Drogenabhängigkeit
Mai 211990
 

Ausweg

Begleiter aus der Drogenabhängigkeit gesucht

(ub/noa) Sie sind beide heroinsüchtig. Früher ist er fast jeden Tag morgens mit dem Taxi nach Bremen gefahren, um Stoff zu besorgen. Über den eigenen Bedarf hinaus, vielleicht zehn oder zwanzig Schuß, denn um die eigene Dosis und die für die Freundin zu verdienen, mußte er in Wilhelmshaven Heroin verkaufen.

Die Fahrten zum Einkaufen und das Verteilen der anderen Portionen machten einen großen Teil des Lebens der beiden aus. Dabei ging es beim Spritzen schon lange nicht mehr um den Rausch, sondern längst nur noch darum, keine Entzugserscheinungen zu haben.
Seit sie ärztliche Hilfe bekommen, ist ihr Leben gänzlich umstrukturiert. Sie befinden sich jetzt in einer Substitutionsbehandlung, d.h. sie bekommen regelmäßig ein Ersatzmittel, das sie frei von Entzugsschmerzen und damit fähig zu einer anderen Gestaltung ihres Lebens macht. Sie arbeiten wieder und konnten schon beginnen, ihre Schulden abzutragen.
Mindestens 700 drogensüchtige Menschen gibt es in Wilhelmshaven und Friesland. Ein Teil von ihnen fristet sein Leben, wie es dieses Pärchen jahrelang tat. Ein größerer Teil wird von ihnen mit dem Stoff versorgt . Bis zu 300 DM täglich müssen sie beschaffen, leihen, stehlen, mit Prostitution verdienen oder wie auch immer, um sich ihren Schuß finanzierten zu können.

Der GEGENWIND sprach mit Olaf Marxfeld-Ley von der Wilhelmshavener AIDS-Hilfe, die jüngst die Selbsthilfegruppe „Junkies, Ex-User, Substituierte“ (JES) eingerichtet hat.

Gegenwind: Was sind Substituierte?
Marxfeld-Ley: Substitution bedeutet Behandlung von Süchtigen mit Ersatzdrogen.
Gegenwind: Geht es dabei um Methadon?
Marxfeld-Ley: Nein, Methadon gibt es in der Bundesrepublik nicht. Das Mittel ist verboten. Für eine Ersatzdrogentherapie kommt z.B. Polamidon, der wirksame Bestandteil des Methadon, in Frage. Dieser Stoff fällt unter das Betäubungsmittelgesetz. Für einen Arzt, der bereit ist, Substitutionsbehandlungen durchzuführen, ist die Anwendung von Polamidon in größerem Umfang deshalb riskant. Sinnvoll und möglich ist außerdem eine Substitutionstherapie mit Codein. Dies ist ebenfalls ein Opiat und ist u.a. in Hustenmitteln enthalten. Es ist per definitionem kein Betäubungsmittel. In hoher Dosierung kann es Opiatesüchtigen als Ersatzmittel gegeben werden.

Gegenwind: Aber sind diese Mittel nicht auch suchtbildend? Sollte das Ziel einer Therapie von Süchtigen nicht darin bestehen, von der Sucht loszukommen?
Marxfeld-Ley: Ja, sicher. Substituierte entscheiden sich nach internationalen Erfahrungen im Lauf der Behandlung mit Ersatzstoffen auch dazu, abstinent zu werden. Allerdings muß man mit einer längeren Behandlungsdauer rechnen; im Durchschnitt wird dies nach sieben Jahren erreicht. Der Erfolg einer Therapie, die die Abstinenz dogmatisch sofort erreichen will, ist jedoch höchst fragwürdig. Nicht einmal 10 % der so behandelten Junkies bleibt abstinent.
Gegenwind: Wie ist das zu erklären?
Marxfeld-Ley: Zum einen wird die Abstinenz-Therapie häufig „statt Strafe“ gewählt. Sucht ist in den allermeisten Fällen notwendigerweise mit Beschaffungskriminalität verbunden, und häufig kann der straffällig gewordene Süchtige einer Gefängnisstrafe entgehen, indem er sich in Therapie begibt.
Insofern ist hier von Freiwilligkeit keine Rede, und Rückfälle sind vorprogrammiert.
Zum anderen ist die Abstinenzbehandlung oft darauf ausgerichtet, die Persönlichkeitsstruktur des Süchtigen zu zerstören. Persönlichkeitsstörungen bis hin zum Selbstmord sind häufig die Folge.

