Budgetierung
Mai 242000
 

Schwarzer Peter

Die Budgetierung im Gesundheitswesen überträgt den Ärzten eine Verantwortung, die die Verantwortung für ihre Patienten untergräbt

(noa) Stellen wir uns mal vor, die Bundeswehr wird zu einem Auslandseinsatz geschickt, und der kommt teurer als geplant. Wer muss dann für die Mehrkosten aufkommen? Die Soldaten? Wäre doch logisch, oder? Jedenfalls die Soldaten, die die teuersten Kugeln verschossen haben… Nicht logisch? – Diese Art Logik liegt jedoch der Budgetierung im Gesundheitswesen zu Grunde.

Die meisten niedergelassenen Wilhelmshavener ÄrztInnen müssen damit rechnen, zur Kasse gebeten werden, weil die Versorgung ihrer PatientInnen im vergangenen Jahr teurer wurde als geplant. Es ist allerdings noch nicht ganz raus, ob sie dafür tatsächlich aufkommen müssen – das hängt davon ab, ob ihre KollegInnen billiger behandelt haben, und bis das alles zusammengetragen und berechnet ist, dauert es noch ein Weilchen.

Hintergrund ist die Budgetierung im Gesundheitswesen. Auf der Grundlage diverser Bundesgesetze schlossen die Krankenkassen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen in den einzelnen Bundesländern Verträge über die Summen, die für die Behandlung Kranker und ihre Versorgung mit Medikamenten und Heilmitteln aufgewendet werden dürfen. Mit diesen Verträgen werden die ÄrztInnen gleichzeitig verpflichtet, die ärztliche Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, d.h., sie haben den „Sicherstellungsauftrag“. In seinem Leserbrief in der „WZ“ vom 26.4.2000 nennt der Wilhelmshavener Arzt Rolf Eskuchen diesen Sicherstellungsauftrag den „Schwarzen Peter“, und mit dieser Einschätzung steht er nicht allein. Der GEGENWIND berichtete schon im vergangenen Jahr wiederholt über die Folgen der Budgetierung. In einer Sendung von Radio Jade Anfang Oktober 1999 sorgten sich vier niedergelassene Mediziner um die Medikamentenversorgung ab November (vgl. Ausgabe 155), nachdem Ende August 1999 alle Ärzte eine Mitteilung über die Richtgrößen der Kosten für Arznei-, Verband- und Heilmittel bekommen hatten (vgl. Ausgabe 154).

Die Krankenkassen legen – wie auch die Gesundheitsministerin – Wert auf die Feststellung, dass es keine individuellen Budgets für einzelne ÄrztInnen gibt. Ohne Einschränkung dürfen MedizinerInnen alles verordnen, was notwendig, wirtschaftlich und nachgewiesenermaßen wirksam ist. Das Arzneimittelbudget dafür betrug 1999 rund 3,73 Mrd. DM; d.h. für jeden Versicherten in Niedersachsen standen 555 DM zur Verfügung. (1996 bis 1998 hatte das Arzneimittelbudget 3,4 Mrd. DM jährlich betragen. Für 1998 gab es Regressforderungen, die annulliert wurden durch eine „Amnestie“ – so wurde das tatsächlich genannt! -, die die damals frischgebackene Gesundheitsministerin Fischer im „Vorschaltgesetz“ vom 18.12.1998 erließ.)

Die Krankenkassen vertreten die Auffassung, dass die Summe für 1999 ausgereicht hätte, wenn die Ärzte wirklich wirtschaftlich verordnet hätten. „Nach Berechnungen der Krankenkassen ergibt sich auf der Basis der Verordnungen 1999 ein Einsparvolumen von rd. 492 Mio. DM, wenn nur konsequent auf preisgünstigere Generikapräparate (z.B. ass-ratiopharm statt Aspirin) umgestellt würde, wenn auf Arzneimittel mit umstrittener Wirkung verzichtet würde zugunsten solcher, die auch wirken, wenn teure Nachahmerpräparate, die nur begrenzten oder gar keinen erweiterten therapeutischen Nutzen haben, verzichtet würde. Dann wäre auch Geld da für wirkliche innovative hochwirksame neue Medikamente.“ (AOK Niedersachsen)

