Corona-Proteste
Dez 272021
 

Foto: Imke Zwoch

(red) Zwei Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie sind in Teilen der Bevölkerung Vernunft und Solidarität längst aufgebraucht. Frustration und Wut machen sich breit. Rechtspopulisten nutzen die Gelegenheit, das diffuse Gemenge aus Zweiflern, Leugnern und Verschwörungsfans für sich zu instrumentalisieren. Auch in Wilhelmshaven heizen einschlägig bekannte Personen aus dem rechten Spektrum die destruktive Stimmung an. Trauriger Höhepunkt war die Erstürmung des Weihnachtsmarktes am 13. Dezember. Mit einer friedlichen Kundgebung unter dem Motto „Pro Impfen – Gemeinsam aus der Pandemie“ haben sich heute Vertreter:innen aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft dieser Entwicklung entgegengestellt.

13.12.: Sturm auf den Weihnachtsmarkt

Mitglieder und Mitläufer:innen der Bewegung, die sich gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie richtet, tauschen sich bevorzugt auf der Nachrichten-Plattform „Telegram“ aus. Dort verabredeten sich Mitglieder entsprechender Chatgruppen aus dem Raum Weser-Ems für den 13.12. zu einem sogenannten „Montags-Spaziergang“ in Wilhelmshaven. Laut Polizei-Pressemeldung vom gleichen Abend „versammelten sich gegen 19:00 Uhr etwa 250 Personen am Rathausplatz und bewegten sich zu Fuß gemeinsam durch Siebethsburg. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Aufzugs hielten sich hierbei an die Corona-Bestimmungen und die Straßenverkehrsordnung. Die Versammlung verlief friedlich und endete ohne besondere Vorkommnisse gegen 20:10 Uhr am Rathausplatz.“

Diese Darstellung deckte sich allerdings nicht mt Beobachtungen Dritter, die im Laufe des Abends in Wilhelmshavener Facebook-Gruppen veröffentlicht wurden. Demnach marschierte etwa die Hälfte der Teilnehmenden des „Spaziergangs“ im Anschluss durch die Marktstraße und Nordseepassage und stürmte dann den Weihnachtsmarkt auf dem Valoisplatz. Die Absperrgitter am Eingang, wo eigentlich der Impfnachweis für den Zugang geprüft wurde, wurden beiseite geräumt, dann zog der Mob laut skandierend durch die Budengasse und pöbelte auch die normalen Besucher an.

Mit Bezug auf die Polizeimeldung behaupteten Sprachrohre der Rechtspopulisten, diese Schilderung der Vorkommnisse sei erlogen. Die Teilnehmenden hatten ihren „Sturm auf den Weihnachtsmarkt“ allerdings selbst ausführlich per Video dokumentiert und die Aufnahmen auf Telegram hochgeladen. Diese Belege wurden dann von Dritten auf Facebook veröffentlicht. Ein Sprecher der Schausteller auf dem Weihnachtsmarkt bestätigte später, dass eine Gruppe mit Fackeln und Parolen über den Valoisplatz gelaufen sei.

Am nächsten Tag wurden die Ausschreitungen in einer ergänzenden Pressemitteilung seitens der Polizei bestätigt: „Im Rahmen der Versammlung skandierten die Teilnehmer vereinzelt „Frieden, Freiheit/Demokratie, keine Diktatur“ und nutzten weiterhin Tröten und Pfeifen. Nachdem die Versammlung auf dem Rathausplatz gegen 20.10 Uhr ohne besondere Vorkommnisse endete, trennten sich die Personen, wobei sich anschließend eine Personengruppe in den Innenstadtbereich und weiterhin auf den dortigen Weihnachtsmarkt begab. Einige Personen skandierten dort ebenfalls die o.g. Parole und nutzten erneut Tröten und Pfeifen.

Die Polizei wertet aktuell aus der Bevölkerung übersandtes und in den sozialen Medien veröffentlichtes Videomaterial sowie Zeugenaussagen aus und prüft die Einleitung von Ordnungswidrigkeiten- und Strafverfahren. Bei der gestrigen unangemeldeten Versammlung besteht ein Zusammenhang zu den zurückliegenden Spaziergängen, die seit geraumer Zeit am Montagabend im Kontext zum Pandemiegeschehen und den politischen Maßnahmen landesweit stattfinden.

