Erfrischend anders
Castor: Anti-Atomkraft-Bewegung mit neuer Energie
(red) Anfang November erlebte das Wendland den eindrucksvollsten Protest in der 33jährigen Geschichte des Widerstands. Nicht nur die Teilnehmerzahlen brachen Rekorde. Der GEGENWIND war vor Ort.
Mit so einem großen Zulauf auf der Kundgebung bei Dannenberg am 5. November hatte keine/r gerechnet. Sechs Wochen zuvor hatte die Anti-Atom-Demo mit Umzingelung des Regierungsviertels in Berlin, mit 50.000 (Schätzung Polizei) bis 100.000 (Schätzung Veranstalter) TeilnehmerInnen, den Atomkraftgegnern bereits Anlass zu Optimismus gegeben. Doch es ist etwas anderes, ob man an einem sonnigen Spätsommertag gemütlich durch Berlin spaziert oder aber im nasskalten Monat der Trübsal quer durch die Pampa auf einen Acker zusteuert. Gorleben wurde in den 70er Jahren ja vor allem deshalb als Endlager-Standort ausgeguckt, weil die Regierung dort am Ende der Welt nicht mit Widerstand rechnete. Erst recht nicht, wenn man die Castoren zur ekligsten Jahreszeit auf die Reise schickt. Diese Taktik ging nicht auf. Und nun verhalf die schwarzgelbe Herrschaft im Bundestag mit der AKW-Laufzeitverlängerung der Anti-AKW-Bewegung, die nie tot, aber über die Jahrzehnte etwas ermüdet war, zu einem bemerkenswerten Aufschwung. Die Offenlegung der bedrohlichen Zustände im Atommüll-Salzstock Asse tut ihr Übriges.
So kommen am 5.11. nicht nur 30.000 Castor-GegnerInnen, wie das Bündnis „Ausgestrahlt“ optimistisch geschätzt hatte, sondern fast doppelt so viele auf den Kundgebungsplatz bei Splietau am Rande von Dannenberg. Doch das blieb nicht der einzige Rekord. Denn Tausende kamen gleich für mehrere Tage ins Wendland, um zusammen mit den Einheimischen durch vielfältige, kreative Aktionen den Weg der Castoren zu verzögern.
Beeindruckend ist die professionelle Logistik. In mehreren Camps stehen Zelte und Volksküchen für weit Angereiste bereit. An vielen Infopunkten liegen Landkarten und Rechtshilfe-Infos zum Mitnehmen aus, der online-„Castorticker“ informiert zu jeder Zeit, was sich an der Transportstrecke und im Wendland gerade ereignet. Im ganzen Landkreis gibt es am Wochenende zahlreiche Kulturveranstaltungen mit Eintrittskarten, um Polizeisperren passieren zu können.
Gorleben ist überall
Schon am Donnerstag startet eine Landmaschinenschau in Metzingen. Seit im März 1979 in Hannover 500 Trecker auf Besuch bei Ministerpräsident Albrecht anrollten, sind die Landmaschinen der wendländischen Bauern und solidarischer KollegInnen aus anderen Regionen ein zugkräftiges Symbol des Widerstands. Dass die bäuerliche Notgemeinschaft ihr wertvollstes Betriebskapital aufs Spiel setzt, spiegelt auch ihre Verzweiflung wider. Wenn sich wieder mal ein Dutzend Schlepper hoffnungslos auf einer geplanten Castor-Transportstrecke ineinander verhakt hat, braucht die Polizei schon schweres Gerät zur Räumung.
