Kein Aprilscherz
Bei der ALI-Monatsversammlung ging es um das neue Gesetz zur Kürzung von Hartz IV
(noa) Sowas! Da kündigen wir endlich mal das Thema einer ALI-Versammlung an – wofür haben die uns den Jahresplan denn auch gegeben? – und dann passiert etwas ganz anderes. Die TeilnehmerInnen am 11. April sind bestimmt trotzdem auf ihre Kosten gekommen. Martin Künkler aus Berlin, politischer Referent bei der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen, erläuterte die jüngst in Kraft getretene Änderung von Hartz IV.
Unter der Überschrift „Zurück an den Rockzipfel der Eltern!“ hatte die Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland die Veranstaltung angekündigt. Doch was der Staat mit diesem Teil der Gesetzesänderung spart, ist gemessen an der Summe der Kürzungen, die das „Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze“ einspielt, ein Klacks. Gerade mal 40 Mio. Euro sollen gespart werden, indem junge Menschen bis zum Alter von 25 Jahren nicht mehr aus dem Elternhaus ausziehen dürfen, wenn sie Arbeitslosengeld II beziehen.
Um diesen Teil der Gesetzesänderung gab es allerdings den größten Rummel. „Es kann doch nicht angehen, dass junge Leute aus wohlhabenden Elternhäusern ausziehen und sich auf Kosten der Allgemeinheit ihre Wohnung plus Einrichtung bezahlen lassen“, hatte z.B. Hubertus Heil (SPD) dazu gesagt. Und da kann man ja nur zustimmen. Diese jungen Leute sollen sich ihre eigene Wohnung mal lieber von ihren wohlhabenden Eltern bezahlen lassen.
Der (schlechte) Witz dabei ist: Diese jungen Leute bekommen auf jeden Fall ihre eigene Wohnung von den Eltern bezahlt, denn Eltern sind unterhaltspflichtig für ihre Kinder, und wohlhabende Eltern können es sich auch leisten, ihrer Unterhaltspflicht nachzukommen.
Gemeint mit dem Gesetz sind junge Leute aus armen Elternhäusern, die zur Finanzierung einer eigenen Bleibe öffentliche Mittel in Anspruch nehmen müssen. Das können sie nun nicht mehr. Zieht z.B. ein 20-Jähriger oder etwa eine 24-Jährige ohne zwingenden Grund aus dem Hotel Mama aus, dann bekommt er/sie die Kosten der Unterkunft nicht erstattet. Und vom Regelsatz allein lässt sich eine Wohnung nicht finanzieren.
„Einschränkung der grundgesetzlich garantierten Freizügigkeit“, so nennen viele diese neue Bestimmung. Das stimmt schon. Doch soll jemand, der sich keine Wohnung leisten kann, den Steuerzahlern auf der Tasche liegen?
Tatsächlich ist angesichts des Gesamtpakets an Kürzungen diese Frage nur eine Nebenfront. Einen weitaus größeren Betrag, nämlich 560 Mio. Euro, nimmt der Staat dieser Personengruppe weg, indem für sie der Regelsatz des Alg II von 345 Euro auf 276 Euro, also um 20 % gesenkt wird.
Wen trifft diese Kürzung? Kinder wohlhabender Eltern würden in den Genuss von Arbeitslosengeld II gar nicht erst kommen. Sind aber die Eltern ihrerseits Alg II-Empfänger, können sie ihre erwachsenen Kinder nicht unterhalten. Leben die erwachsenen Kinder mit ihnen in einem Haushalt und bekommen nur 80 % des Regelsatzes, müssen sie es nun wohl oder übel tun.
Verwandte in direkter Linie sind einander unterhaltpflichtig. Das regelt das Bürgerliche Gesetzbuch. Eltern müssen ihre Kinder ernähren, unterbringen und kleiden. Wenn die Kinder erwachsen sind, bleibt diese Unterhaltspflicht bestehen, gilt aber nur noch eingeschränkt. Den Eltern bleibt ein Selbstbehalt von ca. 1000 Euro pro Person. So viel Geld hat ein Alg II- Empfänger aber, ob mit oder ohne erwachsene Kinder, nicht. Das Familien„einkommen“ eines arbeitslosen Ehepaares mit 18- bis 25-jährigem arbeitslosen „Kind“ im gemeinsamen Haushalt sinkt durch das neue Gesetz von 967 auf 898 Euro. Und auch Eltern, die berufstätig sind, aber wenig verdienen, werden sich weiter einschränken müssen, wenn der unter 25-jährige Sprössling jetzt nur noch 276 statt bisher 345 Euro in den Haushalt einbringt.