Die Polizei wird gemeinsam mit der zuständigen Ordnungs- und Versammlungsbehörde der Stadt Wilhelmshaven die aktuelle Entwicklung beobachten, verstärkt Präsenz zeigen und gegen Zuwiderhandlungen vorgehen.“

20.12.: „Spaziergang“ aufgelöst

Gesagt, getan: Am darauf folgenden Montagabend war die Polizei mit einer Hundertschaft auf dem Rathausplatz präsent. Diesmal hatten sich ca. 150 Teilnehmende über einen Telegram-Aufruf zusammengefunden. „Aufgrund dieser verabredeten Zusammenkunft handelte es sich um eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes. Dieses wurde den Teilnehmern über eine Lautsprecherdurchsage mitgeteilt und ihnen entsprechende Versammlungsauflagen, insbesondere das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, bekannt gegeben“, so der Polizeibericht. „Die Teilnehmer verließen daraufhin bewusst die Versammlung und fielen damit nicht mehr unter die Versammlungsfreiheit. Da die Teilnehmer anschließend immer wieder in größeren Gruppen zusammenkamen und weder Abstand zueinander hielten noch eine Mund-Nasenbedeckung trugen, verstießen sie gegen die geltenden Corona-Vorschriften. Diese Verstöße wurden konsequent durch die Polizei geahndet. Insgesamt wurden 35 Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet. In einem Fall gab eine Person falsche Personalien gegenüber der Polizei an, eine weitere Person leistete Widerstand gegen die Maßnahme“.

27.12.: Kundgebung „Pro Impfen“

Nachdem die Gegner der Corona-Maßnahmen also mehrfach in zweifelhafter Form von sich reden gemacht hatten, fand unter dem Motto „Pro Impfen – Gemeinsam aus der Pandemie“ am 27.12. auf dem Rathausplatz eine Veranstaltung der Befürworter von Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie statt. Im Unterschied zu den Gegner-„Spaziergängen“ handelte es sich um eine angemeldete, geordnete Kundgebung, bei der sich die 120 Teilnehmenden an das Versammlungsrecht hielten. Mit der Anmeldung gemäß Versammlungsrecht übernehmen die Veranstaltenden (hier: Grünes Wilhelmshaven) die Verantwortung dafür, dass alles geordnet abläuft. In ihren Redebeiträgen machten Ulf Berner, Alex von Fintel (beide Bündnis 90 / Die Grünen Wilhelmshaven), Oberbürgermeister Carsten Feist, Christina Heide (SPD) und weitere Redner:innen deutlich, dass nur ein wissenschaftsbasierter Umgang mit der Pandemie und die Impfbereitschaft als Akt gesellschaftlicher Solidarität helfen können, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Eine Frau, die vor einem Jahr an Corona erkrankte und seitdem unter den Long-Covid-Folgen leidete, berichtete über ihre Erfahrungen.

Die Polizei war mit 6 Mannschaftswagen vor Ort, nicht ohne Grund. „Die Versammlung verlief friedlich und ohne besondere Vorkommnisse.“ Aber: „Parallel zu der angemeldeten Veranstaltung trafen die Einsatzkräfte nahe des Veranstaltungsraumes immer wieder auf vereinzelte Personengruppen, die thematisch gegen die angemeldete Veranstaltung eingestellt waren. Da in diesen Gruppen vorwiegend ungeimpfter Personen z.T. Abstände nicht eingehalten und Mund-Nasenbedeckungen nicht getragen wurden, verstießen die Personen gegen die geltenden Corona-Vorschriften. Die Polizei ahndete diese Verstöße konsequent, leitete 40 Ordnungswidrigkeitenverfahren ein und sprach Platzverweise aus.“

 

