Systemfehler
Die Stadt Wilhelmshaven will sich noch nicht geschlagen geben – die Arbeitslosen müssen weiterhin verzichten
(noa) Bis letzten Monat war der GEGENWIND überwiegend allein mit der Berichterstattung über das Thema „Kosten der Unterkunft“ für die EmpfängerInnen sozialer Transferleistungen. Im Februar, als das Urteil des Landessozialgerichts vom 11.12.08 schriftlich vorlag, änderte sich das.
Die Wilhelmshavener Zeitung (WZ) berichtete am 23.02. über das Urteil. Die Arbeitsloseninitiative veranstaltete eine Pressekonferenz, über die die WZ am 26.02. schrieb. Der Sozialausschuss sprach sich dafür aus, gegen das Urteil Revision einzulegen; am 27.02. gab es darüber gleich zwei Artikel in der WZ. Am 28.02. gab es einen Kommentar des Chefredakteurs. Fünfmal die Kosten der Unterkunft innerhalb einer Woche in der WZ – das hat es noch nie gegeben! Und in der folgenden Woche ging es gleich weiter mit der Berichterstattung.
Dabei gab es eine Kuriosität: Jens Stoffers, der Sozialdezernent der Stadt und als solcher mit dem Thema KdU befasst, ließ verbreiten, dass die Stadt „in den meisten Punkten obsiegt habe“. Wie soll man das verstehen?
Wir haben in unserer letzten Ausgabe aus dem Urteil zitiert: „aa) Die Ermittlungen des Beklagten beruhen … auf einer ausreichenden Datengrundlage. … bb) Es begegnet auch keinen durchgreifenden Bedenken, dass die Ermittlung der Unterkunftskosten nicht durch eigene Mitarbeiter des Beklagten, sondern durch Mitarbeiter der kommunalen Kostenträgerin, der Stadt Wilhelmshaven, durchgeführt worden ist. … cc) Die von Mitarbeitern der Stadt Wilhelmshaven durchgeführten Ermittlungen beruhten auch auf einem schlüssigen Konzept. …“
Alles prima beim Vorgehen der Stadtverwaltung. Nur das Entscheidende war falsch: Mit den von den richtigen Leuten richtig erhobenen richtigen Daten hat die Stadt etwas Falsches gemacht und ist dadurch auf ein falsches Ergebnis gekommen. Wie man angesichts dessen behaupten kann, in vielen Punkten obsiegt zu haben, ist vollkommen unklar. Auch Alfred Kroll, der Anwalt, der das Musterverfahren geführt hat und der ALI-Versammlung am 10. März das Urteil erläuterte, schien darüber fast ein wenig fassungslos.
Die Revision, die das Job-Center nun beim Bundessozialgericht einlegen wird, so schätzt Kroll das ein, hat keine Aussicht auf Erfolg. Bei einer Revision geht es nicht um den Inhalt des angefochtenen Urteils, sondern darum, ob das Verfahren korrekt gelaufen ist und derlei formale Fragen. Wer das Urteil genau durchliest, wird feststellen: Das Landessozialgericht hat alle Beweismittel berücksichtigt, jeden Vortrag gewürdigt und sich bei der Urteilsbegründung auf höchstrichterliche Rechtsprechung bezogen. Stoffers sieht jedoch einen „Systemfehler“ im Urteil, wozu Kroll meint, der Systemfehler liege eher bei Stoffers selber.
Uwe Reese, SPD-Ratsherr, war bei dieser ALI-Versammlung, und er warf Kroll vor, die Sache zu „emotionalisieren“. Offenbar kann er das alles ganz leidenschaftslos sehen, aber immerhin brachte er gute neue Mär: Die betroffenen Erwerbslosen haben endlich im Rat der Stadt Unterstützung dazugewonnen. Johann Janssen von der LAW war bisher der einzige, der die Interessen der Hartz IV-Betroffenen im Rat vertrat, und nun, so Reese, ist auch die SPD dafür, dass diese ihre Miete bezahlt bekommen. „Die SPD kämpft für die Armen“, sagte Reese.
