Bundestagswahl
Sep 082009
 

Sie haben die Wahl

Oder: Wer die Wahl hat …

(red) Am 27. September ist Bundestagswahl. Von großspurigen Wahlkampfversprechen und taktischen Schachzügen der Parteien sollten Sie sich nicht beeindrucken lassen. Wir geben Ihnen Entscheidungshilfen.

Am 27. September 2009 sind rund 62 Millionen Bundesbürger/innen zur Wahl des 17. Bundestages aufgerufen. Mit ihrer Erststimme bestimmen die Wähler ihren Wahlkreisbewerber, mit der Zweitstimme entscheiden sie über das Kräfteverhältnis der Parteien im Bundestag. Erst ab fünf Prozent aller abgegebenen Stimmen ist eine Partei im Bundestag vertreten, oder aber sie erringt mindestens drei Direktmandate und wird bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten berücksichtigt. Über die Mehrheit im Bundestag entscheidet zunächst das Verhältnis der von den Parteien gewonnenen Zweitstimmen. Die Hälfte der insgesamt 598 Abgeordneten sind Politiker, die in ihrem Wahlkreis die meisten Erststimmen bekommen haben. Die andere Hälfte zieht über die Landeslisten ein. Die Zahl der Direktmandate  kann die eigentlich nach dem Zweitstimmenanteil festgelegte Sitzverteilung im Plenum stark verändern. Gewinnt eine Partei mehr Direktmandate, als ihr gemäß der Verteilung der Zweitstimmen zustehen, so bleiben ihr diese so genannten Überhangmandate trotzdem erhalten. In unserem Wahlkreis treten sechs Personen an, um das Direktmandat zu erringen. Fünf davon werden wir Ihnen kurz vorstellen. Neben SPD, CDU, FDP, Grünen und Linken treten noch die NPD, die Tierschutzpartei, die MLPD, die DVU, ödp, Die Piraten und die Rentnerpartei RRP an. Eine wirkliche Empfehlung können wir Ihnen natürlich nicht geben – aber die LeserInnen des Gegenwind sind mit Sicherheit politisch so gut drauf, dass sie schon das richtige Kreuz an der richtigen Stelle machen werden.

Bündnis 90 / Die Grünen
Die Grünen sind seit 1983 im Bundestag vertreten. Im Wahlkreis WHV / FRI erreichten sie 1987 (ein Jahr nach der Katastrophe von Tschernobyl) 7,5% der Zweitstimmen (2005: 5,8%). Bei ihrem Besuch in Wilhelmshaven Anfang August stellte die Bundestagsabgeordnete Brigitte Pothmer die Eckpunkte des grünen Wahlprogramms vor. „Der Blaumann wird Grün“ lautet das Motto der Partei zur kommenden Bundestagswahl, womit umschrieben wird, dass Ökologie und Ökonomie keine konkurrierenden Interessen sind, sondern nur miteinander funktionieren. Mit dem „Green New Deal“ („Grüner Neuer Gesellschaftsvertrag”) wollen die Grünen erreichen, dass Ökonomie, Ökologie und soziale Gerechtigkeit nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden. Sie wollen eine soziale und ökologische Wirtschaftsordnung. Eine Mio. neue Jobs ließen sich mit grünen Ideen schaffen, davon 350.000 im Bereich erneuerbarer Energien und Gebäudesanierung, 185.000 in der Bildung, 210.000 für Gesundheit und Soziales und 200.000 durch Abbau von Schwarzarbeit. Direktkandidat für den Wahlkreis 27 FRI-WHV ist Peter Sokolowski, Vorsitzender des grünen Kreisverbandes Wilhelmshaven, 45 Jahre alt, von Beruf Dipl.-Sozialpädagoge und Dipl.-Sozialarbeiter, seit 15 Jahren im Bereich der Pädagogischen Frühförderung tätig. Größere öffentliche Bekanntheit gewann Sokolowski als Sprecher der Bürgerinitiative „Zeche Rüstersieler Groden“ (gegen Kohlekraftwerke – für Klimaschutz). Für ihn sind die Hafen- und Industrieansiedlungen in Wilhelmshaven nicht kompatibel mit dem Tourismus als prägendem Wirtschaftsfaktor der Region. Er ist überzeugt, „dass letztlich nur bundespolitisches Engagement den klimatischen Supergau, zu dem Wilhelmshaven in Zukunft kräftig beitragen soll, verhindern kann.“ „Aus der Krise hilft nur Grün“ ist Sokolowskis Wahlkampf-Infoblatt überschrieben. Daraus einige konkrete Forderungen:

