Alltag im Flüchtlingslager
Okt 282015
 

Aus der Not erwachsen Tugenden

logoflüchtlingshilfe

(iz) Letzte Woche kamen die ersten Flüchtlinge im Notaufnahmelager „Sporthalle KKG“ (ehemaliges Käthe-Kollwitz-Gymnasium) an. Zwei Tage später schilderten Vertreter von Stadt und Polizei in einer Pressekonferenz die Sachlage. Detailliert wurde über die Organisation und den Alltag in der Unterkunft berichtet. Wenige Tage später waren lokale MedienvertreterInnen eingeladen, sich selbst vor Ort ein Bild zu machen.

Carsten Feist, Referatsleiter Familie, Jugend, Bildung & Sport, und Oberbürgermeister Andreas Wagner führen – als Vertraute  der Flüchtlinge – die kleine Gruppe der Medienvertreter über das Gelände und durch das Gebäude. Der Einblick bestätigt und vertieft den Eindruck, den die Pressekonferenz hinterlassen hatte: Die Menschen leben dort friedlich und solidarisch zusammen. Sie kommen aus verschiedenen Staaten, verschiedenen Kulturen, gehören unterschiedlichen Religionen bzw. Glaubensrichtungen an, sprechen verschiedene Sprachen. Doch was sie verbindet, ist die Odyssee der Flucht, die hinter ihnen liegt.

So schade es ist, dass in Wilhelmshaven aufgrund des demografischen Wandels zunehmend Schulgebäude leer stehen – in dieser Notsituation erweist es sich als Vorteil.Die Flüchtlinge können in kleineren Einheiten untergebracht werden wie hier im KKG oder demnächst in der Schule Albrechtstraße. Und solche Gebäude sind wohnlicher als eine Massenunterkunft in einem verlassenen Baumarkt. Hier haben sich ja auch mal SchülerInnen wohlgefühlt, es gibt fest installierte Sanitärräume, Fenster und einen begrünten Schulhof.

Sehr kurzfristig wurde die Stadt, wie viele andere Kommunen, vom Land um Amtshilfe gebeten, um den ankommenden Flüchtlingen eine menschenwürdige Unterkunft bereitzustellen. An einem Freitag kam das Startsignal, bis Montag arbeiteten Freiwillige, Hilfsorganisationen, Mitarbeiter von Stadt und Handwerksbetrieben durch, damit die ersten Flüchtlinge am Dienstag einen Ruhepunkt finden konnten. Im Miteinander von Haupt- und Ehrenamtlichen wurde diese von außen gestellte Aufgabe vorbildlich gelöst.

Der Schulhof ist eine Art Dorfplatz. In der Mitte spielen die Kinder, Mütter sitzen auf Bänken und schauen zu. Der Dorf-Friseur raucht eine Zigarette. Ein Anästhesist aus Syrien paukt mit dem Smartphone-App fleißig Deutsch. Ein leitender Arzt des Klinikums hat Interesse gezeigt, weil er weiß, dass syrische Anästhesisten sehr gut ausgebildet sind. Es steht ja gar nicht fest, ob der Mann in Wilhelmshaven bleiben wird, das KKG ist ein Übergangslager, die Kontingentverteilung kann ihn später sonstwohin verschlagen. Aber vielleicht klappt es ja.

Ringsum stehen beheizte Zelte. In einem Küchenzelt werden dreimal täglich Mahlzeiten bereitgestellt, zwei weitere dienen als Speisesaal. Wer will, kann sich jederzeit mit Brot und Aufschnitt aus dem Kühlschrank bedienen, auch Heiß- und Kaltgetränke stehen immer bereit. Der Bedarf an „Halāl“-Fleisch kann derzeit nicht gedeckt werden, doch keiner murrt über die angeboteten Gerichte oder Aufschnitt aus anders geschlachtetem Rind- und Geflügelfleisch.1

Ein weiteres Zelt dient der Ausübung religiöser Rituale. Die Flüchtlinge unterschiedlichen Glaubens sprechen unter sich ab, wer dort wann ungestört beten oder meditieren kann.

Auf dem Hof steht auch der Toilettenwagen für die Männer. Die Frauen nutzen die WCs in der Sporthalle. Im Gebäude gibt es einen Kinder-Spielraum, eine Sanitätsstation, die rund um die Uhr besetzt ist, und eine Ausgabestelle der Flüchtlingshilfe für Kleidung, Spielzeug und Weiteres, was von WilhelmshavenerInnen gespendet wurde.

In der Sporthalle sind gut hundert Betten – Matratzen auf Paletten – aufgebaut. Familien haben sich die Betten zusammengeschoben. Alle haben die gleichen Paletten-Betten. Auch hier wurde einem möglichen Konflikt-Potenzial, einem möglichen Streit um das „bessere Bett“ vorgebeugt. Matratze, Kopfkissen, Wolldecke – kein Luxus, aber ein trockener und warmer Platz, um sich von den Strapazen zu erholen. Vielen ist noch die Erschöpfung der wochenlangen Flucht anzusehen.

Oben im kleineren Gymnastikraum sind Frauen untergebracht, die allein oder mit nur mit Kindern hergekommen sind. Eine hat erst vor wenigen Wochen ihren Mann durch einen Bombenanschlag verloren und sich dann mit dem Baby auf den Weg gemacht.

Zur Ausstattung gehören W-Lan, Steckdosen und insgesamt zwei, drei Fernseher. Auch kein Luxus, sondern das Mindeste, um mit Familie, Freunden, Heimat verbunden zu bleiben, um Angehörige wiederzufinden.

