Chemische Industrie
Feb 201985
 

Im Ernstfall hilflos

Chlorgas über F’groden

(rob) Die Kette ungeklärter Umweltbelastungen im Stadtnorden setzt sich offensichtlich fort. Jüngstes Beispiel: Kinder an der Nogatschule mußten mit Hals- und Augenreizungen in ihr Schulgebäude flüchten.

 störfall erwin fiegeAm Montag, dem 21.1.1985 wurde auf dem Schulhof der Nogatschule ein leicht stechender Geruch festgestellt, dem von den Lehrern zunächst keine besondere Bedeutung beigemessen wurde. Zu Beginn der zweiten Pause hatte sich der Geruch noch immer nicht verflüchtigt, als plötzlich ein massiver Schwall stechend riechenden Gases auf die Kinder niederging. Nach Auskunft von Lehrern geschah dies schlagartig. Die Kinder suchten fluchtartig, die Hände vor das Gesicht haltend, Schutz im Schulgebäude. Einige von ihnen klagten über Hals- und Augenschmerzen. Übereinstimmend wurde von den Lehrern der Geruch und die Wirkung auf Chlorgas zurückgeführt. Gleiches, wenn auch schwächer, wurde nordwestlich an der Herbartschule festgestellt. Betroffen waren vor allem die Kinder des Sprachheilzentrums der Arbeiterwohlfahrt, die an beiden Schulen unterrichtet werden.
Unmittelbar nach dem Vorfall informierten Lehrer der Herbartschule, die an der Nogatschule unterrichten, über das Umwelttelefon den Koordinator für den Umweltschutz der Stadt, Jens Graul, der bereits vom Schulleiter der Herbartschule, Herrn Kollecker, auf die Gerüche hingewiesen worden war.
Erkennbare Eile legte die Stadtverwaltung jedenfalls nicht an den Tag. So erschien die Feuerwehr mit einem Meßtrupp erst nach etwa einer Stunde am Ort des Geschehens. Mit primitiven Schnüffelröhrchen versuchte man der Chlorgaswolke nachzuspüren, die inzwischen längst verduftet war. Grund der Verspätung: Bei der Feuerwehr waren zum Zeitpunkt der Meldung keine Leute verfügbar, wie überhaupt die ganze Aktion sehr merkwürdig verlief.
So wurde von der Feuerwehr zunächst ein Leck beim Chlorgaserzeuger ICI-Atlantik gemeldet, was auf Nachfrage dem Schulleiter der Herbartschule bestätigt wurde. Später wurde diese Meldung zurückgezogen. Von einem Leck bei ICI-Atlantik sei der Stadt nichts bekannt.
Graul: „Für einen Chlorgasausbruch haben wir von der ICI-Atlantik keine Bestätigung erhalten.“ Im übrigen, so Jens Graul, scheide ICI-Atlantik als Verursacher aus, weil am Tag des Vorfalles konstant Ostwind geherrscht habe und‘ die betroffenen Stadtteile nicht in Windrichtung gelegen haben. Nach Feststellung des Wasser- und Schiffahrtsamtes herrschte zum fraglichen Zeitpunkt Ost-Wind mit Stärke 3 bis 4. Damit lagen Herbart- und Nogatschule exakt in Windrichtung ICI-Atlantik, dem einzigen infrage kommenden Verursacher.
Die Stadt überprüfte die werkseigene Registrierung. Hier, wie auch an der landeseigenen Meßstelle in Rüstersiel, konnten keine Werte registriert werden, die auf einen Chlorgasausbruch bei ICI hinwiesen. Immerhin räumt der städtische Umweltkoordinator ein, daß die „Belästigungen“ irgendwelche Ursachen gehabt haben müssen.
Dieser bestechenden Logik folgte dann auch das Bauordnungsamt auf Anweisung des Oberstadtdirektors Arno Schreiber und begab sich auf Ursachenforschung. So wurde das Therapieschwimmbecken des Sprachheilzentrums bei der Herbartschule inspiziert, weil dort nunmal gechlort wird. Ein Witz, wie der Leiter des Sprachheilzentrums, Eduard Pickel, feststellte. Pickel zum GEGENWIND: „Ich besitze gar kein Chlorgas, bei uns wird mit einem flüssigen Mittel gechlort, wie in jedem Schwimmbad.“ Pickel, der aus Sorge um die Gesundheit der ihm anvertrauten sprachbehinderten Kinder, dem Oberstadtdirektor einen Brief geschrieben hat, wartet noch immer auf eine befriedigende Antwort. Ihm geht es vor allem um öffentliche Hinweise über Schutzmaßnahmen bei ähnlichen Unfällen, bessere Informationen über Alarmpläne und Auskunft über das Gefährdungspotential, dem seine Kinder ausgesetzt sind. Pickel: „Ich möchte wissen was los ist! Ich habe den Eindruck, daß gewisse Dinge nicht an die Öffentlichkeit sollen. Was soll ich machen, wenn wirklich bei ICI ein größeres Leck auftritt. Was mach ich dann mit meinen Kindern?“
Hierzu der städtische Umweltkoordinator: „Die Katastrophenpläne sind allgemein zugänglich und liegen bei der Feuerwehr zur Einsicht aus. Zur Heimlichtuerei hat die Stadt keine Veranlassung. Auch die ICI ist keine Bande Krimineller, die jede Störung vertuscht. Bisher ist der Stadt gegenüber jede Umweltbeeinträchtigung – wenn auch im Nachhinein – zugegeben worden