Das Budget ist nach Facharztgruppen aufgeteilt, d.h. ein Facharzt für innere Medizin hat eine andere Richtgröße als ein Hautarzt, eine Neurologin eine andere Richtgröße als eine Frauenärztin zu berück- sichtigen. Regresspflichtig macht sich der Arzt/die Ärztin – vielleicht! – wenn er/sie mehr Medikamente, Massagen etc. verordnet als die Gesamtheit seiner/ihrer FachkollegInnen. Nur vielleicht, weil es ja sein kann, dass einige von den anderen weniger als erlaubt verordnet haben und die Gesamtsumme innerhalb des Budgets liegt. Das weiß man für 1999 im Moment noch nicht. Der Wilhelmshavener Internist, der für das 2. Quartal 1999 einen potentiellen Regress von 125.519,48 DM in Aussicht gestellt bekommen hat, kann noch hoffen, dass viele andere InternistInnen weniger als 53,67 DM pro „Fall“ (bei Rentnern: 102,84 DM pro „Fall“) verordnet haben und wenige KollegInnen diese Richtgrößen überschritten haben. Nimmt man nur Wilhelmshaven als Bezugsgröße, hat er schon Pech gehabt: Hier wurde das Budget nach den (noch ungeprüften) Daten der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen um durchschnittlich etwa 8.000 DM pro Arzt und Quartal überschritten.

Hat er nun (allein oder mit anderen niedersächsischen InternistInnen zusammen) das Budget seiner Fachgruppe überschritten, wird seine Verordnungsweise durch einen Ausschuss, an dem Kassen und Ärzte beteiligt sind, überprüft. Er kommt vielleicht ohne Regress davon, wenn er dem Ausschuss in jedem Einzelfall die Notwendigkeit der zwingenden Behandlung mit einem Medikament nachweisen kann. Jedoch gilt das nur bei einigen ganz bestimmten und sehr teuren Krankheiten (z.B. Polychemotherapie beim Krebs).

Darüber hinaus haften alle ÄrztInnen in Niedersachsen gemeinsam mit ihrem Honorar für die Einhaltung des Gesamtbudgets – eine Kollektivhaftung.

Wenn der Arzt Pech hat, dann behalten die Kassen die genannte Summe von seinem Honorar ein. Hat er das ganze Jahr über etwa gleichmäßig verordnet, dann kann er eine knappe halbe Million verlieren – angesichts solcher Aussichten hat ein Wilhelmshavener Allgemeinmediziner letztes Jahr schon erwogen, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen.

Auch die Arzthonorare sind budgetiert. Die „Lösung“, der Krankenkasse vorsorglich etwas mehr an ärztlicher Tätigkeit in Rechnung zu stellen als tatsächlich geleistet, um sich für den Fall eines Regresses vor Verlust zu schützen, käme also nicht in Frage – falls überhaupt jemand auf diese Idee gekommen wäre.

Noch ist das Jahr 2000 nicht alt. Momentan ist der Druck, sparsam zu verordnen, nicht so groß. Im vergangenen Jahr spitzte sich die Lage erst im Herbst zu, als die Ärzte ihre „Richtgrößen-Frühinformation“ von der Kassenärztlichen Vereinigung bekommen hatten. Trotzdem ist ein gewisser „Geiz“ schon zu verzeichnen. Ein uns bekannter kopfschmerzgeplagter Patient musste seine Massagen, die ihm nach einigen Wochen Dauerschmerz und daraus resultierender Verspannung Linderung verschaffen sollten, aus eigener Tasche bezahlen. Und wir haben gegenwärtig Heuschnupfen-Zeit – so mancher Allergiker wird wohl im Moment sehr müde sein, weil nur die neueren – teureren – Antihistaminika diese Nebenwirkung nicht haben.

 

Kommentar:

In der Europäischen Union konkurrieren deutsche Produkte über den Preis, und da Lohnkosten und damit Lohnnebenkosten Teil der Preisgestaltung sind, sollen die Beitragssätze der gesetzlichen Sozialversicherung stabil bleiben. Wenn die Ein- nahmen der Krankenversicherung nicht zu erhöhen sind, muss man folglich die Ausgaben der Kassen begrenzen. Soweit klingt das alles ganz einleuchtend. Und wenn die offiziellen Stellungnahmen stimmen, dann kann man mit den Budgets im Gesundheitswesen auch auskommen – bislang ist noch kein Fall bekannt geworden, in dem jemand starb, während er auf eine Operation wartete, die aus Gründen des Budgets verschoben wurde.

