Call-Center
Nov 132003
 

Moderne Zeiten

Mal wieder: Arbeit im Call Center ist hart

(noa) Neuerdings zeigt uns Harald Schmidt im Werbefernsehen, wie wir mit Autosuggestion die Preise halbieren können: „Morgen kauf’ ich mir eine Bahncard, morgen kauf’ ich mir eine Bahncard, morgen kauf’ ich mir eine Bahncard…“ Wenn wir dann zum Telefon greifen, um sofort zum Kauf zu schreiten, haben wir vielleicht das Glück, unsere Freundin an der Strippe zu haben, von der wir wissen, dass sie neuerdings wieder einen Job hat.

Der Bahncard-Service ist ein Projekt von „arvato direct services“ (vormals MSN) im TCN und ein Call Center. Damit verraten wir ein großes Geheimnis! Oder? Naja, die Beschäftigten am Telefon sollen den Kunden jedenfalls nicht verraten, dass sie es mit einem Call Center zu tun haben, so lautete einer der ersten Merksätze in einer Schulung neuer MitarbeiterInnen im Oktober. Als ob nicht längst jeder wüsste, dass solche „services“ nicht von den verkaufenden Unternehmen selbst durchgeführt werden, sondern ausge“sourct“ (outsourced? outgesourced? outgesourct? – wie auch immer) sind und man es am Telefon nicht mit einem Beschäftigten der Bahn (des Telefonherstellers, des Druckerproduzenten etc.) zu tun hat, sondern mit einem „call center agent“!
call_centerAls Kunde/Kundin stören wir uns daran nicht weiter, solange die Beratung gut ist und wir auf Anhieb lernen, wie wir unser neues Faxgerät zum Funktionieren bringen oder das Flugticket günstig erwerben können. Ärgerlich werden wir erst, wenn die Auskunft falsch oder missverständlich ist, wir es noch einmal probieren müssen und uns hohe Telefonkosten entstehen.
Das gilt jedenfalls für die meisten Gelegenheiten, bei denen wir eine „Service-Hotline“ anrufen. Beim Thema Bahncard scheint es aber anders zu sein. Die Beschäftigten von „arvato services“ im TCN sträuben sich sehr, wenn sie von ihrem Projekt wegversetzt werden sollen ins Projekt Bahncard. In den letzten Jahren war kein anderes Unternehmen so oft wegen seines Preissystems in den Nachrichten wie die Deutsche Bahn, und die „Bahncard neu“ ist ganz anders als die „Bahncard alt“, und wer weiß, ob man die alte auf die neue übertragen kann, ob man immer noch dieses oder jenes Kind umsonst mit auf die Reise nehmen darf (oder muss), um den Rabatt in Anspruch nehmen zu können usw. usf. Anrufe von Bahncard-Kunden sind anstrengende Anrufe, weil Bahncard-Kunden unzufriedene, ungehaltene, unfreundliche Kunden sind.
„Arvato services“ hat im Oktober einen Schwung Call-Center-Agents nicht selbst rekrutiert, sondern bei „Timecon“, einem bundesweit operierenden Arbeitnehmerverleiher, angefordert. Es schien mächtig dringend zu sein, denn die Leute, die sich telefonisch bewarben, wurden gebeten, noch am selben Tag anzufangen.
Nach einer Schulung von acht Stunden, in deren Verlauf sie fast ein Pfund Papier durchhechelten, sollten sie am nächsten Arbeitstag schon „an die Front“, sprich: ans Telefon. Wenn sie mit einem Anruf nicht zurechtkamen, konnten sie ja durchstellen zu einem Kollegen, der es schon besser konnte…
Von den sechs Personen, die Mitte Oktober gemeinsam die Schulung absolvierten, war nach Ablauf einer Woche schon niemand mehr da. Eine Kollegin entschloss sich schon am Tag der Schulung, dass ein Arbeitsplatz, an dem sie von jungen Menschen, die dem Alter nach ihre Kinder sein könnten, auf Anhieb geduzt wird und an dem der Pausenkaffee für die Teamleiter umsonst, für sie aber kostenpflichtig sein sollte, nicht ihr Arbeitsplatz ist. Eine andere brauchte etwas länger, bis sie ging; sie wurde krank, als sie am zweiten oder dritten Arbeitstag ihre angemeldete Pause nach über dreistündigem pausenlosen Telefonieren nicht nehmen durfte. Für 6,53 Euro/Stunde musste sie sich das nicht auch noch antun.
An Bildschirmarbeitsplätzen hat man einen Anspruch auf 10 Minuten Pause nach jeder Stunde Arbeit. Wie wir schon in unseren Gesprächen, die in Artikeln über Sykes-Enterprises mündeten, immer wieder hören mussten, handhaben die Call-Centers in Roffhausen das offensichtlich so, dass diese arbeitsbedingten Pausen nicht bezahlt, sondern nachgearbeitet werden sollen. „Sklavenhalterei“ (wie Anrufer es immer wieder nennen) würden wir dazu nicht sagen. Aber irgendwie sind diese modernen Zeiten den „Modernen Zeiten“ zu Charlie Chaplins Zeit recht ähnlich.

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