  • Grundsicherung für alle Kinder bis 18 Jahre: 330 Euro monatlich
  • Mindestlöhne: 7,50 Euro
  • ALG II: Anhebung auf 420 Euro monatlich
  • Bildung: Gemeinsames Lernen bis zur 9. Klasse, kein Turbo-Abitur
  • Energie: Atomkraftwerke abschalten, keine neuen Kohlekraftwerke, Erneuerbare Energien ausbauen

SPD
Frau Karin Evers-Meyer (SPD) ist Abgeordnete des deutschen Bundestages und Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen und tritt zur Bundestagswahl als Direktkandidatin für den Wahlkreis 27 Wilhelmshaven/Friesland an. Karin Evers-Meyer, die nach eigener Einschätzung hier „sehr viel Zuspruch und positive Rückmeldungen zu unserer Arbeit in den vergangenen Jahren“ erhält, geht davon aus, dass das Wahlergebnis besser sein wird, als es die derzeitigen Umfragen vermuten lassen. Karin Evers-Meyer ist sie eine Politikerin des Friedens. Bei zahllosen Gesetzesentwürfen stimmte sie für die Einsätze der Bundeswehr, um den Frieden in der Welt zu sichern. So unterstützte sie Anträge  zur Verlängerung des Einsatzes in Afghanistan, im Libanon und im Kosovo und trug so zur Verteidigung der BRD und zur Sicherung des Friedens in aller Welt bei. Selbstverständlich ist sie auch für die Erhaltung der Wehrpflicht, denn ohne Armee kein Frieden. Dazu Frau Evers-Meyer zum Gegenwind: „Wir schicken die Bundeswehr in Auslandseinsätze, die dazu dienen, Frieden zu sichern und Stabilität zu schaffen. Ob auf dem Balkan oder in Afghanistan: Es geht darum, mit Hilfe der Bundeswehr, der Polizei und ziviler Hilfsorganisationen beim Wiederaufbau zu helfen und die Staaten darin zu unterstützen, wieder selbst für Frieden und Sicherheit zu sorgen.“ Über ihre Berufung ins Steinmeiersche Kompetenzteam sagte sie: „Frank-Walter Steinmeier will Bundeskanzler werden und diesen Anspruch macht er deutlich. Er hat einen ehrgeizigen Plan für die Zukunft unseres Landes vorgelegt. Er hat klare Vorstellungen darüber, wohin sich Deutschland in den kommenden zehn Jahren entwickeln soll: hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit, hin zu echter Gleichstellung in Wirtschaft und Gesellschaft, hin zu langfristigem und nachhaltigem Wirtschaften. Dafür hat er ein sehr gutes Team aus motivierten Mitstreiterinnen und Mitstreitern zusammengestellt. Ich bin stolz darauf, Teil dieses Teams zu sein.“ Natürlich hat sie auch etwas zur Region im Programm: „In den kommenden vier Jahren wird es wichtig sein, dass der JadeWeserPort wie geplant fertiggestellt und an das Schienennetz angebunden wird. Ich will mich außerdem dafür einsetzen, dass wir am Hafen ein leistungsfähiges Güterverkehrszentrum bekommen.“