Die Flüchtlinge erhalten von der Stadt Unterkunft, Verpflegung und Infrastruktur für Kommunikation, aber keinerlei Bargeld, Fahrkarten, Smartphones oder Ähnliches.

Trotz der vielen Menschen ist es auch tagsüber angenehm ruhig in dem großen Schlaf- und Aufenthaltsraum. Es bedarf keiner streng angeordneten Regeln für die Nacht, damit jeder zur Ruhe kommt. Überhaupt regeln die Flüchtlinge das Meiste in gegenseitiger Rücksichtnahme selbst. Einmal täglich tagt der „Dorfrat“ mit der Einsatzleitung der Stadt, um Aktuelles zu besprechen.

Bei der Ankunft werden nur drei Regeln ausgesprochen: 1. Respekt für die anderen, 2. kein Alkohol, 3. es gelten die deutschen Gesetze, Toleranz, Gewaltfreiheit. Alles andere regeln und organisieren die Flüchtlinge unter- und miteinander. Sie kümmern sich auch um die Reinigung der Sanitärräume. Es liegt kein Unrat herum, der landet in den Müllbehältern, morgens sind schon die ersten Bewohner unterwegs, um volle Säcke auszutauschen. Einige Frauen haben Unterstützung beim Kochen angeboten. Nicht weil es nicht schmeckt, sondern weil sie selbst aktiv werden und ihren hilfsbereiten Gastgebern etwas zurückgeben wollen.

Kurz gesagt: Es gibt nichts, was Anlass zu Kritik am Verhalten dieser Notgemeinschaft gäbe. Nichts ist anders, als wenn 100 Deutsche / Mitteleuropäer sich zeitlich befristet mit der erforderlichen Disziplin auf einem begrenzten Raum aufhalten. Keinen Mißstand, den man vor kritischen Augen verbergen müsste.

Der einzige Grund, warum das Gelände abgesperrt und mit einem Sichtschutz versehen ist: Das Recht auf Privatsphäre. Das ist so schon mal nichts Ungewöhnliches. Wozu haben wir Gardinen oder Jalousien vor dem Fenster, wozu einen Zaun oder eine Hecke um unseren Garten? Selbst ambitionierte Camper stecken ihren Claim vorsichtshalber mit Trassierband ab. In der Notunterkunft wohnen Menschen, die ihr Heim durch Krieg oder Verfolgung verloren haben oder aufgeben mussten, wochenlang mit vielen fremden Menschen unterwegs waren und campieren mussten. Flucht, Angst, Hunger, Kälte. Sie brauchen Ruhe und Privatsphäre mehr denn jede/r andere.

Die Notunterkunft ist kein Zoo. Sie wird aus Steuergeldern finanziert, aber das rechtfertigt keinen Neugier-Tourismus. Wir latschen ja auch nicht rudelweise durch Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen oder Altenheime, nur weil sie öffentliches Eigentum sind.

Am Eingang stehen Sicherheitskräfte, die nur authorisierte Mitarbeiter hinein- und wieder hinauslassen. Auch die Flüchtlinge können das Gelände verlassen, z. B. um im nahegelegenen Discounter etwas einzukaufen. Sie sind, so Carsten Feist, Gäste und keine Gefangenen. „Vertrauen, Privatsphäre, Sicherheit vor äußeren Einflüssen und Selbstorganisation“: Das ist die Zauberformel, mit der die Notunterkunft im KKG bislang hervorragend funktioniert.

1 Halāl: nach muslimischen Richtlinien geschlachtete Tiere, Genaueres dazu ist bei Wikipedia nachzulesen. Kein Thema beim Besuch in der Unterkunft, sondern ein kleiner Exkurs d. Verf.: Ehe man das Schlachten ohne Betäubung kritisiert, sollte man darüber nachdenken, ob das Schlachten von Tieren, egal in welcher Form, überhaupt „human“ sein kann. In den Schlachthöfen unserer christlich dominierten Kultur werden Rinder durch eine Schleuse zum Bolzenschuss getrieben, der aber auch nicht immer „sitzt“, so dass viele Tiere, an einem Hinterbein aufgehängt, noch bei Bewusstsein dem Kehlschnitt entgegenschweben. Schweine werden gruppenweise mit Kohlenmonoxid betäubt oder, wie auch Hühner, elektrisch. Auch hier kommt es durch Akkordarbeit regelmäßig zu unvollständiger Betäubung (s. u. a. Wikipedia-Artikel). Warum Christen massenhaft Schweine vertilgen, die intelligenter sind als Hunde, ist wieder ein Thema für sich. Wir wollen hier niemandem den Appetit auf Fleisch verderben, das muss jede/r für sich entscheiden. Sondern es geht darum: Ehe man andere Kulturen oder Glaubensrichtungen wegen etwas verurteilt, das einem auf den ersten Blick fremd erscheint, sollte man sich an die eigene Nase packen und Sitten und Gebräuche differenziert betrachten und bewerten.

Ein Reizthema bei der Debatte um die Versorgung muslimischer Flüchtlinge ist gerne auch der Joghurt ohne (Schweine-)Gelatine („auch noch Sonderwünsche!“). Glauben hin oder her: Was hat eigentlich Gelatine in Joghurt zu suchen? Wer auf hochwertige Lebensmittel steht, bevorzugt auch als Christ oder Atheist ein unverfälschtes Produkt ohne überflüssige Zusatzstoffe. Einfach mal die Dinge von verschiedenen Seiten betrachten, dann lässt sich sachlicher diskutieren.

 

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