Jugend forscht
März 171999
 

Jugend forscht…nicht mehr

„Starker Tobak“ umschreibt Die Situation der Wilhelmshavener Jugend – und den Umgang damit

(iz) „Jugend am Meer ohne Lobby?“ war das Motto eines „Hearings“ Anfang März im gut besetzten Pumpwerk. Auf dem Podium saßen Vertreter (richtig, keine -Innen) aus Politik, Verwaltung und sozialen und kulturellen Einrichtungen. Die WZ (5.3.99) berichtete, wer dort was gesagt hat. Uns interessiert das Wie: ob mit den Jugendlichen geredet wurde – oder über sie.

Auf dem Podium:

  • Stefan Leimbrinck, Pumpwerk/ Arbeitskreis Jugendkriminalität
  • Martin Tapper, Vorsitzender des Jugendparlaments
  • Norbert Szczepanek, Leiter Schule Bremer Straße
  • Siegfried Neumann, SPD-Ratsfraktion
  • Gerd Kläne, Leiter Hauptschule Heppens, Ratsherr Bündnis 90/Grüne
  • Klaus Friedrich, CDU-Ratsfraktion
  • Klaus Jürjens, Leiter des Jugendamtes
  • Edgar Schäfer, Mitarbeiter von RAN (regionale Arbeitsstelle zur beruflichen Eingliederung junger Menschen in Niedersachsen)
  • Moderator: Jürgen Westerhoff, Wilhelmshavener Zeitung

Eingangs vermittelte Stefan Leimbrinck einen Überblick zur Lage von Kindern und Jugendlichen in Wilhelmshaven  und das organisierte Freizeitangebot in städtischen und privaten Einrichtungen. Der Geldmangel als solcher generiert Folgeprobleme: Projektanträge und „Rechtfertigungspapiere“, die für kurzfristige finanzielle Absicherungen erforderlich sind, stehlen den SozialarbeiterInnen zunehmend Zeit für die eigentliche Arbeit mit den Schutzbefohlenen. Über gängige, auch von anderen Podiumsteilnehmern (s. Kasten unten) angeführte Lösungsvorschläge hinaus forderte Leimbrinck Kinder- und Jugendverträglichkeitsprüfungen für Vorhaben der Stadt sowie Kinder- und Jugendräte in kulturellen Einrichtungen. Er rechnete er vor, dass ein auffällig gewordener Jugendlicher die Stadt täglich 200 bis 300 DM kosten kann – Prävention ist weitaus günstiger.

Martin Tapper bat eindringlich, die Probleme seiner Altersgenossen, Ideen und Aktionen nicht mit Paragraphen und Geldsorgen abzubügeln. Genau das war des Pudels Kern: Ein gleichwertiger und offener Diskurs zwischen Groß und Klein hätte die Chance geboten, Fantasien und Visionen zuzulassen, zu denen Kinder und Jugendliche noch fähig sind – und damit zielorientiert zu arbeiten statt hindernisorientiert. Diese Chance wurde auch an diesem Abend von den „Großen“ vertan, die Ideen und Forderungen immer wieder mit „Ja, aber … es ist ja kein Geld da“ im Keim erstickten.
Siegfried Neumann freute sich, dass alle Podiumsteilnehmer so „realistisch“ seien. Noch trauriger als dieser innovationstötende „Realismus“ waren peinliche Versuche, offene Rechnungen der letzten Ratssitzung zu begleichen. Zum Beispiel: „Herr Westerwelle, sind Sie auch da?“ (Gerd Kläne (Podium) zu Michael von Teichmann (FDP/ Publikum) anlässlich seines Einwurfs zu Sinn und Kosten einer zweiten Bürgermeisterin).
Auch der Moderator kriegte es nicht in den Griff. Es waren die Jugendlichen, die gelegentlich zum eigentlichen Thema zurückriefen – zum Beispiel Martin Tapper als jüngster Podiumsteilnehmer, der Applaus erntete, als er die „Erwachsenen“ höflich disziplinierte.

