Gegenwind-Gespräch: Jürgen Harms
Apr 151991
 

Hauptsache Arbeit

Gegenwind-Gespräch mit dem Geschäftsführer der ÖTV, Jürgen Harms, über Abrüstung und Konversion

(hk/jm) Ungewiß ist Wilhelmshavens Zukunft als Marinestandort. Die Verlagerung von Einheiten und Dienststellen steht vor der Tür, die geplante Reduzierung der Streitkräfte tut ein Übriges. Für die ÖTV stehen die Signale auf Alarm. Wie wird Wilhelmshavens Zukunft aussehen?

BundeswehrGegenwind: Welchen Stellenwert hat die Marine in Wilhelmshaven?
Harms: Wilhelmshaven ist eine Marinestadt – Wir haben hier 11.330 Beschäftigte beim Bund, mit Familienangehörigen sind das 35.000 Menschen, die direkt von de r Marine abhängig sind. Bedenken wir die Auswirkungen auf den Handel, auf die Verwaltung, auf das Handwerk – das ist ja noch viel mehr. Das muß man sich vor Augen führen, damit man weiß, um welche Dimensionen es hier geht.

Gegenwind: Was konkret ist in Wilhelmshaven geplant? Welche Dienststellen werden verlagert, wieviel Arbeitsplätze gehen verloren?
Harms: Darüber kann ich keine Auskunft geben. Aber sicher ist, daß einige Bereiche hier ganz wegfallen sollen. Die Zahlen des Verteidigungsministeriums sind bekannt, aber darüber kann ich jetzt nichts sagen.

Gegenwind: Wie stellt sich die momentane Lage aus der Sicht der ÖTV dar?
Harms: In Sachen Frieden sind wir uns sich r einig, da hat die ÖTV eindeutige Beschlüsse – das ist unser Thema, da stehen wir zu. Auf der anderen Seite stehen unsere Sorgen um die Arbeitsplätze. Wir haben jetzt im Bereich des Öffentlichen Dienstes ein bestimmtes Arbeitskräftepotential: Die Soldaten auf der einen Seite und die Zivilbediensteten, die die Waffen warten, pflegen und bearbeiten auf der anderen Seite. Da hängen eine Menge Arbeitsplätze dran. Wir brauchen keine neuen Waffensysteme , wir brauchen eine völlig andere Arbeit – Die Leute im Arsenal können auch Handelsschiffe oder Eisenbahnwaggons instand setzen oder bauen das i st denen egal. Hauptsache: Es ist Arbeit da. Das Knowhow ist da, die Maschinen sind da und die ausgebildeten Leute sind da. Nur, wenn da andere Arbeit kommt, bspw. Handelsschiffe, Eisenbahn, Flugzeuge oder sonst was, muß das ja irgendwo anders weggenommen werden. Und das kann ja nur der Privatwirtschaft weggenommen werden und da wird es schon problematisch.

Gegenwind: Die allgemeine Lage , der Nord-Süd-Konflikt – das muß sich ja auch in der Meinungsbildung der Belegschaften niederschlagen. Rüstungskonversion, das war vor einigen Monaten ein Strohhalm für die Kollegen, den sie jetzt, wo die Rüstungsmaschinerie wieder läuft, nicht mehr brauchen. Wie ist die Stimmung in den Belegschaften? Artikuliert sich dort ein wirkliches Interesse an einer Umorientierung hin zu zivilen Dienstleistungen oder Produktionen?
Harms: Ich kann ja in erster Linie nur die Stimmung unserer Personalräte und Vertrauensleute wiedergeben. Vom Grundsatz her: Unsere Kollegen in den Betrieben sind nicht wild darauf an Waffen zu arbeiten, die sind froh, wenn überhaupt Arbeit da ist – Natürlich ist die Rüstungskonversion für die Kollegen ein Rettungsanker, etwas was Perspektiven aufzeigt. Auf der einen Seite steht die Abrüstung. Auf der anderen Seite haben wir feststellen müssen, was das für Wilhelmshaven bei 35.000 von der Marine abhängigen Menschen bedeutet. Deswegen haben wir uns schon konkret Gedanken über die Rüstungskonversion gemacht – Jetzt mit dem Wegfall der Mauer ist wiederum eine neue Situation eingetreten jetzt findet eine Verschiebung statt – Von hier werden ganze Einheiten abgezogen z.B. Richtung Ostsee, Warnemünde, Rostock. Das geht hier in Wilhelmshaven verloren. Ein weiterer Punkt ist: Dadurch daß Stoltenberg Verteidigungsminister ist und er auch in Schleswig-Holstein Sorgen hat, werden ganze Dienststellen von Wilhelmshaven Richtung Kiel, Flensburg verlegt. Und das bedeutet: Wegfall von Arbeitsplätzen mit all seinen Auswirkungen auf die Verwaltung, den Handel, das Handwerk usw. Und deshalb müssen wir hier die politisch Verantwortlichen in eben diese Verantwortung nehmen – es muß hier was passieren.

Gegenwind: Mir kommt es vor, als wenn auch Ihr an die Sache so rangeht: Abrüstung ja – aber bitte nicht bei uns.Krieg und gewalt
Harms: Nein überhaupt nicht – Wir haben schon andere Vorstellungen. Wir
haben den Runden Tisch gefordert – wo alle zusammenkommen: die Parteien, die MdB’s und MdL’s, die Verwaltung, die Marine, Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband, die Handwerkskammer, die IHK usw. Wir müssen uns gemeinsam Gedanken machen. Wir sagen nicht „Abrüstung ja – aber nicht bei uns“ sondern wir sagen: Hier muß neue Arbeit her.