Ob das jedoch irgendetwas hilft, ist fraglich. Die Frage, ob Revision gegen das Urteil eingelegt wird, soll nicht im Rat entschieden werden. Im Rat könnte sich wohl eine Mehrheit für die Rücknahme der Revision finden, die aber laut WZ vom 20. März schon beschlossene Sache ist.
Laut Angaben von Stoffers gegenüber der WZ sind 1500 Bedarfsgemeinschaften von dem Thema betroffen, und in den beiden Fällen, die jetzt am 11.12.08 entschieden wurden, waren die Kläger sogar sehr massiv betroffen: Sie erlitten faktisch eine 25%ige Regelsatzkürzung. (Das Urteil des zweiten Verfahrens – Az: L 13 AS 210/08 -, das gleichzeitig verhandelt wurde, ist jetzt auch geschrieben worden. Es betrifft einen allein lebenden Mann, der monatlich 86,50 Euro aus dem Regelsatz zur Miete beitragen musste – d.h., es blieben ihm nur 264,50 Euro zum Leben!)
Ja, stimmt: Da wird Alfred Kroll emotional. Er spricht vom Artikel 1 des Grundgesetzes, in dem es um die Würde des Menschen geht, erinnert an die §§ 20 und 35 SGB X, in denen die Verpflichtung der Ämter zu transparentem und fairem Verwaltungshandeln gefordert wird, rügt das Job-Center Wilhelmshaven, das bewusst von der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts abgewichen ist und fragt schließlich, ob das Verhalten der Amtsträger hier nicht Konsequenzen haben muss. Eine seiner Ideen dazu geht in Richtung Untersuchungsausschuss. Die Frage in einem Untersuchungsausschuss könnte lauten, inwieweit das Job-Center über Jahre hinweg die Sozialgerichte an der Nase herumgeführt hat. Immer wieder sind die Vertreter des Job-Centers gefragt worden, wie sie zu ihren Miethöchstgrenzen gekommen sind, und „das Job-Center hat die Katze vier Jahre lang im Sack gelassen“, wie Kroll es ausdrückt. Dass bei deren Berechnung 40 statt 50 Quadratmeter zugrunde gelegt worden sind, hat die Behörde erstmalig am 11. Dezember vorgetragen. Und hier sieht Kroll einen Verstoß gegen die prozessuale Wahrheitspflicht und fragt, ob die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen werden können.
Für die Wilhelmshavener Öffentlichkeit – also z.B. in der WZ-Berichterstattung – sieht es so aus, als sei Jens Stoffers federführend in der Frage der KdU. Wolfgang Burkert, der Geschäftsführer des Job-Centers, kam in den letzten Wochen nicht einmal zu Wort. Auf einer ALI-Versammlung hat er einmal gesagt, seine Behörde tue in dieser Frage das, was die Stadt vorgibt. Gehen wir also mal davon aus, das es um Stoffers geht: Man könnte in einem Untersuchungsausschuss auch die Frage aufwerfen, inwieweit es in Ordnung ist, mit dem eigenen Verwaltungshandeln einer anderen Behörde ständig Kosten zu verursachen, denn vor Gericht steht jeweils das Job-Center, und es zahlt auch jeweils die Gerichtskosten aus seinem Verwaltungsetat, also zu Lasten z.B. seiner Personalausstattung.
Die bei der ALI-Versammlung Anwesenden hatten aber ganz andere Fragen: Was ist mit den Empfängern von Grundsicherung? Da die Frage der Unterkunftskosten im SGB II und im SGB XII deckungsgleich gefasst ist, kann das Urteil, wenn es dann endlich rechtskräftig wird, 1:1 auf GrundsicherungsempfängerInnen übertragen werden – es werden also zu den von Stoffers angegebenen 1500 Bedarfsgemeinschaften noch einige Menschen mehr dazukommen.
Was ist mit den Heizkosten? Die müssen in tatsächlicher Höhe übernommen werden.
Kann man eigentlich Zinsen für das ganze vorgestreckte Geld verlangen? Ja, 4% Verzinsung ist üblich, wenn man in Vorlage gehen muss.
