Kinderarmut
Sep 272006
 

Wieso, weshalb, warum

Kinderarmut in Wilhelmshaven

(iz) Am 20.9. war Weltkindertag. Einmal im Jahr macht man sich Gedanken über die materielle und seelische Situation unseres Nachwuchses? Nein, es gibt viele Engagierte, die sich Tag für Tag damit auseinandersetzen wollen oder müssen. Einige davon trafen sich im Pumpwerk zu einer Podiumsdiskussion über Kinderarmut. Hinter erschütternden Zahlen lugte auch ein Stück Hoffnung hervor.

Eingangs gab Dr. Antje Richter von der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e. V. (Hannover) einen Überblick über die Situation. Als arm gilt, wer weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Monatseinkommens hat. Lange Zeit ging es den Niedersachsen noch besser als dem Bundesdurchschnitt (aktuell 12% Arme), doch in den letzten Jahren stieg die Zahl hier auf 14,5%, denen weniger als 572 Euro monatlich zur Verfügung stehen. Kinderreiche Familien sind sogar zu 33% davon betroffen.
Niedersachsenweit beziehen 13,6% aller Kinder unter 15 Jahren Sozialgeld, in Wilhelmshaven sind es aktuell 27,9%. Laut UNICEF sind in Deutschland 1,5 Mio Kinder arm, die Zahl steigt hier drastischer als in anderen Industrieländern.
Anhand verschiedener Statistiken und Studien machte Richter deutlich, dass arme Kinder schlechtere Bildungschancen haben als Gleichaltrige aus „besseren“ Familien: „Wieso weshalb warum – wer nichts hat, bleibt dumm“. Nicht allein, dass die angespannte Situation im Elternhaus ihre Entwicklung beeinträchtigt – 67% sind nicht altersgerecht entwickelt, sie hängen in allen ihren Fähigkeiten oft mehrere Jahre hinterher-, es wurde sogar herausgefunden, dass sie bei gleichen Noten oft schlechtere Empfehlungen für weiterführende Schulen erhalten als MitschülerInnen aus „geordneten“ Verhältnissen. Sie werden schlechter ernährt, sind oft übergewichtig und haben oft nicht die Möglichkeit, ihrem Grundbedürfnis nach Bewegung z. B. in Sportvereinen nachzukommen.
Richter beschränkte sich nicht auf diese und viele weitere erschütternde, aber letztlich kalte Zahlen, sie schilderte auch eindrücklich Einzelschicksale aus ihrer Beratungspraxis. Wie bewältigen arme Kinder ihre Situation? Zusätzlich zum materiellen Mangel müssen sie auch noch die Kröte schlucken, ausgegrenzt zu werden. Sie zitierte z. B. aus einem Interview mit einem betroffenen Mädchen, das noch nicht einmal auf dem Rummel mit Freundinnen Karussell fahren konnte – die Mutter konnte ihr einfach kein Geld dafür geben. Oftmals reagieren die mehrfach überforderten Eltern aggressiv, wenn die Kinder mit ihnen über die Probleme sprechen wollen. Andererseits schrauben vor allem allein erziehende Mütter ihre eigenen Bedürfnisse bis hin zur Ernährung zurück, um wenigstens den Kindern ein Minimum zu ermöglichen.
Richters Ausführungen wurden durch die anwesenden Fachleute aus Wilhelmshaven ergänzt und im Wesentlichen bestätigt. Dr. Rübsamen, Leiter des Gesundheitsamtes, weiß, dass bei mehr als 7% der Kinder kein Elternteil einer Beschäftigung nachgeht. In der Südstadt und F’Groden gehören 64% aller Kinder zu gesellschaftlich benachteiligten Gruppen (arm, allein erziehend, MigrantInnen etc). Jugendamtsleiter Carsten Feist berichtete, dass seine Behörde schon für ein Drittel der derzeit 1.900 Kindergartenplätze (3-bis 6-Jährige) die Kosten übernehmen muss, weil die Eltern es einfach nicht können. 80% aller Wilhelmshavener Heimkinder kommen aus ALG II-Familien. Die Leiterin der Hafenschule, Inse Böhlke-Itzen, beschrieb den Schulalltag im sozialen Brennpunkt. Manche Kinder sind schon deutlich vor Schulanfang auf dem Schulhof, weil sie nicht anderweitig betreut werden. Sie kommen ohne oder mit ungesundem Frühstück (Süßigkeiten). Sie kommen ohne Hausaufgaben, weil das keiner beaufsichtigt. Sie kommen falsch gekleidet (im Sommer zu warm, im Winter ohne Socken), ohne Sportzeug, mit unaufgeräumten Ranzen, oft fehlen über Wochen die erforderlichen Schulbücher (mehr als 40% nutzen die Schulbuchausleihe), statt kind- und schulgerechter Materialien statten die Eltern sie mit kostenlosen Werbegeschenken aus (Textmarker statt Bleistift u.ä.)
