzieht. Der SPD-Fraktionsvorsitzende im niedersächsischen Landtag, Wolfgang Jüttner, sprach am Sonntag traurig von einem Mobilisierungsproblem. Das ist allerdings das Vokabular der siebziger und achtziger Jahre. Ganze Wählerschichten, die lange Jahrzehnte der SPD anhingen, sind keineswegs mangelhaft mobilisiert – sie haben sich vielmehr dauerhaft abgetrennt von der Welt der Parteien und ihrer Politik.

 

Kommentar:

Hallo! Jemand zu Hause?
Es herrscht in Wilhelmshaven eine beinahe gespenstische Ruhe, wenn es um die Ergebnisse der Kommunalwahl vom 10. September geht. Einige wenige Stimmen waren gerade noch an den Tagen direkt nach der Wahl zu vernehmen. Stimmen wie: „Würden die Rammen für den JadeWeserPort schon arbeiten, hätte das vielleicht anders ausgesehen“ (SPD-Vorsitzender Norbert Schmidt) oder: „Erschütternd und ernüchternd“ (OB Menzel).
Einige Zeitungskommentatoren warfen den Bürgern ihre Wahlenthaltung vor: Es ist, so WZ-Chefredakteur Klaas Hartmann in seinem Kommentar „Schwaches Bild“ am 11.09.06, „auch vom Souverän Volk wirklich nicht zu viel verlangt, zu den Wahlen an den Urnen zu erscheinen und eine halbe Stunde vom wertvollen Sonntag zu opfern. (…) Wenn nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten die Chance zur demokratischen Einflussnahme ergreift, hat der Souverän versagt – das ist ein schwaches Bild.“ So ein Schmarren!
Der WZ-Lokalredakteur Gerd Abeldt weiß da schon genauer Bescheid: „Kandidaten werfen mit Flugblättern um sich wie Jecken mit Kamellen. Ihr aufklärerischer Rundkurs durch Diskussionsveranstaltungen gleicht den Rosenmontagsumzügen. Viele Wahlkampfappelle können es locker mit Büttenreden aufnehmen.“
Warum sollte ein Bürger, warum sollte eine Bürgerin am Wahlsonntag aufstehen und drei Kreuze bei SPD, Adam, Müller oder CDU machen? Die meisten Bürgerinnen und Bürger machen doch drei Kreuze, wenn sie die vor der Wahl an jeder Straßenkreuzung und an jedem Laternenpfahl hängenden Köpfe nicht mehr sehen müssen. Und selbst der ‚Bildungsbürger’ hat die Schnauze voll von den durchschaubaren Plattheiten, mit denen die Politik die Bürger versorgt.
Wer jetzt mit Unverständnis auf die Entscheidung der sich langsam in Richtung verfassungsändernde Mehrheit zubewegenden Nichtwählergruppe reagiert, hat nichts verstanden. Die Politik fühlt sich doch am wohlsten, wenn sie ihre Entscheidungen ohne den Wähler oder den ‚Souverän’ durchziehen kann.
„Wer seine Stimme abgibt, hat nichts mehr zu sagen“, lautet ein Sponti-Spruch aus den Siebzigern. Und genau so verstehen die meisten Politiker ihren Job: Ich bin gewählt, bin legitimiert – also mach ich! Die Wähler und Wählerinnen existieren für die 4 oder 5 Jahre nach der Wahl nur noch als Prozentzahl! Überheblich und abgehoben werden dann die Mandatsjahre durchgezogen – und die Arbeit ist ja nicht einfach, die Familie leidet, die Freunde leiden – da kann man ja nicht auch noch Zeit für die Wähler haben. Natürlich gibt es Ausnahmen, natürlich gibt es MandatsträgerInnen, die in ständigem Kontakt mit ihren Wählerinnen und Wählern stehen – doch diese werden dann im Entscheidungsprozess zur (Partei-) Räson gebracht.
Erstes Fazit: Es gibt genügend Gründe, nicht zu wählen. Nichtwählen ist nicht Faulheit, Nichtwählen ist die Konsequenz aus gemachten Erfahrungen. Dass es zwischen den Parteien des bürgerlichen Lagers, also CDU, SPD und FDP nur partielle Unterschiede gibt, weiß inzwischen auch der letzte Wähler; dass die ehemals als Alternative angetretenen Grünen inzwischen auch diesem bürgerlichen Lager zuzurechnen sind, lässt sich nicht nur an der Sozial- und Außenpolitik der Grünen seit Joschka Fischer ablesen. Es gibt kaum noch Unterschiede, die ich wählen kann – warum soll ich dann wählen?
Was wird nun in Wilhelmshaven geschehen?
Es zeichnet sich ab (und die Stille in der Stadt beweist das), dass die SPD sich die CDU mit an Bord holen wird und dann ganz gemütlich den weiteren Geschäften nachgehen wird. Es ändert sich nichts – die SPD in Wilhelmshaven macht ja schon seit Jahren die bessere CDU-Politik.
Nun besteht ja auch noch die rechnerische Möglichkeit, sich mit der FDP einzulassen. Die Mehrheit wäre dann äußerst knapp – sie würde vom Wohl und Weh des Oberbürgermeisters abhängen. Ob von Teichman und Freunde eine solche Konstellation mittragen? Es heißt abwarten.
Interessanter sind die Spekulationen, was sich in der Opposition, also zwischen Grünen, BASU und LAW abspielen wird. Der Artikel „Das versteh’ einer“ setzt sich mit dieser Frage genauer auseinander.
Eines ist allerdings gewiss: Auch die Kommunalwahl 2006 wird an der Lage Wilhelmshavens nichts ändern. Die Politiker werden so weitermachen, wie sie es zum Teil seit Jahrzehnten gewohnt sind, die Verwaltung wird weiterhin bestimmen, welche Beschlüsse der Rat zu fällen hat – doch vielleicht schafft es die personell gut aufgestockte Opposition ja, dafür zu sorgen, dass im Rathaus etwas mehr Gegenwind bläst.

Hannes Klöpper

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