 

Kommentar:

Pannen

Nach Kenntnis der Wetterlage am 21.1. genügte ein Blick auf die Stadtkarte, um festzustellen, woher der Wind wehte. Es ist müßig darauf hinzuweisen, daß Chlorgas einen sehr charakteristischen Geruch besitzt und schon in geringen Konzentrationen wahrgenommen wird. Ein Anteil von 0,0001% Chlor in der Atemluft reizt die Atmungsorgane bei mehr als 0,001% werden die Lungen schwer angegriffen, mehr als 0.01% Chloranteil bei längerem Einatmen führt zu tödlichen Vergiftungen. Bei einem Anteil von knapp unter 1% Chlor in der Luft gibt’s ohne Schutzmaske kein Entrinnen.chemie
Unstrittig ist das Gefahrenpotential, das vom Rüstersieler Groden ausgeht. Das Risiko mag unterschiedlich beurteilt werden. Was aber geschieht, wenn trotz aller Sicherheitsvorkehr markante Mengen Chlorgas freiwerden und unbemerkt auf die umliegenden Wohngebiete zutreiben? Die werkseigene Registrierung ist nicht lückenlos. Das ist auch der Stadt bekannt. Um so unverständlicher ist es, dass die Feuerwehr mangels Personal erst eine Stunde nach der ersten Meldung mit einem Spürtrupp anrückte. Pannen auch in der Stadtverwaltung selbst, die erst nach zwei Stunden in der Lage war ,auf dem Werksgelände der ICI zu ermitteln. Dazu ein verwirrendes Hin und Her am Telefon: zuerst ein Leck, dann ein Dementi und schließlich Sendepause. Die beunruhigten Lehrer und Erzieher des Sprachheilzentrums wussten derweil nicht, was sie machen sollten. Die merkwürdige „Ursachenforschung“ des : Bauordnungsamtes rundet das Dilemma ab. Die Stadtverwaltung vermag auf solche Situationen nicht adäquat zu reagieren.
Hinzu kommt ein weiteres Problem: Die Bevölkerung ist auf mögliche Gefahrensituationen nicht vorbereitet. Verhaltensregeln sind nicht bekannt. Zwar gibt es Katastrophenschutzpläne, doch wer macht sich schon die Mühe, sie einzusehen, und wer kann sie verstehen? Aufklärung ist also dringend erforderlich. Brandschutzübungen werden an jeder Schule mindestens einmal im Jahr durchgeführt, warum nicht auch eine Aufklärung über Verhalten bei Chemieunfällen?
Eine intakte Umweltschutzbereitschaft bei der Feuerwehr könnte solche und andere Aufgaben übernehmen. Personalmangel in diesem Bereich können wir uns eigentlich nicht leisten.

Rolf Biermann

 

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