Am Freitag sind in Lüchow über 1000 SchülerInnen auf der Straße statt auf der Schulbank. Um 14.24 Uhr startet der Zug mit den Castoren aus der Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague in Valognes (Normandie / Frankreich). Laut Fahrplan soll er am 7.11. um 8:14 Uhr Dannenberg erreichen. Doch entlang der gesamten Strecke gibt es immer wieder Proteste und Blockaden. Gorleben ist überall. Gegen 16 Uhr kommt der Zug in Caen erstmals zum Stehen. 12 Leute haben sich ans Gleis gekettet, Weiterfahrt nach Räumung 3 Stunden später. Im weiteren Verlauf muss die Fahrt mehrmals unterbrochen werden. In Lauterbourg-Berg (franz.-dt. Grenze) haben sich einige Greenpeace-Aktivisten ans Gleis gekettet, weitere tausend Menschen besetzen 800 m Gleis. In Kehl hängen Greenpeacer unter einer Brücke. In Darmstadt sitzen wieder Menschen auf den Gleisen … Auch außerhalb der Strecke gibt es bundesweit Mahnwachen, Demos, Aktionen.
Gewaltig, gewaltfrei
Bemerkenswert ist auch, dass es – im Verhältnis zu der großen Zahl von Demonstrierenden und Polizeikräften und der zuvor von Politik und Medien künstlich angeheizten Stimmung – vergleichsweise friedlich abging. Wie immer wurde im Vorfeld versucht, durch die Vorhersage militanter Aktionen die Bewegung zu spalten und „gute Bürger“ von der Teilnahme abzuhalten. Vergebens: Gerade diesmal gab es laut Umfragen besonders viele, die erklärten, sie würden jetzt erstmals auf die Straße gehen, weil ihnen die schwarzgelbe Atompolitik zum Hals raushängt.
Stein des Anstoßes war vor allem die Initiative „Castor schottern“, also der Aufruf, Steine aus dem Gleisbett der Castorstrecke zu entfernen. Rechtlich wird das als Straftat gewertet, weshalb die Staatsanwaltschaft gegen Hunderte Unterzeichner, darunter auch Prominente wie Politiker der LINKEn, ermittelt. Unfug ist die Behauptung, die Castorgegner würden dadurch bewusst auch Personenzüge gefährden. Während des Atommülltransportes sind die entsprechenden Strecken für den Personenverkehr gesperrt, und die Aktivisten wollen natürlich auch nicht, dass Castorzüge entgleisen, das würde ja ihr Ziel, eine Katastrophe durch Freisetzung atomarer Strahlen zu verhindern, konterkarieren. Das „Schottern“ als symbolische Handlung wurde vorher öffentlich angesagt, in dem Wissen, dass dem Castorzug ohnehin ein Reparaturzug voranfährt. Es gab Polizei-Einsätze mit Schlagstöcken, Reizgas, Wasserwerfern, es gab Verletzte, es gab einen Kessel, in dem Tausende die kalte Nacht draußen verbringen mussten. Aber es gab auch klare Ansagen von Polizeisprechern – nicht nur seitens der Gewerkschaften – an die politisch Verantwortlichen, dass man nicht länger bereit ist, den Freund und Helfer für politisches Kalkül zu spielen.
Lange mediale Halbwertszeit
Mehr als eine Woche lang sind der Castortransport, die Anti-AKW-Bewegung, Atompolitik und Laufzeitverlängerung Thema Nr. 1 in den Medien. In Leserbriefen und online-Chats sind auch BürgerInnen mit von der Partie. Erschreckend ist, mit welchem Halbwissen viele sich ihre Meinung bilden oder, schlimmer noch, PolitikerInnen weitreichende Entscheidungen fällen. Viele glauben, die Castoren würden bereits jetzt direkt in den Salzstock Gorleben als Endlager wandern. Tatsächlich stehen sie für die nächsten 30, 40 Jahre oberirdisch in einer Halle, danach soll ihr immer noch tödlich strahlender Inhalt in kleinere Behälter („Pollux“) umgepackt und in einem dann genehmigten Endlager versenkt werden. Wo das sein wird, darum geht‘s ja gerade – ob in einem geologisch instabilen Salzstock im Wendland oder irgendwo anders in der Republik an einem geeigneteren Standort, den zu suchen sich die Politik bislang weigert.
