INEOS
Jan 252006
 

Keine rechtfertigende Geschäftsgrundlage!

INEOS-Antrag für neue und erweiterte Produktionsverfahren steht vor der Tür.

(jm) Für die INEOS-Beschäftigten bricht eine Art Adventszeit an: Sie dürfen jetzt hoffen, dass ihre Arbeitsplätze bald sicherer werden. Denn der unters Volk gebrachten guten neuen Mär nach zu urteilen, strebt der Konzern u.a. den Bau eines Ethancrackers und den Anschluss an den Äthylen-Pipelineverbund in Nordrhein-Westfalen an, will das technisch veraltete Chlor-Natronlaugewerk durch eine modernere Anlage ersetzen und die Produktion von Vinyl-Chlorid-Monomer (VCM) sowie Poly-Vinyl-Chlorid (PVC) drastisch erhöhen.

Wieder mal soll ein gigantisches Unternehmen in Wilhelmshaven verwirklicht werden. Doch wie üblich erfährt man nichts darüber, welchen Anteil der Steuerzahler zu diesem Milliardenprojekt beitragen müsste und wie viel davon über Einnahmen (z.B. über die Gewerbesteuer) wieder in die Steuerkassen zurückfließen würde. Nur soviel ist bekannt:
„Bund und Land wollen die Investition mit einer Ausfallbürgschaft absichern. Das Land hat INEOS auch Fördermittel in Aussicht gestellt. Zahlen wollte der Ministerpräsident aber nicht nennen.“ (NWZ, 25.05.05)
Zudem dürfte folgende Klausel aus dem ICI-Ansiedlungsvertrag von 1978 noch immer Gültigkeit haben: Nämlich die Verpflichtung des Landes Niedersachsen, „…dafür zu sorgen, dass ein Anschluß des Betriebsgeländes an ein Äthylenrohrleitungsnetz in Nordsüdrichtung (…) ohne direkte Investitionskosten für die Firma zur Verfügung gestellt wird.“

Kosten-/Nutzen-Rechnung negativ

Schon an den Kosten der ersten Baustufe des ICI-Kombinats vor 25 Jahren war allein das Land Niedersachsen mit mindestens 350 Millionen DM (netto) beteiligt. Bei den jährlichen Gewerbesteuereinnahmen munkelte man zunächst von 6 Millionen DM und später, dass die ICI ihre Abgaben lieber im steuergünstigeren Ausland bezahlen würde. Konkret nachzulesen war allerdings nur allgemein gehaltener Katzenjammer über Mindereinnahmen bei den Gewerbesteuern von der Großindustrie am seeschifftiefen Fahrwasser. Ein Beispiel:
„Der erreichte Status droht wieder zusammenzubrechen. Unsere Gewerbesteuern sind in diesem Jahr von 81 auf 41 Millionen Mark zurückgegangen, weil prognosewidrig auch die Öl- und Energiewirtschaft ,nicht mehr geht’. (…) Denn – so der Oberstadtdirektor – die multinationalen Konzerne als Hauptsteuerzahler hätten aus konzernverständlichen Gründen nicht eigenes, sondern (mit 3%igem Zinssatz vom Land Niedersachsen – der Verf.) geliehenes Geld investiert. Wenn diese kaum noch Gewerbesteuern bezahlen würden – Gewerbesteuern nach Gewinn seien vielfältig manipulierbar – hätte Wilhelmshaven für die Industrieansiedlungen in Partnerschaft mit Bund und Land ,keine rechtfertigende Geschäftsgrundlage’ mehr.“ (WZ-Bericht vom 28.10.1982 über einen Brief vom damaligen Oberstadtdirektor Dr. Gerhard Eickmeyer an den Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl)

Leimrute Arbeitsplätze

Und wie sollen sich die gewaltigen Betriebserweiterungen und Produktionssteigerungen auf die Beschäftigung auswirken? Zurzeit wird der Betrieb lt. INEOS-Angaben von 450 Mitarbeitern in Gang gehalten. 300 sollen lt. Presseberichten dazu kommen und dazu noch 300 „indirekte“ Arbeitsplätze für die Region. Belastbare Quellen werden nicht genannt. Sogar der nds. Ministerpräsident Christian Wulff hängt sich aus dem Fenster: Er rechnet mit 400 bis 500 zusätzlichen Arbeitsplätzen – für die Region! (NWZ, 25.05.05).
Doch die Vergangenheit lehrt uns, dass Arbeitsplatzankündigungen auch von Ämter- bzw. Regierungsseite häufig unseriöse PR-Aktionen sind. Zur Erinnerung dazu einige Beispiele in drei Phasen:

1. Frohe Botschaft

„Wilhelmshavener Grodenfläche in festen Händen. Die letzten 300 ha werden jetzt ausgehandelt
(…) Zwei internationale Unternehmensgruppen konkurrieren um diesen letzten größeren Platz am seeschifftiefen Fahrwasser der Jade. Beide Gruppen sind im petrochemischen Bereich angesiedelt, und beide bringen in etwa die gleiche Produktpalette mit an den Verhandlungstisch, nämlich Grundstoffe der Halbprodukte für die Kunststoffherstellung(PVC).
Die eine Gruppe unter britischer Führung will im Endausbau rund 3000 Menschen beschäftigen und benötigt für die 4-Stufen-Projektion 300 ha Geländefläche.“ (WZ, 11.03.1977)
„Von ICI herzustellende Chemieprodukte bieten für Unternehmen aus dem Weiterverarbeitungsbereich einen Anreiz, sich in der Nähe niederzulassen, das Gleiche gilt für Unternehmen aus dem Zulieferbereich. Damit schafft die Errichtung der petrochemischen Anlagen in einer Art Initialzündung den Grundstein für eine eigenständige positive Wirtschaftsentwicklung, in der staatliche Förderungsmaßnahmen überflüssig werden. In der Regel ist davon auszugehen, dass die Schaffung eines Arbeitsplatzes in der Petrochemie mindestens einen Arbeitsplatz in Folgebereichen nach sich zieht; diese Zahl kann je nach Grad der Weiterverarbeitung auf 5 ansteigen. Durch den von der ICI geplanten Ausbau werden in zehn Jahren also im ungünstigsten Falle etwa 4.000 Arbeitnehmer – davon werden rd. 15.000 bis 20.000 Einwohner des Raumes Wilhelmshaven abhängig sein – Beschäftigung finden.“
(Berichtsentwurf von 1978 „Transport gefährlicher Güter zu den geplanten DFTG-/ICI-Umschlagbrücken“ der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Nordwest)

2. Irritationen am Gabentisch

„Wirtschaftsexperten warnen überdies vor allzu großen Hoffnungen in das Projekt. Zwar verkündete Niedersachsens Ministerpräsident Albrecht, als er den ICI-Vertrag unterschrieb: ,ICI wird für vier Milliarden Mark in etwa 10 bis 12 Jahren die größte Industrieansiedlung des Landes verwirklichen und 2000 Arbeitsplätze schaffen.’ Diese Zahlen waren auch im Vertragstext als Absichtserklärung genannt. Der Chef der deutschen ICI, Professor Peter Schmitt, setzte jedoch nur wenige Tage später den Erwartungen einen Dämpfer auf:
,Diese Summe ist vom Ministerpräsidenten genannt worden, nicht von uns. Wir haben nur erklärt, dass wir in Wilhelmshaven bis 1980 für 800 Millionen Mark Anlagen bauen und 520 Arbeitsplätze schaffen werden.’ (Stern Nr. 9 vom 20.02.1980)