CDU
Für die CDU geht auch diesmal wieder der Zeteler Hans-Werner Kammer in den Bundestagswahlkampf. Was kann der Gegenwind zum CDU-Kandidaten schreiben? Seine vehementen Verteidigungsreden gegen die Abschiebepraxis-Liberalisierungspläne von Grünen und Linken? Das unterscheidet Kammer ja nicht von den meisten CDU- und SPD-Politikern. Sein Internetauftritt (hans-werner-kammer.de) macht einen eher stiefmütterlich behandelten Eindruck. Hier hat er aber immerhin seine Bundestagsreden veröffentlicht. Von März 2006 bis März 2009 hat er sich demnach 8 mal im Bundestag zu Wort gemeldet – und meistens eben gegen die Vorstöße von Linken und Grünen gegen die herrschende Abschiebepraxis u.ä. So richtig kann man da keinen Grund finden, warum man sich dafür einsetzen sollte, dass Hans-Werner Kammer wieder einen Sitz im nächsten Bundestag bekommt. Allerdings ist Kammer auf Platz 13 der CDU-Landesliste recht gut abgesichert.

FDP
Die FDP schickt im Wahlkreis 27 Lübbo Meppen ins Rennen. Er ist Landwirt im Wangerland, in der dortigen FDP stellvertretender Vorsitzender, und ist auf der Landesliste nicht abgesichert. Aus der Europa-Wahl und den drei Landtagswahlen Ende August ist die FDP gestärkt hervorgegangen – trotzdem ist natürlich für Meppen mit einem Gewinn des Direktmandats in unserem Wahlkreis nicht zu rechnen, so dass er unter „ferner liefen“ fallen wird. Meppen will Wilhelmshaven weiter industrialisieren, das Wangerland aber als Tourismusgebiet erhalten. Die Gemeinden dort halten das nicht so unbedingt für vereinbar, aber das entschiedene „Sowohl – als auch“ hält Meppen auch in anderen Fragen aufrecht: In der Energieversorgung sieht er die Zukunft im Offshore-Bereich, tritt aber zugleich für die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke und den Neubau von  Kohlekraftwerken  ein. Bezogen auf die soziale Frage sagt er das, was man als FDPler eben sagen muss: Hauptsache, der Wirtschaft geht es gut. Und deshalb dürfen die Löhne beliebig tief fallen. Das „Bürgergeld“ soll es richten: Wer zu wenig zum Leben verdient, soll vom Staat etwas dazubekommen. In der gegenwärtiges Realität kennt man das schon als aufstockendes Arbeitslosengeld II.

Die Linke
Die herrschende Politik versklavt und entrechtet einen großen Teil der in unserem Land lebenden Menschen. Unsicherheit, Frust und Verzweiflung lassen diese nur noch weit gebückt durch das Leben gehen. Demokratie aber braucht den aufrechten Bürger. Auswirkungen der neoliberalen Politik begegnen mir ständig. Wenn ich sie nicht am eigenen Leib erfahre, so erlebe ich sie dann doch immer in allernächster Nähe bei den Menschen in der Nachbarschaft oder im Bekannten- und Verwandtenkreis. Diesen Wahnsinn zu beenden wird unsere Aufgabe, also eine Aufgabe der Partei Die Linke. sein. Die Bundestagswahl in diesem Jahr wird Zeichen setzen, Zeichen setzen, wenn es um den Fortbestand und somit um die Zukunft der Demokratie und Mitbestimmung in unserem Land geht. Deshalb ist es wichtig, dass wir in diesem Land eine Politik bekommen, die allen Menschen hier im Land gerecht wird, und für genau diesen Politikwechsel werde ich mich mit aller Kraft einsetzen. Ich werde ich mich einsetzen für eine Politik, die eine Politik der sozialen Gerechtigkeit ist. Ich werde mich einsetzen für eine Politik, die eine Anti-Kriegs-Politik ist. Und ich werde mich einsetzen für eine Politik, die eine moderne sozialistische Bürgerrechtspolitik ist. Mehr Demokratie bedeutet für mich eine bessere Gesellschaft. Die obigen Aussagen haben wir Anja Kindos Bewerbung um einen Platz auf der Landesliste der Linken entnommen. Hier landete sie auf Platz 24 – was nicht gerade als sicherer Platz zu bezeichnen ist.

