„Ich teile Ihre Befürchtung“
Interessante Einblicke in Hartz IV aus dem Blickwinkel der „Gegenseite“
(noa) In der März-Versammlung der ALI plauderte Rainer Adler, Leiter des „Rest-Sozialamtes“ Varel, aus der Schule – die Sozialämter sind durch Hartz IV stark betroffen, und nicht nur unseres hier in Wilhelmshaven ist verwaist.
Von ca. 500 „Fällen“ sind dem Sozialamt Varel nur 4 geblieben, berichtete Adler. Ist da doch „Missbrauch“ zu erkennen? Die „WZ“ hat ja am 2. März unter der Überschrift „Missbrauch der Sozialämter nicht zu erkennen“ den hiesigen Arbeitsmarkt-Experten eine Gelegenheit gegeben, der Behauptung des Wirtschaftsministers zu widersprechen, die Sozialämter hätten ihre Hilfeempfänger an die Arbeits-Agentur „abgeschoben“. Adler wies bei der ALI darauf hin, dass die Sozialämter es genau so gemacht haben, wie das Gesetz es fordert: Die vielen, die als Sozialhilfeempfänger die Dienstleistungen des Arbeitsamtes nicht in Anspruch nehmen konnten, sollen nun Arbeitsangebote, Bildungsmaßnahmen usw. bekommen – damit wurde für das Gesetz geworben. Doch 5,2 Millionen Arbeitslose sind nun dabei rausgekommen, und diese Zahl behagt dem Wirtschaftsminister nicht.
Bezogen auf den Kreis Friesland hatte die Arbeits-Agentur Wilhelmshaven im August/September 2004 angenommen, dass 25 % aller Antragsteller „rausfallen“ würden und es im Kreisgebiet 3200 Alg II-Empfänger geben würde. Tatsächlich sind nur ca. 7 % entfallen, und es gibt zwischen 4300 und 4400 Alg II-Berechtigte – die im letzten Jahr genannte Zahl von 150 „Fällen“ pro „Fallmanager“ lässt sich überhaupt nicht halten, sondern derzeit hat ein Fallmanager etwa 300 Leute zu betreuen, und ob die Personaldecke aufgestockt wird, ist nicht absehbar.
Den Arbeits-Agenturen obliegt es, die Arbeitsfähigkeit festzustellen, und sie werden voraussichtlich viele Akten den Sozialämtern zurückgeben. Das Sozialamt hat daraufhin theoretisch die Möglichkeit, darauf zu beharren, dass die betreffende Person doch arbeitsfähig sei. Die Einigungsstellen, die verhindern sollen, dass in einer solchen Situation gar nichts passiert und der Arbeitssuchende in dem amphibischen Zustand zwischen „erwerbsfähig“ und „nicht erwerbsfähig“ bleibt, sind noch nicht eingerichtet.
Zunächst einmal jedoch atmen Adlers ehemalige und gebliebene Mitarbeiter tief durch nach einer gnadenlosen Überbeanspruchung im letzten Jahr: Mitte des Jahres, als die Versendung und Bearbeitung der Alg II-Anträge eigentlich losgehen sollte, stand die Software noch nicht zur Verfügung, und als sie endlich vorhanden war, funktionierte sie sich. Adler erinnert sich: „Am 25. Oktober haben wir endlich den ersten Fall eingegeben, aber nach dem zweiten Fall ist der Computer schon abgestürzt.“ Der Druck für das gesamte Amt wurde immer größer, denn dass es ab 01.01.05 keine Sozialhilfe für die Antragsteller mehr geben würde, stand fest. Als das Programm endlich lief, arbeiteten sämtliche MitarbeiterInnen täglich von 6 bis 22 Uhr (auch samstags), um alle Anträge zu bearbeiten und eine pünktliche Auszahlung des Alg II zu ermöglichen.
