Armut ist Körperverletzung
Das Armutsforum Wilhelmshaven hat viele Arbeitsergebnisse gebracht
(noa) Nach der ersten Enttäuschung – nur ca. 30 TeilnehmerInnen – entwickelte sich das „Armutsforum „Wilhelmshaven“ zu einer überaus produktiven Veranstaltung. Die LINKE. Fraktion im Niedersächsischen Landtag hatte in die Antonslust eingeladen, um mit Betroffenen und Befassten ins Gespräch zu kommen und Handlungsstrategien zu entwickeln.
„Armut bekämpfen“ war ein Wahlkampfschwerpunkt der LINKEN im Landtagswahlkampf, und es ist auch ein Schwerpunkt der Arbeit im Landesparlament. Armutsforen in einigen Städten sollten dazu dienen, mit denen ins Gespräch zu kommen, die die Armut nicht länger ertragen / ansehen wollen. Die Arbeitsform bei diesen Veranstaltungen erwies sich als sehr förderlich, um in kurzer Zeit viel zu erarbeiten und um tätig zu werden. „Das ist das Beste, was ich in 30 Jahren linken Lebens je erlebt habe“, äußerte ein Teilnehmer lobend.
Nach einer schnellen Runde von wechselnden Kleingruppen, in denen sich die Teilnehmenden kennen lernten, gab es ein Impulsreferat von Stefan Thomas (FU Berlin) zum Thema „Armut und Exklusion – was ist los in Deutschland?“ (Kasten)
Die Gruppen, die sich nach dem Referat bildeten, hatten thematisch totale Freiheit. Sie konnten bearbeiten, was immer sie wollten. Bedingung war nur, dass als Arbeitsergebnisse konkrete Handlungsschritte herauskommen sollten und diejenigen, die an den Projekten arbeiten wollten, sich dazu auch gleich verpflichteten.
Es war erstaunlich, wie viele einzelne Projekte auf diese Weise beschlossen und geplant wurden. Diese ganze Fülle konnte kein einzelner Teilnehmer vollkommen überblicken. Deshalb fotografierte Uwe Helmers vom „Stellwerk Zukunft“ aus Vechta, das von der Landtagsfraktion für die Gestaltung des Forums engagiert worden war, alle Protokolle, die geschickterweise auf Flip-Chart-Bögen geführt worden waren. Diese Protokolle wie auch die Arbeitsergebnisse der anderen Armutsforen und der Abschlussveranstaltung am 13. Dezember in Hannover werden zu einer Dokumentation zusammengestellt werden, die voraussichtlich Ende Januar zur Einsicht im LINKEN BÜRO ausliegen wird.
Übrigens: Wer mitten in der Stadt wohnt, mag ja denken, dass die Antonslust ein wenig zu abgelegen ist, um sich als Veranstaltungslokal zu eignen. Stimmt aber gar nicht. Mit dem Auto ist man in weniger als einer Viertelstunde da, mit dem Bus ab Bahnhof dauert es kaum länger, und vom RNK aus geht es sogar richtig schnell. Und das Forum wurde den ganzen Tag über hervorragend versorgt!
beim Armutsforum Wilhelmshaven war: Patrick Humke-Focks, sozialpolitischer Sprecher der LINKEN Landtagsfraktion, hatte für seine Begrüßungsrede ein bisschen in „offiziellen“ Quellen recherchiert und nannte nun neben einigen zutreffenden Fakten (so z.B. bezüglich der Schuldenquote und der Insolvenzen in Wilhelmshaven) auch eine irreführende Zahl: 25 % der Kinder in Wilhelmshaven beziehen Leistungen nach dem SGB II, hatte er herausgefunden.
25 %? Wie? Wissen wir nicht genau, dass es nicht nur ein Viertel, sondern sogar ein Drittel aller Wilhelmshavener Kinder sind, die als arm zu gelten haben?
In Sommer 2007 gab es im Gegenwind eine „Serie“ zum Thema „Kinderwohngeld“. Alleinerziehende Elternteile waren vom Job-Center aufgefordert worden, für ihre Kinder Wohngeld zu beantragen. Zusammen mit dem Kindergeld und dem Unterhalt bzw. Unterhaltsvorschuss erzielten diese Kinder dann so viel Einkommen, dass sie nicht mehr bedürftig waren, also aus dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II fielen. Damit fielen sie auch aus der Statistik.
Das Kinderwohngeld war in Wilhelmshaven „erfunden“ worden. Es war Herr Hein von der Wohngeldstelle Wilhelmshaven, dem als erstem auffiel, dass man die Gesetze so deuten kann. Zwar darf ein Hartz IV-Berechtigter kein Wohngeld beziehen, aber Wohngeld ist eine vorrangige Leistung. Mit diesem juristischen Verständnis ist es möglich, dass Kinder Wohngeld beziehen und dadurch nicht mehr „bedürftig“ sind.