Der Nichtwähler
Eine immer stärker werdende Gruppe bei Wahlen ist die der Nichtwähler. Auch wenn diese Gruppe bei Bundestagswahlen noch nicht so stark ist (der Anteil der NichtwählerInnen stieg von 8,9% im Jahre 1972 auf 22,3% bei der letzten Bundestagswahl im Jahre 2005), wird diese Gruppe von allen Seiten argwöhnisch beäugt. Sie werden nach den Wahlen beschimpft; vor den Wahlen wird ihnen Honig um den Bart geschmiert und gleichzeitig wird das Nichtwählen als unpolitisch gegeißelt. Dabei sehen viele BürgerInnen keinen Sinn darin, das Wettrennen um den besten Zieleinlauf mitzumachen – sie wissen, dass sich ihre Situation durch Wahlen nicht großartig ändern wird – warum wählen, wenn doch alles gleich bleibt? Erich Mühsam, ein deutscher politischer Aktivist, Anarchist, Publizist und Schriftsteller (1934 von den Nazis in KZ Oranienburg ermordet), schrieb 1907 seine „Naturgeschichte des Wählers“. Die Zeitschrift „konkret“ veröffentlichte den Text in ihrer September-Ausgabe 2009. Wir zitieren auszugsweise:

Das Prinzip der Wahl ist ein durchaus demokratisches Prinzip. Es hat die Tendenz, aus der Volksseele einen Diagonalwillen zu destillieren. Jeder Wähler erkennt mit der Ausübung seines Rechtes dieses Prinzip ausdrücklich an, das Prinzip der Berechtigung des Mehrheitswillens, das einzelne, selbständige Individuum zu unterdrücken, es den Beschlüssen der Majorität der aus der Majorisierung der Minoritäten hervorgegangenen Körperschaften gefügig zu machen, aus jeder Persönlichkeit eine Nummer im Gesamtbetriebe und aus jeder autonomen Regung eine Gefahr für das demokratische Ganze herzustellen. Jeder Wähler ist ein Tröpfchen von dem Öl, das die große Staatsmaschine schmiert. Was er wählen darf, ist allein das Ölkännchen, aus dem er in das Räderwerk träufeln darf, und von dem je nach der Größe des Behälters ein Schuss mehr links oder ein Schuss mehr rechts in den Apparat gegossen wird, dessen Hauptwalze sicher und exakt funktioniert, unbeirrt darum, welche von den vielen kleinen Seitenrädchen sich etwas schneller und welche sich etwas langsamer um ihre Achse drehen. Die Stimmabgabe des einzelnen Wählers hat also für den Gang der Geschicke eines Volkes ebensoviel zu bedeuten, wie der Rauch einer Zigarre, der sich im weiten Raum einer Wolke beimischt, für den Niederschlag eines Gewitters. Für den Psychologen sind alle Wähler konservativ. Sie haben ausnahmslos das Bestreben, in das Rädchen zu fließen, das dem mächtigen Staatsrad am schnellsten vorwärts hilft. Sie erkennen damit die Notwendigkeit des Bestehenden und den Wert seiner Erhaltung an. Im Gegensatz zur konservativen Partei steht ausschließlich die Gruppe der Nichtwähler, stehen die paar Individualisten, Anarchisten, Künstler und Skeptiker, die in der Staatswalze einen Apparat erkennen, die Persönlichkeit durch die Masse zu wälzen und in jedem ihrer Räder ein Instrument, die Individualität, deren ein Riemen habhaft werden kann, zu rädern. Sie sind revolutionär. Ihr negatives Verhalten bezweckt die Unbrauchbarmachung der ganzen Maschine, entweder dadurch, dass durch das Einrostenlassen aller Seitenräder die Mittelachse gezwungen wird, sich aus eigener Despotenkraft zu drehen – eine Betriebsform, die infolge der Vereinfachung des Werkes dem Individuum sehr viel weniger gefährlich ist, als die demokratische Versimpelungsfabrik –, oder durch die positive Aktion des Sabots, d. i. die gewaltsame Außerbetriebsetzung des Werks. Wirft man Seife in den Kessel, so platzt der Apparat, und seine Wirksamkeit ist vernichtet.

Der gesamte Text ist unter: http://ngiyaw-ebooks.org/ngiyaw/muehsam/naturgeschichte/naturgeschichte.htm zu finden.

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