Hilflose Helfer
Okt 012002
 

Warum Mitmenschlichkeit auf Hindernisse stoßen kann

(iz) Fast jeder ist schon mal über einen Mitmenschen gestolpert, der hilflos auf der Straße liegt. Mancher sieht weg, aber (hoffentlich) die meisten rufen einen Rettungswagen, die Polizei oder andere Unterstützung herbei. Und können es nicht begreifen, wenn ihr Hilferuf auf taube Ohren stößt. Wir haben die Hintergründe erfragt.

Anlass ist ein Vorfall vom 2. September, den uns ein Leser schilderte:

 „Gegen 12.15 Uhr ging ich über den Rathausplatz und sah direkt vor dem Finanzgebäude in der Ecke beim Wahlamt einen Mann (ca. Anfang 30) liegen. Zwei Personen standen neben ihm. Der Mann war nicht ansprechbar, volltrunken, sah in die grelle Mittagssonne, so als würde er das gar nicht mehr registrieren. Eine Zeitlang stellte ich mich dann vor ihn, um seine Augen zu schützen. Die meisten Leute gingen achtlos vorbei.

Eine der beiden Personen, die bereits bei ihm waren, hatte um 12.13 Uhr die Feuerwehr unter Notruf 112 gerufen. Die wollten gleich kommen. Gegen ca. 12.35 Uhr rief er in meinem Beisein erneut die Feuerwehr. Die Feuerwehr antwortete sinngemäß, die Polizei sei auch schon angerufen worden, der Mann sei bekannt, sie würden nicht kommen.
Zwischenzeitlich kam auch ein Bekannter von mir vorbei und verstand ebenfalls nicht, warum die Polizei nicht kam. Dann kamen zwei junge Frauen (wahrscheinlich aus dem Wahlamt) und sagten mir, sie hätten einen Krankenwagen gerufen, der käme immer noch nicht. In dem Augenblick fuhr ein Polizeiwagen auf den Rathausplatz und parkte vor dem Cityhaus. Eine der beiden jungen Frauen ging zu den gerade aussteigenden Polizeibeamten, da wir der Meinung waren, die hätten sich etwas verfahren. Ich selbst winkte zu den Beamten, damit sie zu dem hier liegenden Mann kommen. Zunächst gingen sie tatsächlich ca. 10 Schritte auf uns zu, drehten dann wieder um, gingen ins Cityhaus und fuhren danach wieder weg.
Danach sahen wir, wie aus zwei Fenstern im ersten Geschoss des Finanzamtes direkt in Höhe des auf dem Pflaster liegenden Mannes zwei Mitarbeiter uns zuriefen, sie hätten schon bei der Polizei angerufen. Die Polizei würde nicht kommen, erklärten die beiden. Einer stellte die Frage, ob hier nicht unterlassene Hilfeleistung seitens der Polizei vorliegt und so wie ich ihn verstanden hatte, hat er diese Frage sogar der Polizei gestellt und zur wohl sinngemäß zur Antwort bekommen, der Mann könne sich auf dem Rathausplatz ausschlafen.“

Wie wird mit Hilfsbedürftigen verfahren?

Wir fragten zunächst bei der Polizei nach. Pressesprecher Hans-Gerd Ahlrichs teilte uns mit, dass grundsätzlich, wenn solche Anrufe bei der Leitstelle eingehen, ein Streifenwagen geschickt wird . In der Regel ist er binnen zehn Minuten am Ort des Geschehens. Nur wenn alle Wagen anderweitig eingesetzt sind, könne es zu Verzögerungen kommen. Er schilderte eine häufige Situation: Ein Obdachloser / Alkoholkranker sitzt auf einer Parkbank. Die von Dritten gerufenen Beamten überzeugen sich vor Ort, dass ihm nichts passieren kann, und lassen ihn sitzen. Kurz danach der nächste Anruf für dieselbe Person, die sich vielleicht mittlerweile zum Schlafen hingelegt hat: Dann gibt es keine erneute Überprüfung. Für manche „Kunden“ (Red.) geht laut Ahlrichs fast täglich ein Anruf ein.
Ein Mitarbeiter der Diakonie gab uns folgende Auskunft: Wenn so aufgefundene Personen dort hingebracht werden, erhalten sie Beratung im Tagesaufenthalt, Reisende auch ihren Tagessatz an Sozialhilfe. Alkoholiker bzw. Polytoxikomane würden die Hilfe häufiger in Anspruch nehmen. Bei Eigenverschulden des Betroffenen geht die Rechnung für den Rettungsdienst direkt an ihn oder sie; die Kostenübernahme kann dann schwierig werden.
Das städtische Ordnungsamt konnte uns nicht direkt weiterhelfen, da es nur für Obdachlose zuständig ist. Der Mitarbeiter informierte jedoch von sich aus die Feuerwehr, die sich schon bei uns meldete, ehe wir von uns aus anriefen. Michael Weiser, dort u. a. zuständig für die Organisation des Rettungsdienstes, versicherte uns, dass alle Personen – ob verletzt oder alkoholkrank – dort gleich behandelt werden. Der Rettungswagen fährt auf Anfrage in jedem Fall hin und prüft, ob ein Krankentransport bzw. ärztliche Hilfe erforderlich ist. In der Regel kommen die Leute ins Krankenhaus, erforderlichenfalls in psychiatrische Behandlung. Falls dies nicht der Fall ist, wird der Kunde auf Wunsch bzw. ärztlichen Rat auch nach Hause gebracht. Im Einzelfall geht es mit dem Taxi zur Diakonie.
Für die Bereitstellung, also die Anfahrt des Rettungswagens (ohne anschließenden Transport) werden 91,- Euro berechnet; für den Rettungstransport 145 Euro. Wird ein Notarzt dazu geholt, betragen die Gesamtkosten 373,- Euro (jeweils inkl. MWSt.) Aus rechtlichen Gründen zieht die Feuerwehr immer einen Arzt hinzu.
Normalerweise werden die Kosten von der Krankenkasse oder, falls der Betroffene nicht versichert ist, vom Sozialamt übernommen. Es kommt aber auch vor, dass die Forderungen niedergeschlagen werden, der Rettungsdienst also auf seinen Kosten sitzen bleibt; für Weiser aber kein Grund, nicht jedem Hilferuf erst einmal nachzugehen.