Hier die Rede von OB Carsten Feist:
„Am 13.12.2021 stürmt eine größere Menschenmenge den Weihnachtsmarkt in Wilhelmshaven. Die Gruppe skandiert: Frieden – Freiheit – Keine Diktatur. Drei Behauptungen. Drei falsche Behauptungen!
Ja – es gibt viel zu viele Kriege auf der Welt – aber nicht in Deutschland: wir leben im FRIEDEN (zumindest militärisch)!
Wir leben in FREIHEIT. Nur deswegen können wir uns hier und heute treffen und Argumente austauschen. Solange sich alle an die Regeln halten, die in demokratisch entstandenen Gesetzen und Verordnungen ihren Niederschlag finden, stehen Versammlungen unter dem Schutz des Staates.
Wir leben in einer DEMOKRATIE – nicht in einer Diktatur. Gerade die bisweilen anstrengenden Diskussionen in unserem föderalen System zur Bewältigung der Pandemie sind Ausdruck einer lebendigen Demokratie.
Die demokratischen Diskussionen zeigen Wirkung: Deutschland kommt – mit großen Anstrengungen – im europäischen Vergleich verhältnismäßig glimpflich durch die Pandemie. Das ist gelebte Demokratie im Jahr 2021!
Warum melden sie ihre Demonstrationen und Veranstaltungen nicht an? Das wäre auch Ausdruck einer demokratischen Grundhaltung! Wer für oder gegen etwas eintritt, soll dies bitte sichtbar und mit der sich daraus ergebenden Verantwortung tun! Warum tun sie so, als seien es Spaziergänge? – Das ist nicht einmal Satire. Das ist Zynismus, der den freiheitlichen Staat herausfordert.
Wer hat hier etwas zu verbergen? Wem fehlt hier der Mut, sich der Diskussion zu stellen und dafür auch einzustehen? Wem fehlen die Argumente für eine sachliche und zielführende demokratische Diskussion? Wer muss stattdessen mit Verschwörungstheorien, Angstmacherei und pseudo-wissenschaftlichen Behauptungen agieren? Und warum?
Was sind ihre Ziele? Wofür treten Sie ein – und nicht wogegen?
Demonstrieren hier ernsthaft Menschen für das Recht auf Krankheit? Auf eigene Erkrankung und das Recht darauf, andere Mitmenschen anstecken zu dürfen?
Waren die „Spaziergänger“ schon einmal auf einer Corona-Intensivstation und haben mit medizinischen Fachkräften über das Leid und die Belastung gesprochen? Mit genesenen Opfern über deren „neuen Alltag“ nach Corona? Mit Angehörigen von Verstorbenen? Mit Pflegekräften in Senioreneinrichtungen, denen die Bewohner weggestorben sind?
Darüber findet sich in ihren Geschichten und Erzählungen nichts. Stattdessen fabulieren sie über Impfopfer. – Diese Form der Wahrheits(er)findung kenne ich – aus Diktaturen…!
Warum verstecken sie sich in geschlossenen Gruppen? – Vielleicht weil ihre sogenannten Argumente allzu leicht in sich selbst zerfallen? Vielleicht, weil sie sich zu selbsternannten Märtyrern machen wollen? Einer Verfolgung und Verschwörung ausgesetzt, die es schlicht nicht gibt – die sie sich aber umso mehr wünschen?
Vielleicht, weil ihre unterschwelligen Drohungen gegen öffentliche Amts- und Mandatsträger ansonsten ihre wahren Motive offenlegen könnten? Wer sich an solchen Veranstaltungen beteiligt, muss wissen: Aus verbaler Gewalt entsteht in der Folge tatsächliche Gewalt gegen Sachen und Personen. – Ist das ihr Ziel???
Ja – ich bin geimpft. Dreifach geimpft. Und wenn die Entwicklung der Pandemie es erfordert (was zu befürchten ist), werde ich mich auch weiterhin impfen lassen.
Ich bin inzwischen auch klar und deutlich für eine Impfpflicht. Das war nicht meine erste Idee. Aber jetzt brauchen wir diese Diskussion. 10 Millionen freiwillig Ungeimpfte dürfen nicht dauerhaft das Leben von 70 Millionen Geimpften dominieren!
Ich will mich selbst und andere schützen. Ich bin für mich und meine Mitmenschen verantwortlich und kann und will diese Verantwortung nicht hinter inhaltslosem Geschwurbel verstecken.
Auch ich habe Fragen an die Impfung gehabt. Diese konnten von seriösen Ärzten auf dem heutigen Erkenntnisstand umfassend beantwortet werden.
Ein Risiko bleibt. Wie bei jeder medizinischen Intervention. Haben Sie schon einmal den Beipackzettel einer simplen Kopfschmerztablette gelesen? Warum demonstriert ihr nicht gegen Kopfschmerztabletten…?
Ich bin dankbar, dass so schnell ein Impfstoff entwickelt werden konnte, der funktioniert und kaum (nachgewiesene – nicht behauptete) Nebenwirkungen hat.
Ich bin dankbar, dass wir – trotz der bekannten Probleme – eine gute Impfkampagne organisieren konnten. Ich bin jedem einzelnen Menschen dankbar, der sich impfen lässt. Die Quote ist in Wilhelmshaven sehr hoch. Darum ist die Inzidenz in unserer Stadt auch sehr niedrig. Impfen hilft und Impfen wirkt!
Ich werde weiter dafür arbeiten, dass wir aus dieser Pandemie herauskommen. Das wird nur über das Impfen und mit großer Disziplin im Alltag gehen – und nicht mit „Spaziergängen“ im Halbdunkel und inhaltslosen Selbstbeweihräucherungen in geschlossenen Internetforen.
Auch wenn wir nicht wissen, welche Herausforderungen diese Pandemie uns noch bescheren wird – wir werden darauf demokratische Antworten finden!
Ich werde weiter mit großer Überzeugung für unsere gut funktionierende Demokratie eintreten und rufe in diesem Sinne die „Spaziergängerinnen und Spaziergänger“ auf: Kommen Sie zurück in unseren demokratischen Diskurs und zeigen sie Gesicht und Flagge, statt sich mutlos im politischen Halbdunkel zu bewegen.
Ihre Fragen sind legitim. Soweit wissenschaftlich möglich, werden sie Antworten bekommen. Öffentlich – wie sich das in einer freiheitlichen Demokratie gehört.
Ihre Argumente sind willkommen im demokratischen Wettbewerb. Wenn es denn dann Argumente sind – und nicht bloß Behauptungen, Vermutungen, Unterstellungen und Mutmaßungen.
Ich schließe meinen Wortbeitrag mit einem Zitat von Bundespräsident Steinmeier:
„In der Demokratie müssen wir nicht alle einer Meinung sein. Aber wir sind ein Land. Wir wollen auch nach der Pandemie noch miteinander leben.“
Danke, dass Sie alle heute durch ihre Anwesenheit dieses wichtige Zeichen für Freiheit und Demokratie gesetzt haben. Gemeinsam sind wir stark und nur gemeinsam werden wir aus dieser Pandemie herauskommen.“
(Es gilt das gesprochene Wort.)

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