Alleen
Mrz. 162011
 

Deutsche Gründlichkeit

Unseren Alleen droht der Kahlschlag – unnötig und interessengesteuert

(iz / BUND) Der Landkreis Friesland rühmt sich seiner schönen Alleen. Doch die Regelungswut, mit der eine neue EU-Leitlinie hierzulande ausgelegt und umgesetzt wird, setzt die regionalen Behörden unter Druck: Ohne einen Mindestabstand zum Fahrbahnrand dürfen Bäume nicht mehr an Straßen stehen. Alarmierte BürgerInnen haben sich zu einem Bündnis gegen den drohenden Kahlschlag zusammengeschlossen.

Allee_mit_Flosse“Rettet unsere Alleen – Alleen sind Heimat” lautet die Botschaft der Bürgerinitiative, die von Karin Evers-Meyer ins Leben gerufen wurde. “Als Bürgerin, nicht als Politikerin”, betonte die Bundestagsabgeordnete aus Zetel bei einer Diskussionsveranstaltung Anfang März im Bürgerhaus Schortens, wo sie neben Landrat Sven Ambrosy und Frank Buchholz, Leiter der Landesbehörde für Straßenbau in Aurich, auf dem Podium saß. Moderiert wurde die teilweise sehr emotionale Diskussion rund um das Thema “Baumunfälle” von Udo Borkenstein, Vorsitzender des Regionalen Umweltzentrums (RUZ) Schortens.

Die EU ist nicht schuld …

Im Zweifelsfall ist immer die EU-Bürokratie schuld, wenn deutschen Behörden keine Ausrede mehr einfällt. Tatsächlich hat die EU “Leitlinien zur Straßenverkehrssicherheit 2011-2020” herausgegeben mit dem Ziel, die Zahl der Verkehrstoten auf europäischen Straßen von derzeit 35000 (2009) bis 2020 um die Hälfte zu reduzieren. Das Wort “Baumunfälle“ kommt in diesen Leitlinien ebenso wenig vor wie konkrete Zahlen zu Abständen zwischen Bäumen und Straßen, und die Sicherheitsvorschriften für Straßen bilden nur einen von sieben Ansatzpunkten für weniger Verkehrstote. Die Mitgliedsstaaten sollen diese Leitlinien konkretisieren, und da hatte man in Deutschland wohl vor allem die begehrten Zuschüsse aus Brüssel und damit folgende Passage im Auge: “Die Kommission wird sicherstellen, dass EU-Mittel nur für Infrastruktur gewährt werden, die mit den Richtlinien für die Sicherheit im Straßenverkehr … übereinstimmt.” Man geht also im vorauseilenden Gehorsam auf Nummer sicher, um für die ganzen Ortsumfahrungen etc. die EU-Förderung kassieren zu können. Das bedeutet im Umkehrschluss: Es liegt im Ermessen der Entscheidungsträger vor Ort, ob sie vielleicht lieber auf die Zuschüsse verzichten als auf ihre gewachsenen Alleen.

Aus der Zeitschrift “Straßenverkehrstechnik” Nr.1, 2008, zu Baumunfällen im alleenreichen Mecklenburg-Vorpommern: “In bestehenden Alleen haben sich Geschwindigkeitsbegrenzungen – verbunden mit entsprechenden Kontrollen – und der Einsatz von Schutzplanken als Mittel zur Verbesserung der Verkehrssicherheit bewährt. Die Wirkung dieser Maßnahmen ist in der Unfallstatistik deutlich sichtbar. Bei einer Analyse der zeitlichen Verteilung von Baumunfällen fallen die vielen Unfälle in den Nächten am Wochenende auf, die überwiegend von jungen Fahrern verursacht werden. Insgesamt ist der Anteil junger Unfallverursacher allerdings rückläufig, begleitet von einer auffälligen Erhöhung bei den sehr alten Fahrern.

… wer macht die Richtlinien?

Buchholz präsentierte die so entstandenen deutschen “Richtlinien für den passiven Schutz an Straßen durch Rückhaltesysteme” (= Leitplanken u.ä.) von 2009, kurz RPS 2009, in der die “kritischen Abstände” zwischen Straßenrand und Bäumen geregelt sind. Beim Bau von neuen Straßen und auch beim Aus- und Umbau (in die Breite) gilt: Bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von über 100 km/h müssen Bäume 12 m vom Straßenrand entfernt stehen, bei 80 -100 km/h sind es 7,5 m, zwischen 60 und 80 km/h 4,50 m.