Dorothee Langer leitet die Beratungsstelle „Wendepunkt“, die im Auftrag der Stadt Familienhilfe leistet. Nach ihrer Kenntnis ist jedes dritte Kind in der Stadt mehrfach benachteiligt, jedes fünfte wird keinen Schulabschluss erhalten. Der Wendepunkt kümmert sich auch um vernünftige Ernährung: „Kinder kannten teilweise das Gemüse nicht, das wir ihnen gegeben haben.“ Fazit: „Nach 12 Jahren Arbeit haben wir alles durch“. Und: „Ein im Elternhaus verhungertes Kind – so etwas kann auch in Wilhelmshaven passieren.“
Marianne Janss gab ergänzende Informationen zur Gruppe der MigrantInnen: etwa 7.500 WilhelmshavenerInnen haben einen Migrationshintergrund (je zur Hälfte Ausländer bzw. Aussiedler). 400 Flüchtlingsfamilien leben hier, 80% von ALG II, das sie in Form von Wertgutscheinen erhalten, zuzüglich 40 Euro Taschengeld im Monat.
Nicht selten gelingt es Familien über mehrere Generationen nicht, aus der Armutsfalle herauszukommen. So sind es laut Böhlke-Itzen nicht immer die Lehrkräfte, die den betroffenen Kindern den Zugang zur Realschule oder zum Gymnasium absprechen; auch Eltern beschließen, entgegen anderslautender Empfehlung: „Hauptschule reicht!“ Oder, so Langer: Eltern, die selbst als Kind häusliche Gewalt erlebt haben, wollen es besser machen – und setzen den eigenen Kindern dann aus falsch verstandener Liebe gar keine Grenzen mehr – was deren sozialer Kompetenz eher schadet.
Keine/r wollte nun diese Runde ohne eine bessere Zukunftsperspektive verlassen. Richter: „Das Problem Kinderarmut wird nicht zur Kenntnis genommen. Zahlen liegen uns aber zur Genüge vor. Es besteht kein Erkenntnis-, sondern Handlungsbedarf!“ Konzepte lägen zur Genüge vor, aber „es fehlt der politische Wille, sie umzusetzen.“ Stimmen aus dem Publikum vermissten übrigens bei dieser Diskussion die städtische Kommunalpolitik. (Norbert Schmidt war da – die Verf.) Feist führte verschiedene städtische Maßnahmen an, u. a. das neue Jugendzentrum in F’groden. Er forderte, man solle nicht immer nur meckern und nach der öffentlichen Hand rufen. Damit tat er den Anwesenden allerdings unrecht. Denn wenngleich die Fachleute die Situation anhand drastischer Zahlen beschrieben hatten, so vermittelten sie doch nicht den Eindruck, resigniert die Hände in den Schoß zu legen. Böhlke-Itzen berichtete, dass Hausbesuche bei Erstklässlern fester Bestandteil des Konzeptes der Hafenschule sind: „Wir kriegen mehr zu fassen, als wir zu hoffen wagen“ – aber „man verlangt uns Lehrkräften den Sozialarbeiter ab.“ Darüber hinaus ergänzen z. B. Lehrkräfte aus eigener Tasche Materialien, die Kinder von den Eltern nicht erhalten. In Kooperation mit der Musikschule können Kinder für 11 Euro im Monat Gitarrenunterricht nehmen. Dass auch ehrenamtlich etwas getan wird, bestätigte Brigitte Tabbach vom Kinderschutzbund. Derzeit kümmern sich dort 28 Frauen (wo sind die Männer? – die Verf.) um benachteiligte Kinder, die sich u. a. (über gebührenfreie Apparate) anonyme Beratung holen können.
Langer brachte den gesellschaftspolitischen Umgang mit Kinderarmut auf den Punkt. Z. B. PISA: „Man guckt immer nach den Ländern, wo es noch schlechter läuft,“ statt sich an Vorbildern zu orientieren. „Die niedersächsische Schulreform ist das Gegenteil von dem, was PISA fordert.“ Als Grundursache erkennt sie den „Spätkapitalismus“: „Kapital und Macht kumulieren – denen ist es egal, ob wir arme Kinder haben.“ Moderator Jürgen Westerhoff, bemüht um eine harmonische Atmosphäre: „Aber Sie kriegen doch auch Spenden …“ Womit er Langers These eher be- als widerlegte, denn zum Kapitalismus gehören auch die Almosen, die von den Tischen der Reichen fallen.
Feist sieht eine Chance im demografischen Wandel: Angesichts sinkender Geburtenzahlen dürfe man nicht die Mittel kürzen, „das Geld nicht einsacken, sondern im System lassen.“ Prävention sei zwar eine freiwillige Leistung, „aber nicht disponibel.“
Langer formulierte das Ziel: „Weg von den zerfledderten Arbeitskreisen hin zu etwas Zentralem – wir müssen etwas bewegen.“ Sollte man nun aus dieser Veranstaltung heraus (mal wieder) einen neuen Arbeitskreis gründen? Wolfgang Schwarz von der Wilhelmshavener Kinderhilfe wusste dazu eine Alternative: den bei der WiKi gegründeten Arbeitskreis Kinderarmut als gemeinsames Forum nutzen.

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