Gegenwind: Ist das nicht eine Illusion? Die einzige Existenzgrundlage Wilhelmshavens war und ist die Marine. Ohne sie wäre Wilhelmshaven eine unbedeutende Kleinstadt. Wo soll da Arbeit für eine solche Stadt herkommen?
Harms : Hier ist eindeutig die Politik gefordert. Wir als Gewerkschaften können keine Arbeit herzaubern. Wenn die Stadt Wilhelmshaven seit 30 Jahren immer treu zur Fahne gehalten hat, treu zur Marine stand, so verlangen wir jetzt im Umkehrschluß auch, daß die Bundesregierung hier andere Arbeit herschafft. Es kann doch nicht richtig sein, daß jetzt alle Fördermittel in die neuen Bundesländer gehen und unsere Region hier ausblutet.

Gegenwind: Die ganze Region ist ja ziemlich am Ausbluten. In vielen anderen Betrieben, z.B. Olympia, machen sich die Beschäftigten zusammen mit ihren Interessenvertretern Gedanken über Alternativen bspw. zur Schreibmaschinenproduktion. Auch da geht es um andere Arbeit, um Konversion. Balgen sich hier der Öffentliche Dienst und die Wirtschaft um den gleichen Kuchen oder gibt es über die Grenzen der Einzelgewerkschaften hinweg eine Zusammenarbeit, in der die Probleme der gesamten Region diskutiert werden?
Harms: Wir haben beim DGB den Arbeitskreis „Strukturpolitik“, der sich mit diesen Fragen auseinandersetzt. Die Probleme unserer Region lassen sich ja nicht vor Ort lösen. Unser Ziel ist es, die Arbeitsplätze hier zu erhalten. Doch das schaffen wir als Gewerkschafter vor Ort nicht alleine. Da muß bundesweit etwas passieren.

Gegenwind: Ist es denkbar, daß das Arsenal zukünftig als Zulieferer für die Industrie arbeitet, daß das Arsenal sich in die Marktwirtschaft einklinkt?
Harms: Denkbar wäre das schon. Aber damit wird ja kein Problem gelöst. Wenn das Arsenal in Konkurrenz zu anderen Mitbewerbern einen Auftrag bekommt, bedeutet das doch gleichzeitig, daß woanders etwas weggenommen wird. So kann das ja nicht laufen. Wir müssen die Stadt am Leben erhalten. Hier muß andere, neue Arbeit her. Ich möchte nicht wissen, wie Wilhelmshaven in 10 Jahren aussieht, wenn hier nichts passiert. Wir brauchen Strukturhilfen vom Bund. Wilhelmshaven hat jahrzehntelang der Marine die Stange gehalten – und jetzt muß es auch Gegenleistungen geben.

Gegenwind: Was bedeutet dieser Begriff „neue“ Arbeit? Wie kann das aussehen?
Harms: Es gibt Riesenaufgaben zu erledigen. Zum Beispiel im Bereich des Umweltschutzes, Ölbekämpfung und Wattenmeerschutz, Energie, Instandsetzung der veralteten Kanalisation, Sanierung von Gebäuden, Altlastensanierung, Dienst für den Bürger, Öffentlicher Personennahverkehr, Entlastung der Innenstädte – Es gibt Riesenprogramme, was getan werden kann und auch getan werden muß. Es geht um unsere Lebensqualität. Aber: Es muß Geld bereit gestellt werden. Wir bieten das an, was wir haben: Die gut ausgebildeten Arbeitskräfte, das Knowhow. Wilhelmshaven muß von dem „Nur-Marinestadt“-Image, welches unsere Stadt seit ihrer Gründung prägt, runterkommen. Die Lebensqualität wird ja immer wichtiger – auch wenn es um die Ansiedlung zukunftsorientierter Gewerbe- und Industriebetriebe geht.

Gegenwind: Jetzt laufen Aktionen an, Du erwähntest den Runden Tisch, Arbeitskreise usw. Ist es dafür nicht schon zu spät? Ist der Zug für Wilhelmshaven nicht schon abgefahren?
Harms: Es ist spät, aber noch nicht zu spät. Wir müssen jetzt über Verbandsgrenzen und Interessengegensätzen hinweg den nötigen Druck nach außen erzeugen. Wir müssen jetzt die Alarmglocken läuten. Für Wilhelmshaven stehen die Ampeln auf gelb.

Stichwort Konversion
Konversion ist ein Wort aus dem Lateinischen und bedeutet Umkehr. In Deutschland wurde der Begriff bekannt, als Betriebsräte des britischen Rüstungsunternehmens Lucas Aerospace forderten, bisher von Militäraufträgen abhängige Arbeitsplätze mit ziviler Produktion zu sichern. Seither wird unter Konversion meistens das Umstellen der Produktion von Rüstungsgütern auf die Produktion ziviler Güter verstanden. Inzwischen ist auch von Beschäftigungskonversion die Rede, vom Verlagern ziviler Arbeitsplätze bei der Bundeswehr in den nichtmilitärischen Bereich.

Konversion

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