Meldung in der WZ vom 4.3.2011: Alkoholisierte Mutter fährt frontal gegen Straßenbaum
Eine 30-jährige Frau ist gestern gegen 11 Uhr auf der Kreisstraße 88 (Neugarmssiel – Neufunnixsiel) mit ihrem Pkw frontal gegen einen Baum gefahren. Nach dem Durchfahren einer Rechtskurve kam die Frau nach rund 100 Metern auf gerader Strecke nach rechts von der Fahrbahn ab und prallte ungebremst gegen den Baum. Wie die Polizei mitteilte, hatte die junge Mutter einen Atemalkoholwert von 1,0 Promille. Im Auto saß außerdem ihr zweijähriges Kind, das glücklicherweise ordnungsgemäß angeschnallt war und nur eine Schürfwunde am Kopf erlitt …

Die RPS 2009 wurde übrigens nicht von der Regierung herausgegeben, sondern von der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV). Helge Breloer, Juristin und bundesweit anerkannte Sachverständige für Baumpflege und Verkehrssicherheit von Bäumen, vermutet, dass noch ganz andere Interessen dahinterstecken: “Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) erweckt den Eindruck, als sei ihm jedes Mittel recht, wenn es um Kostensenkung geht, in diesem Fall um Kostensenkung auf Kosten der Bäume. Es geht darum, die Bäume vom Straßenrand zu verbannen, weil sie die Ursache der vielen ‘Baumunfälle’ sein sollen. Jetzt will der GDV, so ein Zeitungsbericht, durch ein Rechtsgutachten den Gemeinden und Straßenbauern ‘auch auf juristischem Weg das Anlegen neuer Alleen an Straßen verleiden‘. Der GDV arbeitet sehr effizient, wohl wissend, welcher Mittel er sich bedienen muss, um Wirkung zu erzielen. Hier führte der Weg zunächst über die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV), welche im Oktober 1999 einen Entwurf für ‚Richtlinien zum Schutz vor Baumunfällen‘ (RSB) erarbeitete unter federführender Mitwirkung von Volker Meewes, der im Auftrag des GDV bereits 1995 eine Studie über ‘Baum-Unfälle’ erarbeitete. Diese Studie mit zahlreichen statistischen Erhebungen über Unfälle an Bäumen, eine wahre Schreckensbilanz, wurde zur Grundlage der geplanten Richtlinien gemacht.”

Aus Motornews 12-2009: Der ACE plädiert dafür, an besonders gefährlichen Stellen Überholverbote einzuführen, Schutzplanken aufzustellen und die Höchstgeschwindigkeiten zu begrenzen. Ein Abholzen von Wäldern und Alleen entlang von Straßen lehnt der Autoclub ab. Neugepflanzte Bäume sollten allerdings einen Abstand von mindestens neun Metern zur Fahrbahn haben.

Teure Pflanzflächen

Bei Ausbauten vorhandener Straßen bedeutet die Umsetzung der RPS: Vorhandene Bäume, die zu dicht dran stehen, müssen fallen. Eine Neuanpflanzung im vorgeschriebenen Abstand scheitert oft daran, dass sich der zu bepflanzende Seitenraum gar nicht mehr im öffentlichen Eigentum befindet. Auch beim Neubau von Straßen müssten entsprechend zusätzliche Flächen erworben werden, was meist an wirtschaftlichen Erwägungen scheitert. Im Landkreis Friesland beschränkt man sich auf einseitige Bepflanzung, aber das ist dann eben keine Allee im klassischen Sinne.

Auch unabhängig von den umstrittenen Abstandsregelungen fallen im Landkreis Friesland aus Gründen der Verkehrssicherheit jährlich etwa 130 alte Straßenbäume, während nur etwa 30 nachgepflanzt werden, wussten einige Teilnehmer der Diskussion. Entschieden wird bei sogenannten Baumschauen, ob ein Baum nicht mehr standsicher ist oder zu weit in die Straße hineinragt. Oder er wird nach einem Unfall als Sicherheitsrisiko eingeschätzt. “Die Straßen sind durch Ausbauten immer breiter geworden, deshalb ragen die Kronen des alten Baumbestandes ins Lichtraumprofil der Straße und müssen beseitigt werden”, beklagte Uwe Burgenger, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Kreistag.