Besonders perfide ist: Der Regelsatz ist für die neuen Bundesländer endlich an den westlichen angeglichen worden. Doch einer solchen Bedarfsgemeinschaft in Ostdeutschland, wo die Langzeitarbeitslosigkeit höher ist als im Westen, nimmt man mehr aus der rechten Tasche, als man ihr in die linke steckt: Der Regelsatz für die Eltern steigt geringfügig, während der Satz für die erwachsenen Kinder deutlich stärker gesenkt wird.
„Es ist kein Aprilscherz“, hatte Werner Ahrens eingangs unter Bezug auf das In-Kraft-Treten des Gesetzes am 1. April gesagt. Ein makabrer Scherz ist dennoch damit verbunden: Zwar ist es ab 1. April gültig, also: Die Kürzungen beim Alg II finden seit dem 1. April statt. Doch: Das Verbot, aus dem elterlichen Haushalt auszuziehen, galt schon ab dem Tag der Verkündigung des Gesetzes, dem 17. Februar. Noch schnell vor dem 1. April ausziehen, das half nichts.
Martin Künkler hatte seinen Vortrag so kurz gehalten, dass reichlich Zeit zur Diskussion blieb, und zu den Kürzungen für die 18- bis 25-jährigen Arbeitslosen gab es Fragen und Beiträge. So wollten Versammlungsteilnehmer beispielsweise wissen, wie groß die Erfolgsaussichten bei Klagen gegen Bescheide auf Grundlage des neuen Gesetzes wohl sein könnten.
Bezüglich des „Auszuges nur nach Genehmigung“ schätzt Künkler die Chancen völlig offen ein. Hier kann man unmöglich vorhersehen, ob ein Gericht die Verletzung der persönlichen Freiheit eines jungen Erwachsenen sanktionieren würde oder nicht. Bezüglich der Senkung des Regelsatzes für 18- bis 25-Jährige wäre denkbar, dass ein junger Arbeitsloser seine Eltern auf Unterhalt verklagt, den diese ihm natürlich nicht geben können, da ihnen nicht nur keine 1000 Euro Selbstbehalt verbleiben würden, sondern sogar ein Betrag, der unter dem Existenzminimum läge. Doch wer führt eine solche Klage, zumal wenn man weiß, dass sie sich über Jahre hinzieht und der Ausgang völlig ungewiss ist? „Auf See und vor Gericht ist man in Gottes Hand“, zitierte Künkler eine alte Weisheit.
„Auszug nur nach Genehmigung“ – wann wird denn der Auszug aus dem Elternhaus noch genehmigt? Die Kriterien sind so eng anzusetzen wie jetzt schon, wenn Jugendliche beim Jugendamt um eine eigene Wohnung nachsuchen. Es muss also schon schlimm zugehen zu Hause, bevor die ARGE dem Auszug zustimmt.
Den weitaus größten Kürzungsposten des neuen Gesetzes, an die 2 Milliarden Euro nämlich, stellt der Teil dar, über den am wenigsten geschrieben und gesprochen wurde. Wie wir in der letzten Ausgabe unter der Überschrift „90 Jahre arbeitslos“ berichteten, wurden die Beiträge, die für Alg II-BezieherInnen an die Rentenkasse abgeführt werden, gesenkt. Wurde bis 31. März der Rentenbeitrag für Langzeitarbeitslose auf der Basis eines fiktiven Monatsverdienstes von 400 Euro berechnet, so gilt jetzt nur noch eine Berechnungsgrundlage von 205 Euro. Der Rentenanspruch, der dadurch erworben wird, sinkt damit noch weiter.
Ein offensichtlich ziemlich frustrierter und wütender Versammlungsteilnehmer meinte dazu, das würde doch keinen Unterschied machen. Man sollte für Alg II-Empfänger am besten gar keine Rentenbeiträge zahlen.
Geht man von der Rechnung aus, die wir in dem genannten Artikel aufgeführt haben, klingt es erst mal so, als hätte er Recht. Wer in seinem ganzen Leben niemals Arbeit findet, müsste 90 Jahre lang arbeitslos sein und Alg II bekommen, um eine Rente in Höhe von Alg II zu bekommen – jetzt, nach der Kürzung des Rentenbeitrages auf etwa die Hälfte, fast doppelt so lang. So jemand würde dann mit 67, wenn er das Rentenalter erreicht, sowieso ergänzend Grundsicherung bekommen – warum also nicht gleich nur Grundsicherung?
Doch es werden wohl nicht allzu viele Leute während ihres gesamten Erwachsenenlebens arbeitslos sein. Und die Kürzung des Rentenbeitrages für Hartz IV-Betroffene bedeutet, dass an die 2 Mrd. Euro weniger in die Rentenkasse fließen, was die Rente für alle RenterInnen senkt.
Gut zweieinhalb Milliarden Euro sind den Schwächsten der Gesellschaft, den Arbeitslosen und den Alten, zum 1. April weggenommen worden. Und es wurde publizistisch so raffiniert gemacht, dass kaum jemand gemerkt hat, was für eine Schurkerei das ist.
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