Reicht es, wenn man das Revisionsurteil abwartet, bevor man seine Ansprüche geltend macht? Nein, einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X kann man nur vier Jahre rückwirkend stellen – dann allerdings noch das ganze Jahr. Was wir in der letzten Ausgabe geschrieben haben („Auf jeden Fall müssen Betroffene das jetzt schnell machen. Überprüfungsanträge kann man nämlich nur vier Jahre rückwirkend stellen, und das heißt, dass man jetzt noch alle Bescheide ab Mitte Februar 2005 überprüfen lassen kann“), stimmt also so nicht – die Betroffenen haben noch bis Ende 2009 Zeit, diesen Antrag zu stellen.
Offenbar tun aber viele es zurzeit schon. Bei Job-Center reagiert man jedenfalls schon ganz nervös auf den Flugblattverteiler der LINKEN, die unter dem Titel „Kein Geld verschenken – Überprüfungsantrag stellen“ erklärt, wie’s geht.
Was hat die Stadt von der Revision, wenn sie sie doch bestimmt verlieren wird? Das könnte mit der begrenzten Möglichkeit einer Überprüfung vergangener Bescheide zu tun haben: Wer tatsächlich das Revisionsurteil abwartet, bevor er den Überprüfungsantrag stellt, kommt auf jeden Fall zu spät, denn zwei Jahre dauert das gewiss – da könnte die Stadt eine Menge Geld sparen.
Muss die Stadt denn nicht allen, denen sie seit 2005 Geld vorenthalten hat, unaufgefordert und ohne Antrag diese einbehaltenen Summen geben? Diese Frage der Gegenwindlerin rief nur schallendes Gelächter hervor.
fand am 24.03.09 eine Veranstaltung des Arbeitskreises Frauen und Gesundheit. Ein Vortrag der Wilhelmshavener Ärztin Dr. Antje Zitzelsberger zu Depressionen war so gut besucht, dass Dutzende von Interessierten schlichtweg keinen Platz im Saal fanden und wieder weggeschickt werden mussten. Das große Interesse an diesem Thema verwundert nicht: Jüngste Untersuchungen haben ein Anwachsen psychischer Erkrankungen seit Hartz IV erwiesen – nicht nur unter Langzeitarbeitslosen, sondern auch unter Menschen, die noch in Arbeit stehen, den Druck drohender Arbeitslosigkeit und damit verbundener Armut aber spüren. Wie die anderen, die keinen Platz mehr fanden, hofft auch die Gegenwindlerin, die vergebens gekommen war, auf eine Wiederholung der Veranstaltung. (noa)
erzähle ich gerne weiter: Ermutigt durch unsere Berichterstattung über erfolgreiche Widersprüche und Klagen im Zusammenhang mit Hartz IV traute sich auch W. H. aus Wilhelmshaven, sich zu wehren. Ganz allein, also ohne ALI oder Anwalt, klagte er gegen das Job-Center, das ihm die Erstattung von Bewerbungskosten und die Zahlung von Nebenkosten für seine Wohnung wie auch eines Teil der Unterkunftskosten verweigert hatte. Innerhalb einer halben Stunde wurden jüngst vor dem Sozialgericht die drei Klagen verhandelt und zu Gunsten des Arbeitslosen entschieden. Gut 420 Euro, die das Job-Center ihm vorenthalten hatte, konnte er so erstreiten – das ist mehr als der Regelsatz für einen Monat. (noa)
Beratung der Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland
Jever: Jugendhaus, Dr. Fritz-Blume-Weg 2, jeden 1. und 3. Donnerstag im Monat von 14.30 bis 16.30 Uhr
Sande: Jugendzentrum, Hauptstraße 78, jeden 2. und 4. Donnerstag im Monat von 14.30 bis 16.30 Uhr
Varel: DGB-Büro, Hansastraße 9a, jeden 1. und 3. Dienstag im Monat von 9.00 bis 12.00 Uhr
Wilhelmshaven: Gewerkschaftshaus, Weserstraße 51, jeden Montag und Donnerstag von 9.00 bis 12.00 Uhr
Monatsversammlung: jd. 2. Dienstag im Monat
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