Warum blieb hier die Hilfe aus?

Laut Weiser kann es (wie bei der Polizei) zu Engpässen bei Fahrzeugen und Personal kommen, so dass eine sofortige Reaktion auf den Notruf nicht möglich ist. Ebenso wird nicht mehr ausgerückt, wenn eine Person bereits untersucht und als nicht hilfebedürftig eingestuft wurde und dann wegen derselben Person erneut angerufen wird. Als Beispiel nannte er eine „Fete“ von sechs Obdachlosen im „Knochenpark“ an der Gökerstraße, deren Teilnehmer schließlich bewegungslos herumlagen, weshalb verschiedene besorgte Mitbürger unentwegt anriefen. Die Fete wurde deshalb schließlich „aufgelöst“.
Herr Weiser wollte mit seinem Disponenten besprechen, weshalb am 2.9. mittags kein Fahrzeug ausrückte. Auch Herr Ahlrichs von der Polizei wollte diesen konkreten Fall überprüfen lassen. Bis Redaktionsschluss lagen uns hierzu noch keine neuen Informationen vor. Es lässt sich also nur vermuten, dass Feuerwehr und / oder Polizei wegen dieser Person am selben Tag bereits vor Ort gewesen sein müssen; auf Grund einer „Ferndiagnose“ dürften sie den Betroffenen nach eigenen Angaben nicht einfach liegen lassen.
Auf jeden Fall haben die Informationen, die wir von unserem Leser erhalten haben, und dann unsere Nachfragen Bewegung in die Sache gebracht. Das Ordnungsamt hat ohne unser Zutun die Feuerwehr informiert und diese hat von sich aus Kontakt zu uns aufgenommen. Der Fall soll überprüft werden, und alle Angesprochenen waren sich einig: „Im Zweifelsfall immer anrufen!“ Der Anrufer wird, wie Herr Weiser betonte, bei Einsätzen, die sich im Nachhinein als überflüssig erweisen, nicht für die entstandenen Kosten herangezogen.
Vermutlich wird es so schnell nicht wieder passieren, dass die Hilfe ausbleibt bzw. die Anrufer einfach abgebügelt werden, ohne sie über die Hintergründe zu informieren.

Kommentar:

Hilfreiche Botschaften
MitarbeiterInnen sozialer Einrichtungen sind einige wenige „schwarze Schafe“ bekannt, denen es selbstverständlich erscheint, regelmäßig per Krankentransport nach Hause gebracht zu werden (sofern sie ein Zuhause haben). In einem bekannten Fall häufen sich in der Wohnung die Rechnungen für die Transporte, die er nicht bezahlen kann bzw. gar nicht mehr wahrnimmt. Man sollte sich jedoch hüten, solche Fälle als „Schmarotzer“ zu verurteilen. Diese Menschen leben abseits der „normalen“ Gesellschaft und sind häufig seelisch krank bzw. abhängig von Alkohol oder anderen Drogen. Für jene, die sich mit ihnen befassen (müssen), sind sie anstrengend, aber nicht untragbar für eine Gesellschaft, die an ihrem Zustand nicht unschuldig ist.
Hilfsbereitschaft im Alltag ist leider keine Selbstverständlichkeit. Um so mehr sollte sie honoriert werden. Da stimmt uns auch der Pressesprecher der Polizei zu. Die Gründe, weshalb „Dauerkunden“ von Polizei und Rettungsdiensten liegen gelassen werden, sind nachvollziehbar – sofern der Gesundheitszustand bereits aktuell überprüft wurde. Für hilfsbereite MitbürgerInnen ist es jedoch die falsche Botschaft, wenn dies kommentarlos geschieht. Soviel Zeit muss sein, ihnen die Hintergründe, die wir hier zusammengetragen haben, zu schildern – und ihnen ausdrücklich für ihr Engagement zu danken.

Imke Zwoch

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