Gegenwind: Wenn aber mit einer Substitutionstherapie die Sucht nicht beseitigt werden kann, welchen Sinn hat sie dann?
Marxfeld-Ley: Untersuchungen in der Schweiz haben ergeben, dass jährlich 9 % aller nicht behandelten Süchtigen sterben, während die Sterberate bei behandelten Abhängigen nur 1,5 % beträgt.
Das Entscheidende bei der Behandlung mit Ersatzdrogen besteht darin, dem Süchtigen dabei zu helfen, aus der Szene auszusteigen. Süchtig zu sein, das ist ein Full-Time-Job. Es gibt Junkies, die jeden Tag 10 Stunden lang oder mehr damit beschäftigt sind, ihren Schuß zu beschaffen. Bei einer Behandlung mit Ersatzstoffen entfällt dieses Problem. Der Süchtige kann arbeiten, hat wieder Zeit, etwas für sich zu tun. Und er kann entscheiden, ob er Abstinenz anstrebt oder nicht. Bei der Abstinenz-Therapie ist diese Entscheidungsfreiheit meistens nicht gegeben.
Schließlich geht es aber auch noch um die AIDS-Verhütung. Wenn auch offizielle Statistiken den Anteil der Junkies an der Gesamtzahl der AIDS-Infizierten sehr niedrig beziffern – ich habe vor einiger Zeit gelesen, er betrage in der BRD 3 % – so muß man doch davon ausgehen, daß er sehr viel höher ist. Statistiken aus Italien und Spanien z.B. nennen 60 %. Wenn ein HIV-Positiver nach möglichen Infektionswegen gefragt wird, wird er wohl kaum angeben, süchtig gewesen zu sein. Das gemeinsame Benutzen von Injektionsnadeln ist aber nun einmal ein Ansteckungsweg, und der kann weitgehend ausgeschaltet werden, wenn ein Süchtiger sich in einer Substitutionsbehandlung befindet.

Gegenwind: Was will die Gruppe JES in dieser Frage erreichen?
Marxfeld-Ley: Wir wünschen uns, daß Wilhelmshavener Ärzte sich bereit finden, Junkies zu behandeln. Es gibt hier nur sehr wenige Süchtige, die ärztliche Hilfe in Form einer Substitutionsbehandlung bekommen.

Gegenwind: Wie viele Abhängige kommen nach deiner Einschätzung für eine solche Behandlung in Frage?
Marxfeld-Ley: Das ist sehr schwer abzuschätzen, aber ich denke, dass etwa 200 Betroffene an einer solchen Behandlung interessiert wären.
Gegenwind: Das sind viele. Ist es da nicht zu befürchten, daß Ärzte, die sich darauf einlassen, bald als „Drogenarzt“ abgestempelt wären?
Marxfeld-Ley: Ich kann zwar verstehen. daß manche Ärzte diese Gefahr sehen, sie besteht aber nicht. Wir stellen uns vor, dass mehrere Ärzte je fünf bis zehn süchtige Patienten in Behandlung nehmen. Mediziner, die dazu bereit sind, könnten von den Erfahrungen von Herrn Dr. Grimm, der in Kiel Süchtige bei ihrem Ausstieg aus der Szene begleitet, profitieren. Wir suchen deshalb Ärzte, die sich mit uns und miteinander über diesen Weg, der international der erfolgreichste zu sein scheint, auseinandersetzen.

Gegenwind: Wir danken dir für das Gespräch.

Die Selbsthilfegruppe JES (Junkies, Ex-User und Substituierte) ist eine eigenständige und unabhängige Gruppe, die die Interessen von Drogensüchtigen vertritt. Sie trifft sich jeden Dienstag von 19 bis 21 Uhr in den Räumen der Wilhe1mshavener AIDS-Hilfe in der Bremer Straße 139 (Hauseingang benutzen).

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