Im Sommer 2007 erregte dieses Thema viele, vor allem in Wilhelmshaven. Thomas Hein brachte gleich drei Begleiter mit, als er sein Verständnis des Gesetzes in einer ALI-Versammlung vortrug. Mit den statistischen Folgen seiner Entdeckung konfrontiert, beteuerten er und die drei Kollegen, die ihn begleiteten, dass es ihnen ganz bestimmt nicht um eine Verfälschung der Statistik und damit eine Verschleierung der Kinderarmut gehe und sie sich dafür einsetzen wollten, dass die Kinder wieder statistisch erfasst würden.
Das ist ihnen offensichtlich nicht gelungen.
Es ist zu vermuten, dass die Zahl der armen Kinder mittlerweile überall „gesunken“ ist, wenn auch kein Kind einen einzigen Cent mehr hat als vorher. Das Beispiel Wilhelmshaven hat Schule gemacht. Mehr und mehr Job-Center haben sich auf dieselbe Weise einer großen Zahl von Leistungsberechtigten entledigt. Mittlerweile gibt es eine entsprechende Dienstanweisung des Sozialministeriums an die SGB II-Behörden.
Wie lange das Bundesbauministerium, auf dessen Kosten das Sozialministerium seine Bücher schönt und das Konto schont, wohl mitspielen wird?
„Exklusion“ heißt Ausgrenzung, und Ausgrenzung ist die von außen auffälligste Folge der Armut.
Um das Armutsproblem zu verstehen, muss man auch den Reichtum sehen: In den Jahren 1995 bis 2005 ist das Bruttosozialprodukt kräftig gestiegen, doch das Einkommen des unteren Fünftels der Bevölkerung ist gesunken. Das Mehrprodukt ist nur bei den übrigen vier Fünfteln der Bevölkerung angekommen, und zwar am meisten beim oberen Fünftel. Armut ist also eine Folge der Umverteilung des Geldes von unten nach oben.
In letzter Zeit ist Armut auch Thema in den Massenmedien – wir hören, dass die Mittelschicht kleiner wird, dass Teile der Mittelschicht verarmen. Über die ganz Armen hören und sehen wir aber ziemlich wenig, die werden weitgehend ausgeblendet.
Armut bedeutet nicht nur, sehr wenig Geld zu haben, sondern sie betrifft die Lebenslage insgesamt. Wer am Existenzminimum lebt, muss nicht einfach nur knausern und auf manches verzichten, sondern steht beständig vor der Wahl, etwa der Wahl zwischen Arztbesuch und Schulbedarf, zwischen Buch und Essen, zwischen einem Kleidungsstück und einem Küchengerät – und die Frage des Verreisens, des Ausgehens, eines Theaterabos und dergleichen stellt sich gar nicht erst. Und so ist Armut Ursache und Folge sozialer Ausgrenzung.
Bislang wenig beachtet sind die psychischen Folgen von länger andauernder Armut. Sie bewirkt eine nachhaltige Beschädigung der Identität. Wenn Menschen sich kennen lernen, dauert es nicht lang, bis sie sich gegenseitig erzählen, wo sie arbeiten und was für Aufgaben sie an ihrem Arbeitsplatz haben – wir definieren uns über unsere Arbeit. Aber worüber definiert sich jemand, der/die auf staatliche Transferleistungen angewiesen ist? Und so gehen soziale Anerkennung und das Selbstwertgefühl verloren, und in der sich verfestigenden Dynamik von sozialer Ausgrenzung und psychischer Desintegration kann der/die Einzelne am Ende keinen Ausweg mehr sehen. Das hat natürlich auch Folgen für die körperliche Gesundheit; Armut kostet Lebenszeit: Arme Menschen leben kürzer als begüterte, Männer kostet die Armut elf Lebensjahre, Frauen sieben.
Stefan Thomas zog aus den Forschungsergebnissen zu den Folgen der Armut einige prägnante Schlussfolgerungen: Ein bedingungsloses Bürgergeld (Grundeinkommen), das höher als das soziokulturelle Existenzminimum liegt, ist wesentliche Voraussetzung zur wirkungsvollen Bekämpfung von Armut und Exklusion. Neue Anerkennungs- und Integrationsformen müssen geschaffen werden, um allen Menschen den Status der vollwertigen Mitgliedschaft in der Gesellschaft zu ermöglichen. Und ganz notwendig ist es, dass die Erörterung der sozialen Frage in ihrer Bedeutung für das 21. Jahrhundert in den Mittelpunkt gerückt wird.
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