Neben dem „offiziellen“, also per Dekret von oben eingerichteten Jugendparlament war auch die Initiative „Jugend der Straße“ vertreten, allerdings nur im Publikum. Deren Auftreten und Wortwahl – sachlich, aber sehr direkt und erfrischend „unangepasst“ – entsprach nicht unbedingt dem Geschmack eines väterlich denkenden Politikers, für den es nur eine Frage der Methodik ist, einen Punker in einen Banker zu verwandeln. Unabhängig von Entstehung und Ausdrucksform vermittelten beide Jugendinitiativen, dass sie sich nicht ernst genommen und oft diskreditiert fühlten. Zum Beispiel durch die Forderung Gerd Klänes, den Stadtjugendring zu reaktivieren – weil das Jugendparlament „zu wenig Kontakt zu den Jugendlichen“ hätte und „nicht der richtige Ansprechpartner“ sei.

Spiel und Spaß verboten!

Vertreter aus Politik und Verwaltung sehen keine Chance, den lächerlichen Etat für unsere jadestädtischen Schulen zu erhöhen, dessen Auswirkungen Schulleiter Szczepanek anschaulich demonstriert und beklagt hatte. Die Verantwortlichen der Schule Allerstraße strafen ihn jetzt Lügen: Sie hatten nämlich noch Geld zur Verschönerung des Schulhofes. Dort prangt seit neuestem ein Schild: „Fußball spielen verboten!“ Zuwiderhandlungen werden durch die Hausmeister geahndet. Ein Schulhof soll schließlich ein Ort der Besinnung sein, wo brave Kleinkinder sich auf ein paar Spielgeräten gesittet vergnügen dürfen.
Jugendliche über 14, denen ein zweites Schild ohnehin das Betreten untersagt, haben doch in der östlichen Südstadt unendlich viele andere Möglichkeiten zum Bolzen, nämlich… also… naja, vielleicht auf den Strassen, ist ja „Zone 30“, und 10 Prozent der Autofahrer halten sich auch daran. Auf die 20 Prozent, die mit 60 bis 80 Sachen die Weserstraße erobern, können so große Kinder schon aufpassen. Zudem gibt’s auf der Fahrbahn weniger Hundeliegenschaften zum Drauf-Ausrutschen.
Zitat Schulleiter Szczepanek: „Zeigen wir unseren Kindern und Jugendlichen nicht täglich, was sie uns wert sind?“ Bestimmt freuen sie sich über das schöne neue Schild – und nutzen die Gelegenheit, nun dort ausgiebig Handball, Basketball, Volleyball oder Frisbee zu spielen. (iz)

Wer arbeiten will…
Siegfried Neumann hatte sich beim Arbeitsamt schlau gemacht, dass noch 32 Lehrstellen offen seien. Betroffene Schulabgänger und Schulleiter Szczepanek klärten die Diskrepanz von Statistik und Alltag: von 130 Schulabgängern finden nur 5 einen direkten Übergang in die Lehrstelle. Oft fehlen nötige Zusatzqualifikationen, oder die Ausbilder erweisen sich als ungeeignet (z. B. Choleriker oder Alkoholiker). Manche Schulabgänger drehen bis Mitte 20 „Warteschleifen“ im Berufsgrundbildungsjahr oder „Förderungsmaßnahmen“. Ein Jugendlicher zeigte sich, stellvertretend für Gleichaltrige, verletzt durch Begriffe wie „Warteschleifen“. Er habe seine Traumjob im Kopf und warte lieber darauf, „statt aus Not Fleischer zu werden“.

Verdammt gute Sozialarbeit
Anwesende SozialarbeiterInnen beschwerten sich, dass ihr großes Engagement für geringe Gehälter als selbstverständlich erachtet wird („Warum wird sowas nicht z. B. von Finanzbeamten erwartet?“) Leimbrinck befand, die Stadt könne auf den überdurchschnittlichen Einsatz der Beschäftigten in der Kinder- und Jugendarbeit stolz sein – 12 Stunden am Tag seien üblich. Ein Jugendlicher meinte, er sehe „nur Ehrenamtliche, die verdammt gute Jobs machen“. Der Vorwurf, Jugendliche zeigten zu wenig Eigeninitiative, wurde entkräftet. Andreas Kout erinnerte, dass viele Initiativen, wie auch die Musikinitiative, von den Jugendlichen selbst ausgingen – und oft durch mangelnde Flexibilität der Stadt im Keim erstickt würden.