In Vorbereitung seines Vortrages bei der ALI hat Rainer Adler in den letzten Wochen Zeitungen studiert und Artikel ausgeschnitten. Eine dicke Akte ist dabei herausgekommen. Es gab Artikel, Meldungen und Interviews, die ihn ärgerten. Wenn er liest, dass nun endlich für die jungen Arbeitslosen gesorgt werde, und es dann heißt, dass die unter 25-Jährigen, wenn man sie nicht auf dem 1. Arbeitsmarkt unterbringen kann, eine Maßnahme, ein Bewerbertraining oder einen 1 Euro-Job bekommen sollen, und wenn ein solcher junger Mensch das alles ablehnt, man ihm das Geld kürzen wird, dann fragt er sich, warum dazu ein neues Gesetz nötig war – die gleichen Instrumente gab es vorher auch schon. Neue Arbeitsplätze jedenfalls werden durch Hartz IV – darin sind sich die ALI und Herr Adler einig – nicht geschaffen. Im Gegenteil: Adler teilt die Befürchtung der ALI, dass durch die 1 Euro-Jobs Arbeitsplätze vernichtet werden. Dass das nicht nur ganz unmittelbar (indem Betriebe Arbeit, die eigentlich ein Mitarbeiter mit Arbeitsvertrag machen sollte/könnte, nun von 1 Euro-Jobbern verrichten lassen) geschehen kann, sondern auch auf Umwegen, dazu referierte er einen NWZ-Artikel, der am 01.03. auch in der „WZ“ erschienen ist: Handwerksbetriebe beklagen ein Zurückgehen der Aufträge, während Alg II-Empfänger für ein kleines Zubrot Malerarbeiten oder andere Reparaturen in Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden ausführen.
Die Frage aus dem Publikum, ob bei der Bewilligung von „Kosten für eine angemessene Unterkunft“ mit zweierlei Maß gemessen wird – es immer noch nicht durchschaubar, nach welchen Kriterien der eine seine tatsächliche Miete für 6 Monate bezahlt bekommt, der andere nur für 3, und ein dritter aufgefordert wird, seine Miete zu senken – konnte auch Adler nicht beantworten. Doch er ermunterte die Anwesenden, in jedem Fall, in dem nicht bewilligt wird, was beantragt wurde, Widerspruch einzulegen und beim Sozialgericht zu klagen, wenn dem Widerspruch nicht abgeholfen wird.
„Zur Ausgestaltung von Gesetzen brauchen wir die Rechtssprechung“, erklärte er. Das Bundessozialhilfegesetz ist durch Gerichtsurteile im Laufe der Jahre zu dem geworden, was es zum Schluss war. Wenn in den 70er Jahren ein Sozialhilfeempfänger eine einmalige Beihilfe für ein Fernsehgerät beantragte, war klar, dass er sie nicht bekommen würde. Mittlerweile gehört ein Fernseher zum normalen Lebensstandard. Ohne Klagen und Gerichtsurteile wäre das nicht der Fall. Deshalb sollen Langzeitarbeitslose, die Alg II beziehen, nicht auf das verzichten, was ihnen die Behörden nicht zugestehen, sondern Widerspruch einlegen und danach nötigenfalls klagen.
Interessant könnte das für Wilhelmshaven bezogen auf die Kosten der Unterkunft und auf die Heizkosten werden. Jeder Träger gibt sich diesbezüglich eigene Richtlinien, und in Wilhelmshaven sind niedrigere Beträge vorgesehen als z.B. in Friesland. In der ALI-Versammlung vier Wochen zuvor schilderte ein Teilnehmer seine Situation: Nach seinem Umzug in eine billigere Wohnung wohnt er jetzt teurer, da die Heizkosten höher sind (vgl. „Ende der Schonzeit“ in diesem Heft). Die Kaltmiete ist jetzt „richtig“ und wird vom Amt getragen, doch mit den höchstens 51 Euro Heizkosten kommt er nicht aus. Wenn man sich in Wilhelmshaven auf dem Wohnungsmarkt umsieht, muss man vermuten, dass noch viele Leute mehr nach ihrem Umzug dasselbe erleben werden. Es wäre bestimmt sinnvoll, hier das Sozialgericht entscheiden zu lassen, wer dafür aufkommen muss.
In diesem Sinn ermunterte Werner Ahrens von der ALI die Anwesenden auch, einmalige Beihilfen über die wenigen im Gesetz weiterhin vorgesehenen Fälle hinaus zu beantragen. Anders als im alten Sozialhilferecht soll es laut Hartz IV nur noch einmalige Beihilfen für die Erstausstattung einer Wohnung, für die Erstausstattung eines Kindes und für mehrtätige Klassenfahrten geben, doch ein Sozialgericht könnte zu der Auffassung kommen, dass niemand in drei Monaten Alg II-Bezug eine Waschmaschine zusammengespart haben kann. Bei Widersprüchen und Klagen ist die ALI behilflich.
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