3. Schöne Bescherung

Im Oktober 1981 nahm die ICI die Produktion mit 380 Beschäftigten auf. Zuvor wurden von der schweizerischen Firma Alusuisse die Chlor-/Natronlauge-Fabrik mit einer Produktionskapazität von 170.000 Jahrestonnen (jato) Chlor und 140.000 jato Natronlauge aufgekauft sowie die 120 dort Beschäftigten übernommen. (Die Chlorfabrik war ursprünglich als Vorstufe zu einem Tonerde- bzw. Rohaluminium-Kombinat mit 3.000 angekündigten Beschäftigten geplant worden…)
Schon bald erreichte man mit 300.000 jato VCM und 115.00 jato PVC die Produktionskapazitäten der ersten Ausbaustufe. 1987 wurde die Produktionserhöhung auf 380.000 jato VCM und 180.000 jato PVC beantragt und daraufhin genehmigt. Und trotz Ausbau der VCM-/PVC-Produktionskapazitäten wurden Arbeitsplätze eher abgebaut, und in der Weiterverarbeitung sind erst gar keine entstanden:
„Personalabbau bei ICI stärker als befürchtet / 20 Prozent sollen gestrichen werden
Wie Wilhelm Jürgens vom ICI-Betriebsrat gestern mitteilte, will die Unternehmensleitung bis Ende 1995 insgesamt 70 Stellen streichen. Da die Mitarbeiterzahl bereits seit Oktober 1993 von damals 461 um 25 Beschäftigte reduziert worden sei, bedeute dies einen Abbau von 20 Prozent in gut zwei Jahren.“ (WZ, 22.04.1994)
In den folgenden Jahren wurde die genehmigte Jahresproduktion des heute unter dem Namen INEOS firmierenden Anlagenbetreibers auf bis zu 420.000 t VCM und 380.000 t PVC erhöht. Die Chlor-/Natronlaugeproduktion dürfte auf gleichem Stand geblieben sein…

Aktion Panthersprung

INEOS will mit erheblicher Unterstützung des Steuerzahlers offenbar zu einem Gewaltsprung ansetzen:

  • Sowohl die VCM- als auch die PVC-Anlage sollen auf eine Produktionskapazität von jeweils 620.000 jato erweitert werden
  • Die alte Chlor-/Natronlaugefabrik auf dem Rüstersieler Groden soll durch ein neues – in enger Nachbarschaft zu den VCM-/PVC-Anlagen gebautes – Werk ersetzt werden. Die neue Anlage mit einem Jahresausstoß von 400.000 t Chlor soll mittels des umweltverträglicheren Membranverfahrens betrieben werden. (Ein Teil davon dürfte verkauft und auf dem Schienenwege abtransportiert werden.) Der alte mit dem Amalgamverfahren arbeitende Quecksilberemittent und die 12 km lange Chlorgasleitung durch den Rüstersieler und Voslapper Groden sollen dann endlich außer Betrieb gesetzt und abgerissen werden.
  • Die ca. 200.000 t Trockensalz zur Chlor-/Natronlaugeerzeugung, die bislang noch per Schiff importiert werden müssen, sollen zukünftig durch Ausspülungen von Salzstöcken bei Etzel oder Jever bzw. im Wilhelmshavener Kavernenfeld Rüstringen gewonnen werden. Über eine bis zu 25 km lange zweisträngige Sole-Pipelinestrecke soll das verflüssigte Salz zum Werk gepumpt und das entsalzte Wasser zurück in die ausgespülten Hohlräume der Salzstöcke gepumpt werden.
  • Das Vorprodukt Äthylen, das INEOS bislang importieren muss, will der Konzern zukünftig aus dem im Nordsee-Erdgas enthaltenen Ethananteil durch den Neubau eines Crackers selbst herstellen. Dazu müsste die so genannte Euro-Pipe bei Dornum/Ostfriesland angezapft und der Ethananteil in einer dort zu errichtenden Gasseparierungsanlage abgetrennt werden. Über eine 45 km lange Pipeline könnte das Ethan dann zum Ethancracker gepumpt werden. In einer ersten Ausbaustufe soll der Cracker 750.000 jato Äthanol produzieren. Davon 350.000 t für die Eigenproduktion von VCM und 400.000 für den Verkauf (denkbar wäre auch der Verkauf in Form von Überschussproduktion des Zwischenproduktes 1,2 Dichlorethan).
  • Für den Äthylentransport zu den Käufern will man sich per 275 km langer Rohrleitung bei Gelsenkirchen an das dortige Pipelinenetz anschließen.
Gewöhnungstier Mensch

Was kommen da für zusätzliche Risiken und Belastungen auf uns zu? Wir haben uns zwar nach 25 Jahren Betriebsdauer an den Chemiegiganten gewöhnt und die Störfälle und Verfehlungen waren offenbar nicht nachhaltig genug, um sich im kollektiven Gedächtnis festzusetzen:

