Arbeitslosengeld II
Jul 212004
 

Ein echter Liebestest

Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel

(noa) So gut besucht wie am 13. Juli war eine ALI-Monatsversammlung schon lange nicht mehr. Thema war, wie schon in der Juni-Versammlung, das Arbeitslosengeld II, diesmal aber ganz praktisch anhand des Antragsformulars. Nachdem gerade ein paar Tage zuvor das Gesetz gegen den gemeinsamen Widerstand aller ostdeutschen Bundesländer durchgeboxt worden war, wollten auch viele, die bisher noch nie bei einer Veranstaltung der Arbeitsloseninitiative gewesen waren, doch wissen, was ihnen blüht.

Als das radikalste Kürzungsprogramm, verbunden mit einer mit Einführung der Zwangsarbeit, bezeichnete ALI-Vorsitzender Günther Kraemmer das Gesetz. Millionen von Arbeitslosen werden jede Arbeit annehmen müssen, jeder Job wird „zumutbar“ sein, und damit wird ein enormer Druck auf die ausgeübt werden, die noch in Arbeit stehen. Seit einigen Wochen schon fordern Arbeitgeber eine Verlängerung der Arbeitszeit, eine Verkürzung des Urlaubes und die Streichung von gesetzlichen Feiertagen.
Seit dem 19. Juli bis Mitte September werden die Formulare an alle möglicherweise Anspruchsberechtigten versandt; am 4. Oktober beginnt die Dateneingabe; ab Mitte November erfolgen die Bescheide, ob und in welcher Höhe Arbeitslosengeld II gezahlt werden wird.
Schätzungsweise 500.000 Menschen, die jetzt noch Arbeitslosenhilfe beziehen, werden keinen Anspruch und deshalb ab 1. Januar 2005 keinerlei Einkommen mehr haben, denn es werden sowohl Einkünfte von Familienangehörigen als auch vorhandene Vermögenswerte in die Berechnung der „Grundsicherung für Arbeitslose“, wie das Arbeitslosengeld II im Gesetz heißt, einfließen. Ein Besucher lieferte mit seiner besorgten Frage das Beispiel, an dem Werner Ahrens das erläuterte:
„Nehmen wir an, ich lebe unverheiratet mit einer Frau zusammen, die 1500 Euro netto verdient. Wie viel Alg II werde ich bekommen?“

Was bleibt?

Nun ging das Rechnen los: Von den ersten 400 Euro bleiben 15 %, also 60 Euro, anrechnungsfrei. Von den nächsten 500 Euro werden 30 %, also 150 Euro, nicht angerechnet, und von den restlichen 600 Euro sind wieder 15 %, also 90 Euro, frei. 300 Euro sind also anrechnungsfrei, und damit bleiben vom Lohn der Lebensgefährtin 1200 Euro, die für die Bedarfsgemeinschaft anzurechnen sind, und der Kollege bekommt nichts! Fassungslos fragte er, ob er da nicht besser eine eigene Wohnung nehmen soll.
Ob die Lebensgefährtin auch den Unterhalt für das Kind aus erster Ehe zahlen müsse, war seine nächste Frage, als er sich von diesem Schock erholt hatte. Nun, das wäre bei diesem Einkommen nicht der Fall, aber da über 1500 Euro alles angerechnet wird, wird es in anderen Ehen oder Lebensgemeinschaften mit höherem Lohn oder Gehalt des Partner durchaus so sein.
teamAls „echten Liebestest“ bezeichnete deshalb ein Teilnehmer das Arbeitslosengeld II. Überhaupt zeigte sich bei vielen der etwa 100 Gäste immer wieder Galgenhumor. Anderen jedoch war an den Gesichtern anzusehen, dass sie sich so langsam klar darüber werden, was im nächsten Jahr auf sie zukommt: 345 Euro beträgt das Alg II, unabhängig davon, wie hoch die Arbeitslosenhilfe jetzt noch ist.
Zwar haben sowohl die SPD als auch die Grünen in ihren Wahlprogrammen vor der letzten Bundestagswahl versprochen, dass es keine Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau geben werde, woran auf der Juni-Versammlung der ALI der Referent Guido Grüner erinnert hatte. Genau das ist aber nun doch der Fall: 296 Euro beträgt derzeit der Sozialhilfesatz für einen Haushaltsvorstand. Im Durchschnitt aller Sozialhilfeempfänger fielen darüber hinaus 49 Euro monatlich an einmaligen Zahlungen (sei es für eine Waschmaschinenreparatur oder die Konfirmation eines Kindes) an, und 345 Euro, also genau die Summe aus beiden Zahlen, beträgt der Alg II-Regelsatz für eine allein lebende Person. Zu zweit lebt man bekanntlich billiger, deshalb bekommen zwei in einem gemeinsamen Haushalt wohnende Arbeitslose zusammen 622 Euro. Für unter 14-jährige Kinder kommen je 207 Euro, für Kinder unter 18 je 276 Euro dazu.
Man muss schon genau rechnen, um zu bemerken, dass insofern sogar eine Senkung im Vergleich zur Sozialhilfe stattgefunden hat: Bei den bis 14 Jahre alten Kindern beträgt der Sozialhilfesatz 65 % vom Regelsatz des Haushaltsvorstandes; beim Alg II sind es nur 60 %. Für die 14- bis 18-jährigen Kinder ist eine Senkung von 90 % auf 80 % des Regelsatzes vorgenommen worden.
Eine Familie mit zwei unter 14-jährigen Kindern wird künftig mit 1036 Euro im Monat zurechtkommen müssen.
Da Sonderbedarf im Regelsatz schon enthalten ist, gibt es, egal in welcher Lebenslage, keinen Cent zusätzlich. Da wir ja in einem Sozialstaat leben (oder?), wird man in einer wirklich schlimmen Notlage natürlich nicht allein gelassen. Wenn also das Haus abbrennt und man sich neu einrichten muss, bekommt man für Sonderbedarf doch Geld – allerdings als Darlehen, das man anschließend wieder abstottern muss.