AltersstrukturDer Wert eines Schülers
Schulleiter Szczepanek erläuterte anhand von Dias die Mängel von Gebäuden, Ausstattung – und Menschlichkeit in den Wilhelmshavener Schulen. Ein Foto aus dem Chemieunterricht, auf Tischen und Fußboden stehen Regenauffangbehälter. Szczepanek: „Früher machten die Schüler hier Experimente mit der Natur. Heute macht die Natur Experimente mit den Schülern.“ Zugeschraubte Fenster, die beim Öffnen herausfallen würden, versiegelte Türen unzumutbarer Klos. Vom Regen durchweichte Deckenplatten fallen auf Schüler und Geräte. Die Schulen haben einen Rückstand in der Bauunterhaltung von 25 Mio. DM. Nicht mal ein Drittel der Mittel, die zum Erhalt des Schulbetriebs erforderlich wären, stehen jährlich zur Verfügung. So müssten Geräte theoretisch 140 Jahre halten, ehe Ersatz beschafft werden könnte.
Für Szczepanek ist „Bildung als die Quelle des Wohlstands in Wilhelmshaven versiegt.“ Und: „In Politik und Verwaltung wird nicht der gelobt, der das Nötige fordert, sondern der, der die besten Einsparungsvorschläge macht.“ Zur Zeit werden 98 Fälle von massivem Schuleschwänzen von ABM-Kräften bearbeitet. 1 1/2 Jahre Schwänzen fand der allgemeine Sozialdienst der Stadt nicht gravierend genug, um sich um den erfolgten Schulverweis zu kümmern – Begründung: „Die Grenzen des Rechtsstaates sind erreicht“. Szczepanek führte den Anwesenden vor Augen, in welchen Räumen wir die Schutzbefohlenen aufwachsen lassen. „Zeigen wir ihnen nicht tagtäglich, was sie uns wert sind?“
Danach fehlten sogar Westerhoff die Worte außer: „Das war starker Tobak.“ Martin Tapper, der im Rathaus beschäftigt ist, erwähnte, dass dort (im Unterschied zu den Schulen) keine Eimer stehen, um Regenwasser abzufangen. Er fragte die Anwesenden, was ihnen wichtiger sei – die Schüler oder „ein Oberbürgermeister, der im BMW-Dienstwagen mit Fahrer durch die Gegend kutschiert wird?“

 

Reden und Hören

Was ist die Essenz unserer Analyse des „Hearings“? Ein guter Ansatz: miteinander reden und einander zuhören. Warum waren die anwesenden Jugendlichen und amtlichen wie ehrenamtlichen Sozialarbeiter danach so gefrustet? Der Ton macht die Musik. Die Politik hörte wieder mal vor allem sich selbst zu, sie missbrauchte die Veranstaltung, um schmutzige Wäsche zu waschen; und die „gut gemeinten“ Kommentare zu den vorgebrachten Nöten und Forderungen der Jugendlichen kamen so gewohnt jovial von oben, dass diese sich beim besten Willen nicht ernst genommen fühlen konnten. Von den Jugendlichen kam die Aufforderung, bei der Sache zu bleiben; die Jugendlichen sagten unmissverständlich, wo sie sich angefasst fühlten.

Kinder und Jugendliche als Verwaltungsobjekt. Im Mittelpunkt stand die organisierte Verwahrung, nicht aber die Möglichkeiten zur Eigeninitiative. Und es wurde nicht darüber gesprochen, wie sich das bauliche und ökologische Stadtbild auf die Seele unserer jüngsten MitbürgerInnen auswirkt. Als seien leidlich ausgestattete Einheitsspielplätze und Jugendzentren alles, was die Kids brauchen. Ob ihnen was fehlt in einer Stadt, wo jede unbeplante innerörtliche Grünbrache als unordentliche Baulücke entlarvt und vernichtet wird, wo kein Freiraum zum Träumen, Bauen und Bolzen bleibt, ohne dass ein bezahlter Jugendpfleger daneben steht, fragte keiner.
Siegfried Neumann lobte die „realistischen“ Forderungen seiner Ratskollegen. Kein Sensor für die Phantasie der Jugend, die so realistisch ist, das Unmögliche zu fordern.
Schade. Eine überdurchschnittlich gut besuchte Podiumsdiskussion – und wieder mal die Chance vertan, den Jugendlichen ein Lehrstück in Sachen „demokratischer Diskurs“ zu liefern.

Imke Zwoch

 

 

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