Hartz IV
Mai 142012
 

Regelsätze verfassungswidrig

Ein deutsches Sozialgericht findet die Hartz IV-Regelsätze verfassungswidrig

(noa) Man musste schon höllisch aufpassen, damit diese Information nicht einfach so an einem vorbeirauschte – es wurde kurz in den Fernsehnachrichten erwähnt, ansonsten aber verschwiegen. Am 25. April stellte die 55. Kammer des Sozialgerichtes Berlin fest, dass die Hartz IV-Regelsätze verfassungswidrig sind.

Eine dreiköpfige Familie aus Berlin-Neukölln hatte gegen das Jobcenter Neukölln geklagt: Wie sehr sie auch sparen – das Hartz IV reicht nicht zum Leben. Und das Gericht Berlin schloss sich dieser Auffassung an. „Die 55. Kammer des Sozialgerichts Berlin … kam … zu der Überzeugung, dass die Kläger zwar nach den ab 2011 gültigen SGB II-Vorschriften keine höheren Leistungen beanspruchen könnten. Diese Vorschriften seien jedoch mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Die Richter haben das Verfahren daher ausgesetzt und die Frage der Verfassungsmäßigkeit des aktuellen Regelsatzes dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.“ (aus der Presseerklärung des Sozialgerichts Berlin)
Mit seinem Urteil vom 9. Februar 2010 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Art und Weise der Berechnung der Regelsätze nach dem SGB II („Hartz IV“) nicht korrekt sei. Dem Gesetzgeber wurde auferlegt, bis zum 31. Dezember 2010 eine transparente, den gesetzlichen Vorschriften entsprechende Neuberechnung vorzulegen.
Die Regierung ließ sich erst einmal Zeit. Wenn jemand nachfragte, sagte Frau von der Leyen, man warte den ohnehin im Herbst fälligen Bericht des Statistischen Bundesamtes ab. Und kurz vor knapp kam dann die große Überraschung, von der Ministerin vor den Fernsehkameras mit großen Augen vorgetragen: Man habe nun transparent und genau gerechnet, und siehe da, man sei auf fünf Euro mehr gekommen, jedenfalls für Erwachsene. Die Kinderregelsätze seien sogar eigentlich zu hoch, aber man wolle da nicht kürzen. Und für die Teilhabe der Kinder an Bildung und am sozialen Leben wolle man sich noch etwas ausdenken.

Die Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland hat sich seither auf mehreren Monatsversammlungen mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und den Folgen daraus beschäftigt.

Damals hoffte man, das Bundesverfassungsgericht würde direkt angerufen werden, um den erneuten Gesetzesbruch sofort anzuprangern. Für Fälle wie diesen gibt es die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde. Dazu wäre es nötig gewesen, dass 25 % aller Bundestagsabgeordneten sich zu diesem Zweck zusammengetan hätten. Doch da einige SPD-Ministerpräsidenten ganz vorwitzig meinten, das mit der Teilhabe und der Bildung der Kinder könnten sie besser als das Arbeits- und Sozialministerium, und sich in die Ausgestaltung des Bildungs- und Teilhabepakets einbinden ließen, war die SPD für die Verfassungsbeschwerde verloren, und der Rest der Opposition reichte nicht aus für die Verfassungsbeschwerde. Und so blieb eben nur der längere und schwerere Weg (von dem wir nicht wissen, wie viele ihn gegangen sind): Widerspruch gegen den Bescheid wegen der Höhe des Regelsatzes und Klage gegen den Widerspruchsbescheid.

Der Beschluss vom 25. April ist der erste Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht bezüglich der Höhe des Regelsatzes. Eine andere Kammer des Sozialgerichts Berlin sowie die Landessozialgerichte Baden-Württemberg und Bayern, bei denen entsprechende Klagen geführt wurden, fanden den Regelsatz verfassungskonform. Es lohnt sich also, diesen Beschluss der 55. Kammer genauer anzuschauen.

Die Höhe des Regelsatzes ist nicht evident verfassungswidrig, sagt die Kammer, aber: Die Berechungsweise ist zu kritisieren. Und hier nennt das Gericht alle die Punkte, die je und je auch im Gegenwind aufgezeigt worden sind: die Heranziehung nur der einkommensmäßig unteren 15 (statt 20) % der Menschen, die willkürliche Herausrechnung einzelner Ausgabeposten wie Schnittblumen und Bewirtungskosten, damit die Verweigerung der Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe.
Im Unterschied z.B. zur ALI Wilhelmshaven/Friesland, die allein bei dem im Regelsatz für die Ernährung  vorgesehen Betrag ein Manko von 80 Euro sieht, hat die Berliner Kammer enger gerechnet. Sie kommt auf einen Fehlbetrag von 36.07 Euro für eine Einzelperson (für die klagende dreiköpfige Familie auf eine Unterdeckung des Bedarfs in Höhe von ca. 100 Euro). Das ist aber wahrscheinlich gleichgültig. Die Hauptsache ist, dass endlich ein Gericht einen Vorlagebeschluss gefasst hat und dem Bundesverfassungsgericht nun die Gelegenheit gibt, dem Gesetzgeber auf die Finger zu klopfen. Ohne diesen Vorlagebeschluss (oder eine Verfassungsbeschwerde, die – s.o. – ja leider nicht zustande kam) kann das Bundesverfassungsgericht dem Parlament bzw. dem Ministerium nämlich nicht sagen: „Hey, so haben wir das aber nicht gemeint!“

Was bedeutet das nun für die einzelnen Alg II-BezieherInnen?
Ernst Taux, der bei der ALI-Monatsversammlung Mai über diesen Gerichtsbeschluss berichtet hat, findet es richtig, gegen jeden Bewilligungsbescheid Widerspruch einzulegen. Zwar wird das Job-Center daraufhin nicht mehr Geld bewilligen – insofern ist jeder Widerspruch vergebliche Liebesmüh.- doch da der Regelsatz nun mal zu niedrig ist und sein Zustandekommen nicht den gesetzlichen Vorgaben entspricht, müsste eigentlich jeder Betroffene das auch ausdrücken.

SPD-Ratsherr Uwe Reese, der auch diesmal wieder die ALI-Versammlung besucht hat, fand diese Idee weniger gut: Die Beschäftigten des Job-Centers seien auch ohne vergebliche Widersprüche stark belastet, wenn nicht überlastet, da müsse man ihnen das nicht antun.
Und in die Diskussion darüber, ob das tatsächlich die Sorge der Hartz IV-Abhängigen sein kann, warf eine Besucherin ein: Statt für eine Erhöhung des SGB II-Satzes zu kämpfen, solle man lieber mit den Piraten für das bedingungslose Grundeinkommen kämpfen – wenn schon Kampf, dann gleich für das Richtige. Gegen die Idee, sich hierfür einzusetzen, gab es keine Einwände aus der Versammlung, wohl aber gegen die mitgemeinte Vorstellung, das Grundeinkommen sei eine Erfindung der Piratenpartei. Seit 30 Jahren schon gibt es die Diskussion darüber, wurde die Kollegin belehrt, und so kam es zum Vorschlag, dass die ALI demnächst mal dieses Thema gründlich beleuchtet und die verschiedenen Konzepte zum Grundeinkommen in einer Versammlung behandelt.

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