So einfach ist das!
“Ist Arbeit nicht zu finden, ist die Schaffung von zusätzlichen Arbeitsgelegenheiten vorgesehen.”
Aus einem Informationsblatt des Arbeitsamtes vom Juli 2004

Aus dem Publikum kam die Frage, was eigentlich passieren wird, wenn es bis zum 1. Januar nicht klappt mit dem Arbeitslosengeld II. Immerhin gab es in letzter Zeit immer wieder Pressemeldungen darüber, dass noch gar nicht klar sei, wie und durch wen die Auszahlungen geschehen werden. In der Frage schwang Hoffnung mit, dass es noch eine Gnadenfrist mit den jetzigen Bedingungen geben könnte, man vielleicht noch ein Jahr lang verschont bliebe vor der Verelendung. Doch Werner Ahrens musste den Frager enttäuschen. Die Äußerungen des Kanzlers in den letzten Tagen waren deutlich genug: Das Alg II kommt zum 1.1.05!
Zusätzlich zu den 345 Euro für den Lebensunterhalt wird es die Kosten einer angemessenen Unterkunft und Heizkosten geben. Einer angemessenen Unterkunft, wohlgemerkt! In Leipzig wurde neulich beschlossen, leer stehende, für den Abriss vorgesehene Plattenbauten doch noch stehen zu lassen, weil sie ab dem nächsten Jahr wahrscheinlich wieder Mieter finden werden. Werner Ahrens wies darauf hin, dass auch hier abrissreife Häuser stehen, die „angemessenen Wohnraum“ für Arbeitslose bieten könnten.
Die Höhe der Kosten für die angemessene Unterkunft, die die Kommunen an die Alg II-Empfänger auszahlen werden, ist noch nicht bekannt. Sie wird auf jeden Fall in unterschiedlichen Städten unterschiedlich hoch sein, orientiert an der je ortsüblichen Miete, die ja auch in München höher ist als in Wilhelmshaven, doch bestimmt nicht den hohen ortsüblichen Mieten entsprechen, sondern sich am unteren Rand bewegen. Klar ist aber schon, wie groß die angemessene Unterkunft ist: 45 m2 für eine Einzelperson, 60 m2 für zwei; für jede weitere Person kommen 10 m2 dazu. Natürlich darf man in einer größeren Wohnung wohnen bleiben – wenn man sie bezahlen kann.
Ersparnisse dürfen behalten werden – bis zur Höhe von 200 Euro pro Lebensjahr. Ein 50-jähriger Arbeitsloser darf also 10.000 Euro auf dem Sparbuch haben, zur Alterssicherung. Hoffnungsfroh erklang es aus dem Publikum: „Wir haben hier ja das Bankgeheimnis!“ „Pustekuchen!“, war die Antwort, natürlich müssen Banken der Arbeitsagentur oder dem Sozialamt Auskunft geben. Das gilt auch für Banken in anderen EU-Ländern. Lediglich die EU-Staaten Belgien, Luxemburg und Österreich haben sich dieser Vereinbarung noch nicht angeschlossen, doch es wurde davor gewarnt, in einem dieser Länder ein Konto zu eröffnen, denn dass sie sich auch anschließen werden, steht zu erwarten.
In der Versammlung ging das Grübeln los: Wie kann man das Ersparte retten? Einzelne Zwischenrufe rieten: „Kopfkissen!“ Vielleicht begnügen sich die AA-Mitarbeiter, die den Antrag bearbeiten, ja mit neueren Kontoauszügen? Andererseits, wenn das Arbeitsamt bei begründetem Verdacht auf Missbrauch von Sozialleistungen sogar Hausbesuche machen darf, um sich von der Vermögenssituation eines Antragstellers ein Bild zu machen, reicht das vielleicht nicht. Ein Auto kaufen? Schon eher. Wenigstens dies ist bei Hartz IV großzügiger geregelt, als es bei der Sozialhilfe gilt: In einem Haushalt darf es so viele Autos wie erwerbsfähige Bedürftige geben. Schließlich soll die ganze „Reform“ ja dazu dienen, dass die Leute arbeiten gehen, und dazu müssen sie flexibel sein. Allerdings darf Papa nicht Mamas und Sohnes Wagen als Zweit- und Drittwagen laufen lassen, um günstiger mit der Kfz-Haftpflichtversicherung zu liegen; jedes Auto muss einen eigenen Halter haben.
Tumultartige Reaktionen gab es auf der Versammlung nach der Information, dass die Erben eines Alg II-Beziehers, der z.B. ein Häuschen zu hinterlassen hatte, sein Arbeitslosengeld II zurückzahlen müssen – nicht in voller Höhe, sondern „nur“ bis zur Höhe von 10 Jahren Alg II-Bezug. Witze, die schon jetzt, ein halbes Jahr vorher kursieren, bezweifeln, dass es dazu jemals kommen kann:

Sagt der Arzt zum Langzeitarbeitslosen: Es tut mir Leid, Sie haben noch ein halbes Jahr zu leben. Antwortet der Patient: Was, noch so lang? Wovon bloß?

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