Ein deutsches Schicksal?
Erster Hungertoter im 3. Hartz IV-Jahr
„20-jähriger Hartz IV-Empfänger ist verhungert“, lautete am 19. April eine „WZ“-Überschrift. Und im Untertitel hieß es: „Behörden sehen keine Versäumnisse“. Der junge Mann hatte in Speyer gelebt. Der lokale Bezug, der normalerweise die Bedingung dafür ist, dass der GEGENWIND berichtet oder kommentiert, besteht darin, dass ein Hungertod aufgrund von Hartz IV auch in Wilhelmshaven jederzeit möglich ist.
Laut WZ-Artikel bildete der 20-Jährige mit seiner ebenfalls arbeitslosen Mutter eine Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II. Bis vor einigen Monaten hatten die beiden zusammen neben der Miete 621 € monatlich bekommen. Seit Oktober 2006 war ihnen das Alg II schrittweise gekürzt worden, „nachdem der Sohn Termine versäumt hatte.“
Die Kürzung des Arbeitslosengeldes II um zunächst 30 %, nach drei Monaten um weitere 30 % und schließlich auf 0 ist im SGB II vorgesehen, um die Arbeitslosen zur Aktivität zu motivieren. Man sollte meinen, dass jemand, dem 30 % vom Alg II fehlen, schnell in die Gänge kommt und tut, was man von ihm verlangt, damit er schnell wieder den vollen Regelsatz bekommt, oder? Nun, der Gesetzgeber hat das aber offenbar nicht geglaubt, denn dann wäre er ja davon ausgegangen, dass eine Kürzung um 30 % reicht, und hätte die weiteren Kürzungen nicht vorgesehen.
Was passiert denn wohl im Kopf eines Alg II-Empfängers, der einen Termin versäumt hat und eine Kürzung seines Regelsatzes erlebt? Denkt er: „Oh, da habe ich aber etwas verbaselt. Jetzt will ich schnell hingehen und das wieder in Ordnung bringen“? Der junge Mann aus Speyer hat das offensichtlich nicht gedacht, und seine Mutter, der ja ebenfalls Geld fehlte, auch nicht.
Was denkt wohl ein Arge-Mitarbeiter, der jemandem das Alg II um 30 % gekürzt hat, wenn derjenige dann nicht stehenden Fußes herbeieilt und sich irgendwie erklärt? Was denkt der Arge-Mitarbeiter, wenn der Alg II-Empfänger auch nach der nächsten Kürzung wegbleibt? Was denkt er, wenn der „Kunde“ sich auch nach der völligen Streichung noch nicht meldet? Denkt der bewusste Arge-Mitarbeiter sich überhaupt etwas?
„Wir hätten nichts tun können; ich kann meinen Mitarbeitern keinen Vorwurf machen“, sagte der Geschäftsführer der zuständigen Arge. Sieglinde Schechterle meint in ihrem Leserbrief „Lebensrecht“ („WZ“ vom 8. Mai), die Arge in Speyer hätte sehr wohl etwas tun können, nämlich „kontrollieren, von was ein Mensch lebt, wenn man ihm die Bezüge streicht“. Der in der „WZ“ zitierte Sprecher der Arge hingegen sagte, „die Arge habe vom Gesetzgeber aus nicht den Auftrag, in derartigen Fällen v on sich aus aktiv zu werden“.
Mit Hartz IV wurden zwei vollkommen unterschiedliche Leistungen, nämlich die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe, zum Arbeitslosengeld II zusammengelegt. Bis zum 31.12.2004 waren zwei ganz unterschiedliche Behörden, nämlich die Sozialämter und die Arbeitsagenturen, mit der Auszahlung der Leistungen und der Betreuung der betreffenden Menschen befasst.
Die Sozialämter kannten ihre „Kunden“. Wenn jemand von ihnen sich nicht gemeldet hätte, um sein Geld abzuholen, hätte der zuständige Sachbearbeiter sich gekümmert. Ein Hungertod wäre damals nicht möglich gewesen.
Ob der junge Mann und seine Mutter vormals „Kunden“ der Arbeitsagentur oder des Sozialamtes waren, geht aus dem „WZ“-Bericht nicht hervor. Ich vermute mal eher, sie waren vorher Sozialhilfeempfänger.
„Der Speyerer Bürgermeister Hanspeter Brohm (CDU) betonte, es habe in den folgenden Monaten keinen Hilferuf der Familie gegeben, auf den hätte reagiert werden können“, heißt es in dem Bericht über den Hungertod des jungen Mannes.
Bei wem hätten Mutter und Sohn um Hilfe rufen können? Das Sozialamt war nicht mehr zuständig für sie. Bei der Arge hätte man ihnen gesagt, dass sie die Kürzung als Sanktion für ein Versäumnis erleiden. Das hätte ihnen nicht geholfen.
Mit der Zusammenlegung der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II wurden die meisten vorherigen Sozialhilfeempfänger der Betreuung durch die Sozialämter entzogen. Wer auch nur drei Stunden täglich arbeiten kann oder arbeiten zu können angibt, ist nun „Kunde“ der Arge. Die Beurteilung eines Menschen darüber, ob er arbeiten kann oder nicht, wurde/wird ausschließlich anhand der körperlichen Gesundheit vorgenommen. Psychosoziale Hemmnisse werden dabei nicht berücksichtigt.
Mir sind persönlich einige Menschen bekannt, die arbeiten können, wenn man ihnen einen Job zuweist, die sich aber selber nicht um einen Job bemühen können. Ich kenne auch einige Menschen, die sich um einen Job bemüht haben und nach der dritten, der zehnten, der 20. oder der 50. Absage den Mut verloren haben und es nicht mehr schaffen. Menschen, die einen Brief vom Job-Center oder einer anderen Behörde schon gar nicht mehr zu öffnen wagen, weil sie wissen, dass er irgendwelchen Ärger ankündigt. Die dann, wenn weniger Geld auf dem Konto ist als gewohnt, erst recht eingeschüchtert sind und sich erst recht nicht mehr zum Amt trauen.
Dass es zahlreiche solche Menschen gibt, war „dem Gesetzgeber“ bekannt. Sie werden und wurden aber nicht berücksichtigt. Die Argen haben tatsächlich keinen Auftrag, sich um sie zu kümmern. Das soziale Netz ist sehr grobmaschig geworden. Wer sich nicht selber für seine Rechte einsetzen kann, fällt durch die großen Maschen. Mit Hartz IV hat „der Gesetzgeber“ den Hungertod des jungen Speyerers und vieler anderer Menschen wenn nicht verschuldet, dann doch zumindest billigend in Kauf genommen.
Ich finde es beschämend, in einem reichen Staat zu leben, in dem Menschen trotzdem verhungern können!
Anette Nowak