Keine Talkshow, die sich nicht in die Diskussion einmischt und zumindest Einblicke in die Kompetenz der Talk-Gäste bietet. Bei Maybrit Illner z. B. behauptete der stellvertretende Vorsitzende der CDU-Fraktion im Bundestag, Michael Fuchs (genannt „Atom-Fuchs„), der zuvor die „BILD“-Zeitung als seine Informationsquelle hochgehalten hat, im Schacht Konrad würden bereits jetzt schwach- und mittelradioaktive Abfälle endgelagert. Tatsächlich wird das stillgelegte Eisenerz-Bergwerk bei Salzgitter momentan noch dafür umgebaut, und die Einlagerung beginnt frühestens 2013, wie Jochen Stay, Sprecher der Anti-Atom-Organisation „Ausgestrahlt e.V.“, Fuchs erläuterte.
Störrisches Vieh und Biertrojaner
Während Bundesumweltminister Röttgen, der bis dahin noch nie in Gorleben war, am Montag Abend bei „Beckmann“ noch mit Gräfin von Bernstorff diskutiert, deren Familie sich seit Jahrzehnten dagegen wehrt, dass ihr Landeigentum zum Atomklo umgewidmet wird, gehen die Blockaden im Wendland in die letzte Runde. Erst morgens um 9.30 Uhr ist der Castorzug am Verladebahnhof in Dannenberg angekommen und die Umsetzung der 11 Behälter auf Tieflader beginnt. Vor dem Zwischenlager in Gorleben haben bereits 1600 Menschen ihre erste Nacht draußen verbracht. Jetzt kommen immer mehr hinzu. Am Nachmittag stellen sich solidarisch 1200 Schafe und 500 Ziegen auf der Transportstrecke des Castors zwischen Laase und Gorleben quer.
Am frühen Abend blockiert ein Bierlaster mit der Aufschrift „Erfrischend anders“ die Kreuzung vor dem Verladebahnhof. Daran kommen die Tieflader nicht vorbei. Einfach wegschieben geht aber nicht – denn in dem Laster sitzen ein paar Greenpeace-Aktivisten, die sich und den Laster mit der Straße verankert haben. Zudem sind sie innerhalb des Lasters hinter dicken Gitterstäben verbarrikadiert, die die Polizei erst mal wegschweißen muss. Vorinstallierte Kameras übertragen das Geschehen am Laster nach draußen. Zusammen mit den störrischen Schafen und einem erfolgreichen Hackerangriff auf die Seite http://www.kernenergie.de gehört das wohl zu den Top Ten des witzigen gewaltfreien Widerstands.
Gegen 22 Uhr steht bei Gorleben die schon legendäre Betonpyramide der bäuerlichen Notgemeinschaft auf der Straße. Sie lässt sich nicht einfach wegräumen, ohne zuvor die menschlichen Bindeglieder in der Konstruktion zu entfernen. Das dauert.
Kurz vor Mitternacht sitzen über 5.000 Menschen vor dem Zwischenlager Gorleben, weitere 1.500 in Laase, mehr als 500 beobachten, wie die Polizei immer noch verzweifelt versucht, das Rätsel um den Biertrojaner zu lösen.
Erst am Dienstagmorgen gegen 8.30 Uhr ist der Laster von der Kreuzung, die Sitzblockaden wurden – gegen Ende leider immer rabiater – von der Polizei geräumt, die Tieflader setzen sich in Bewegung Erst kurz vor 10 erreichen sie das Zwischenlager Gorleben.
Während sich die Organisatoren des Widerstands um die letzten Aufräumarbeiten kümmern, um die Camps ordentlich zu hinterlassen, werden noch einige Pfefferspray- und Prügeleinsätze der Polizei vermeldet. „Schade, dass der Castor immer mit hemmungslosen Gewaltorgien seitens der Polizei enden muss“, lautet einer der letzten Einträge im Castorticker.
Die Castoren haben, mehr als 24 Stunden später als geplant, ihr Ziel erreicht – und somit auch die Castorgegner: „Der neue Streckenrekord liegt somit bei 3 Tagen, 19 Stunden, 24 Minuten. Die nächste zu knackende Marke sind somit die 100 Stunden.“
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