Niemals vergessen
(iz) Anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht versammelten sich am 9. November etwa 120 Menschen auf dem Synagogenplatz, um der Opfer der unfassbaren Gräueltaten der deutschen Nationalsozialisten zu gedenken. Vom 7. bis zum 13. November 1938 wurden in ganz Deutschland etwa 400 Menschen ermordet oder in den Selbstmord getrieben. Über 1.400 Synagogen, Betstuben und andere Versammlungsräume sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Ab dem 10. November wurden ungefähr 30.000 Juden in Konzentrationslagern inhaftiert. Auch in Wilhelmshaven kam es am 9. November 1938 zu gewalttätigen Ausschreitungen. Die Novemberpogrome markieren den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 zur systematischen Verfolgung, die knapp drei Jahre später in den Holocaust mündete.
Am 7. November 1938 hatte der siebzehnjährige polnische Jude Herschel Grynszpan, dessen Familie deportiert worden war, in Paris auf den Sekretär der deutschen Botschaft Ernst Eduard vom Rath geschossen. Dieser erlag am 9. November seinen Verletzungen. Für die NS-Führung war das Attentat ein willkommener Anlass, um die Parteibasis gegen jüdische Mitbürger aufzuhetzen. Am 8. November stand im Leitartikel des „Völkischen Beobachters“: „Es ist klar, daß das deutsche Volk aus dieser neuen Tat seine Folgerungen ziehen wird. Es ist ein unmöglicher Zustand, daß in unseren Grenzen Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenstraßen beherrschen, Vergnügungsstätten bevölkern und als ‚ausländische‘ Hausbesitzer das Geld deutscher Mieter einstecken, während ihre Rassegenossen draußen zum Krieg gegen Deutschland auffordern und deutsche Beamte niederschießen …“
Von München aus organisierte die NS-Führung die reichsweiten Pogrome: „Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. Nach der Zerstörung hat eine SA-Wache aufzuziehen, die dafür zu sorgen hat, dass keinerlei Wertgegenstände entwendet werden können. […] Die Presse ist heranzuziehen. Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden. […] Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift. Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. An den zerstörten jüdischen Geschäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen, mit etwa folgendem Text: ‚Rache für Mord an vom Rath. Tod dem internationalen Judentum. Keine Verständigung mit Völkern, die judenhörig sind.‘“ Die Leitung der Zerstörungen oblag den örtlichen Propagandaämtern der NSDAP. Selbst junge Angehörige der Hitlerjugend beteiligten sich an den Gewalttaten und bespuckten ihre Mitschüler.
Auch in Wilhelmshaven kam es am 9. November 1938 zu gewalttätigen Ausschreitungen. Die 1915 erbaute Synagoge in der Börsenstraße wurde in Brand gesetzt. Hauptverantwortlich für die Brandstiftung waren der SA-Standartenführer Johannes Hinz, der NSDAP-Kreisleiter Ernst Meyer und der Führer des örtlichen NSKK, Gunkel. Vier jüdische Geschäfte in Wilhelmshaven wurden zerstört und geplündert. Während des Pogroms holten SA-Angehörige jüdische Bürger aus ihren Wohnungen; einigen hing man Pappschilder mit der Aufschrift „Ich bin eine Judensau” um den Hals und brachte sie – von Schmähungen und Steinwürfen der Zuschauer verfolgt – in die „Jahnhalle“ (heute Küstenmuseum). Während Frauen und ältere Männer wieder nach Hause geschickt wurden, führte man die verbliebenen 34 Männer geschlossen zum Bahnhof; von hier wurden sie ins KZ Sachsenhausen abtransportiert.
1933 lebten 191 Juden in Wilhelmshaven, 1939 waren es noch 79.