  • Verpuffung in der VCM-Anlage mit Abblasen von ca. 400 kg Chlorwasserstoff und 15 – 20 t Katalysatorstaub mit Aluminiumoxyd und Kupferchlorid am 01.12.1981
  • Unkontrollierter Austritt von ca. zwei Tonnen 1,2 Dichlorethan (EDC) in die Jade am 05.11.1990
  • Zwei Chlorgasausbrüche auf dem Rüstersieler Groden am 25.06.1993
  • Sauerstoffleitung der VCM-Anlage durch Überdruck geplatzt. Pulverförmiges Aluminiumoxyd und Kupferchlorid vom SW-Wind in Richtung Hooksieler Hafen getrieben am 19.10.1998

Auch an die Strafanzeigen wegen

  • Überschreitung der erteilten Einleitbedingungen von Quecksilber in die Jade im Jahr 1984
  • Anlieferung dioxinhaltiger Abfallschlämme auf der Sondermülldeponie in Ochtrup 1994

dürfte sich kaum noch jemand erinnern.
Es hätte weit schlimmer kommen können, z.B. bei den Gefahrguttransporten durch Sande, die scheinbar aus dem Bewusstsein gelöscht worden sind. Und noch ist nicht bekannt, was durch die Produktionsausweitung an zusätzlichem Gefahrgut durch friesische Lande rollen würde…
Genauso vergessen sind die Warnungen von Umweltorganisationen und Chemiefachleuten wie z.B. Imre Kerner, der Anfang Februar 1983 auf einer Veranstaltung in Wilhelmshaven vor der Wirkung von Chlorkohlenwasserstoffen gewarnt hat. Diese würden unter Einwirkung von Licht und Wärme so lange zerfallen, bis sich Verbindungen ergeben, die so stabil sind, dass sie weder durch Licht noch durch Wärmeentwicklung zerfallen. Diese Stoffe, allen voran das Nervengift Dioxin, haben eine Krebs erzeugende und Krebs fördernde Wirkung, sind für Chromosomenschäden und Mutationen verantwortlich.

Chlorkohlenwasserstoffe werden nicht nur bei der Produktion von EDC und VCM freigesetzt.

Weil PVC von der Produktion bis zum Wegwerfen problematisch ist, ist seit den achtziger Jahren ein ganzer Chor warnender Stimmen laut geworden, die vor diesem Stoff warnen:

  • Umwelt- und Verbraucherverbände haben vor in PVC verpackten Lebensmitteln und vor Kinderspielzeug aus PVC gewarnt.
  • Toxikologen wiesen auf die Bildung von Chlorwasserstoff und Dioxinen sowohl bei Wohnungsbränden als auch bei der Müllverbrennung hin usw.

Umweltverbände forderten aus den diversen Gründen den Ausstieg aus der PVC-Produktion.
Doch auf der Suche nach Ersatzstoffen zeigt sich schon bald, dass es kaum noch einen Bereich gibt, den dieser Kunststoff nicht erobert hat. Bislang ist noch kein Ersatzstoff erfunden worden, der PVC in seiner gesamten Anwendungsbreite ersetzen kann. Doch es gäbe die Möglichkeit, ihn langsam zurückzudrängen:

  • In Deutschland hatten sich 80 Gemeinden – darunter Schortens, Jever und Sande – zu „PVC-freien Zonen erklärt“.
  • Die Polybetahydroxybuttersäure (PHB) kam als Ersatzstoff insbesondere für den Verpackungsbereich ins Gespräch. Die ICI selbst hat mit dem Stoff unter dem Namen Biopol experimentiert.
  • PVC-Produkte sollten für den Verbraucher gekennzeichnet werden.

Mit dem eingängigen Schlagwort „PVC bedeutet Probleme vom Chlor“ brachte man die Risiken des Umgangs mit Chlorkohlenwasserstoffen auf den Punkt…
Dazu ein Statement der Gegenseite in Person des ehemaligen ICI-Managers Dr. Gerhard Czieslik zum PVC-Produkt:
„Diese Gesellschaft lebt mit den Vorteilen dieses Materials, dann muss sie auch mit den Nachteilen leben können.“ (WZ, 25.05.1989)

Sorry, the comment form is closed at this time.

go Top