Ist also alles in Ordnung mit dem Budget?

1999 wurde das Budget gegenüber dem Bezugsjahr 1996 um 7,5 % erhöht
Einige Faktoren sprechen dafür, dass es höhere Steigerungen der Ausgaben im Gesundheitswesen gäbe – geben müsste – wenn die Budgetierung dem nicht einen Riegel vorschieben würde:

  • Der medizinische, medizintechnische und pharmazeutische Fortschritt (neue Entwicklungen in der Immunologie, die „Knopflochchirurgie“, neue, nebenwirkungsärmere Medikamente) ist zunächst mal teuer.
  • Die gestiegene Lebenserwartung bedingt steigende ärztliche Leistungen (die Behandlungskosten eines Menschen über 75 Jahre sind neunmal so hoch wie die eines Menschen zwischen 15 und 55).
  • Der medizinische Fortschritt hat dazu geführt, dass ÄrztInnen nicht nur Gesunde „produzieren“, sondern in sehr großem Maß Kranke retten, die danach weiterhin krank (und damit teuer) sind.
  • Arbeitslose bringen nicht nur kein Geld in die Kassen, sondern sind auch häufiger krank als Berufstätige.

Angesichts dieser Faktoren muss man fragen, ob die Fixierung der Ausgaben im Gesundheitswesen an die Grundlohnsumme noch zeitgemäß ist. Die Lohnquote beträgt zur Zeit nur noch 70,8 % aller Einkünfte. Im Vergleich zur übrigen Wirtschaft muss die Gesundheitsfürsorge relativ teurer werden. Eine leise Ahnung davon scheint die Gesundheitsministerin Andrea Fischer mittlerweile beschlichen zu haben: Sie denkt neuerdings darüber nach, ob neben den Löhnen und Gehältern nicht auch andere Formen des Einkommens (etwa Mieten, Zinserträge) mit Beiträgen zur Krankenversicherung belegt werden können, verlässt also die bisher vorherrschende Position, bei der Kostensteigerung im Gesundheitswesen handle es sich um ein ausgabenorientiertes und nicht um ein einnahmenorientiertes Problem.

Dies sind Fragen, die auf bundespolitischer Ebene zu behandeln und zu klären sind. Die Ärzte und Ärztinnen sollten sich eigentlich damit nicht herumschlagen müssen. Dass sie sich mit derlei Problemen zunehmend beschäftigen, ist notwendig geworden durch die Situation, in die sie durch die Budgetierung gekommen sind. Statt verantwortungsvoll ihr medizinisches Können einzusetzen, müssen sie jetzt Preislisten von Arzneimitteln lesen, das Leid des einen gegen das Leid des anderen abwägen (wem gibt der Psychiater das teure atypische Neuroleptikum, welchen 20 oder 50 anderen Kranken mutet er gravierende Nebenwirkungen zu? Wem gibt er das moderne Heuschnupfenmittel, welche anderen 10 oder 30 Allergiker müssen weiterhin müde sein?), müssen sie täglich oder wöchentlich überschlagen, wie viel zuviel sie verordnet haben.

Die Ärzte und Ärztinnen halten die gegenwärtige Situation für unhaltbar und gehen juristisch dagegen vor.

In dieser unerfreulichen Zeit legte der Verband der Angestellten-Krankenkassen ein zusätzliches Osterei: Niedergelassene ÄrztInnen sollen nach Erfolg bezahlt werden. Ein Honorar sollen sie nur bekommen, wenn die Kranken durch ihre Behandlung anschließend gesund sind. Angesichts dessen, dass der größte Teil der Kosten durch unheilbar Kranke entsteht, würden Ärzte, sollte diese Bärenidee tatsächlich verwirklicht werden, gar kein Geld mehr bekommen, denn das Honorar, das sie noch an HustenSchnupfenHeiserkeit verdienen würden, ginge ja für die Budgetüberschreitung gleich wieder weg.

Anette Nowak

 Posted by at 0:22

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