Wilhelmshavens Synagoge brannte nieder
Spontane jüdische Kundgebungen in unserer Kriegsmarinestadt — Juden wurden in Schutzhaft genommen – Demonstrationen vor den Judengeschäften
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich in den Nachmittagsstunden des Mittwochs die Meldung, daß der deutsche Gesandtschaftsrat Erster Klasse Pg. vom Rath seinen schweren Verletzungen erlegen war, die er durch die Schüsse des feigen jüdischen Mordbuben erhalten hatte. In allen Teilen der Stadt bildeten sich sofort kleinere und größere Menschenansammlungen, …
… In der Nacht kam es dann zu spontanen Kundgebungen der Volksgenossen. Es war kurz nach drei Uhr nachts, als die Bewohner der Börsen- und der Göringstraße durch eine dumpfe Detonation aus dem Schlaf geweckt wurden. Mit lautem Krach stürzte ein großer Teil der nach der Börsenstraße gelegenen Front der Synagoge ein. Feuer war im Innenraum des Judentempels ausgebrochen, und die sich im Innenraum entwickelnden Gase hatten das Mauerwerk mit großer Gewalt herausgedrückt. Die Feuerlöschpolizei war bald zur Stelle und sicherte … die angrenzenden Gebäude, so den Brand auf seinen einzigen Zweck – den der Vernichtung des Judentempels beschränkend, denn für uns alle war die Synagoge immer noch das Symbol des noch nicht endgültig gebrochenen jüdischen Ungeistes. ….. Kundgebungen der erregten und empörten Volksgenossen spielten sich auch vor den wenigen jüdischen Geschäften, die sich noch in Wilhelmshaven befanden, ab. Die Männer, die sich aus allen Kreisen der Bevölkerung zu diesen spontanen Sühneaktionen zusammengefunden hatten, zertrümmerten die Fensterscheiben dieser Geschäfte, … Wir müssen schon sagen, daß ganze und sachverständige Arbeit geleistet wurde, daß aber die Männer … in Ordnung und Disziplin zu Werke gingen, … In der Nacht wurden dann auch die in Wilhelmshaven lebenden männlichen Juden durch überlegtes und blitzschnelles Zufassen in Schutzhaft genommen und der Jahn-Halle zugeführt. …
(aus: „Wilhelmshavener Zeitung” No. 265 vom 11.11.1938 (Beilage)
Im Frühjahr 1939 wurde die Synagogenruine abgetragen. Die Jahresbeginn 1940 noch in der Stadt Wilhelmshaven lebenden Juden – meist handelte es sich um ältere Menschen – mussten im Zuge der „Evakuierung“ von Oldenburg und Ostfriesland ihre Heimatstadt verlassen. Bis 1940 war es noch zahlreichen Wilhelmshavener Juden gelungen, sich ins Ausland zu retten. Insgesamt haben in der NS-Zeit 116 jüdische Personen gewaltsam ihr Leben verloren.
Bei dem nach Kriegsende durchgeführten „Synagogenbrandprozess“ standen nur wenige Täter vor Gericht; einer der Hauptverantwortlichen, der ehemalige NSDAP-Kreisleiter Ernst Meyer, wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt.
Nach Kriegsende kehrten nur wenige Juden nach Wilhelmshaven zurück; eine neue jüdische Gemeinde entstand nicht. Am ehemaligen Standort der Synagoge Ecke Börsenstraße/Parkstraße wurde im November 1980 auf Initiative der evangelischen Kirchengemeinde ein Mahnmal errichtet; der schwarze Granitblock trägt eine Bronzetafel mit der folgenden Inschrift: „Hier wurde das jüdische Gotteshaus am 9.November 1938 niedergebrannt.“ Eine nachträglich angebrachte Tafel informiert weiter:
eingeweiht am 10.November 1980
zur Erinnerung an die im Jahre 1915 erbaute Synagoge.
Sie wurde in der Reichskristallnacht am 9.November 1938 von der NSDAP niedergebrannt und zerstört.
„Reichskristallnacht“ ist die noch in der Nachkriegszeit gebräuchliche zynische, spöttische, verharmlosende Bezeichnung des nationalsozialistischen Volksmundes für diese Nacht, in der die Fenster jüdischer Geschäfte, Wohnungen und Gebetshäuser zersplitterten. Historisch korrekt ist die Bezeichnung Novemberpogrome, die einen längeren Zeitraum umfassen als die (Pogrom-)Nacht vom 9. auf den 10. November 1938.
Ende 2008 wurden am Wilhelmshavener Synagogenplatz zwei Stelen mit bronzenen Gedenktafeln aufgestellt, die die Namen von 116 ermordeten Juden aus Wilhelmshaven tragen; die Initiative dafür ging vom „Arbeitskreis Synagogenplatz“ aus, dem die Kirchen, Gewerkschaften und die Stadt angehören. Zusätzlich wurde in die Pflasterung auf dem Synagogenplatz der Grundriss der ehemaligen Synagoge durch helle Steine nachgezeichnet.
An der ehemaligen „Jahnhalle“ erinnert eine Gedenktafel mit folgender Inschrift an die Vorgänge des Novemberpogroms von 1938:
Quelle: http://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/u-z/2095-wilhelmshaven-niedersachsen
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