Aus WAZ-online, Juni 2010: Gifhorn – Sicherheits-Konzept wirkt: Weniger Baumunfälle
Schutzplanken, Warntafeln, flächendeckende Tempomessungen und veränderte Fahrbahnbeläge haben in den ersten fünf Monaten bei den so genannten Baumunfällen Menschenleben gerettet. „Die Maßnahmen greifen, wir haben einen historischen Tiefstand“, sagt Polizeisprecher Thomas Reuter. Von Januar bis Anfang Juni habe es nur neun Baumunfälle mit schweren Folgen gegeben, im Vorjahr habe die Polizei noch 17 Baumunfälle mit Schwerverletzten und Toten gezählt. „Ein Rückgang um 50 Prozent“, spricht Reuter von einer „spektakulären Tendenz“.

Buchholz und Ambrosy waren bemüht, die Gemüter zu beruhigen: Bei Baumschauen würden Bäume so weit wie möglich erhalten, aber es gäbe gesetzliche Vorschriften von Bund und Land, denen sie sich unterordnen müssten. Ein Angstfaktor, der den Griff zur Kettensäge beschleunigt, ist die Klagewut deutscher Bürger. Da machte auch Ambrosy keinen Hehl draus. Wenn ein am Baum Verunfallter nachweisen kann, dass der hölzerne Unfallgegner nur ein bisschen zu weit ins Lichtraumprofil der Straße ragt, ist der Landrat als Leiter der zuständigen Behörde haftbar.

Alternative: Runter vom Gas!

Da die Abstandsregelung sich nach der zulässigen Geschwindigkeit richtet, könnte man diese auch absenken. Die Crux dabei: Notorischen Freie-Fahrt-für-freie-Bürger-Fans ist schwer zu vermitteln, warum sie auf einer schnurgeraden baumbestandenen Landstraße 50 fahren sollen. Buchholz drückte es sinngemäß so aus: Man müsse das vorhersehbare tatsächliche Verhalten der Verkehrsteilnehmer dabei berücksichtigen. Man sieht also voraus, dass die Raser sich (und andere) gefährden werden, und damit sie sich dabei nicht tot fahren, macht man ihnen die Bahn frei: Statt landschaftsprägender Bäume und vernünftigem Tempo (inkl. Kontrollen) ein unbegrenztes Schotterbett zum Ausrollen?

OLG Dresden in einem Urteil vom 2. 10.1996 im Zusammenhang mit der Einhaltung des Lichtraumprofils: „Der Senat weist ausdrücklich darauf hin, dass zur Beachtung der Verkehrssicherungspflicht des ‚Lichtraums‘ ein generelles Fällen von Alleebäumen – auch entlang von Bundesstraßen – nicht erforderlich ist.“

In der Diskussion überwogen sachliche wie emotionale Beiträge zum Erhalt der Bäume, aber es kam auch die Fraktion zur Sprache, die – unabhängig vom Verhalten der Verkehrsteilnehmer – lieber einen Baum mehr absägt, damit auch Unvernunft nicht tödlich endet. Das will natürlich keiner, auch Naturschützer nicht.

Am Ende zog das Podium ein eher weichgespültes Resümee: Im Prinzip bestehe im Landkreis Friesland kein Grund zur Panik, alles sei in bester Ordnung und man müsse sich um den Gesamtbestand nicht sorgen. “Es droht kein Kahlschlag”, so Ambrosy. Auch Evers-Meyer meinte, “Verkehrssicherheit und Alleenerhalt sind kein Widerspruch in sich”, aber sie habe doch den Eindruck, es gäbe einen “leisen Schwund an Bäumen”. Besorgt beobachtet sie, wie gerade im Forst entlang von Straßen und Wegen “kanadische Einflugschneisen” entstünden, um der Verkehrssicherungspflicht zu entsprechen. Ihr Fazit: “Nicht alles ist gut”. Vielleicht muss Frau Evers-Meyer in der Sache doch mal als Politikerin und nicht nur als Bürgerin tätig werden, um in der breiten Fraktion der Betonköpfe etwas zu bewegen.

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Die Legende vom springenden Alleebaum

Stellen Sie sich vor: Sie haben den Abend über mit Freunden ein paar leckere Bierchen und Schnäpse getrunken, fahren nun gemütlich mit 120 die dunkle Landstraße entlang nach Hause und freuen sich auf Ihr Bett. Da springt nach einer leichten Kurve unvermittelt und heimtückisch ein Baum auf die Straße und – KRACH!!

Familien, die durch einen sogenannten Baumunfall einen Angehörigen verloren haben, finden diese Geschichte vermutlich nicht witzig. Sie stammt auch nicht von uns. So ähnlich erzählte Herbert Rosendorfer schon 1969, als es noch mehr Alleen und weniger Autos gab, keine Airbags, kein ABS, kein ESP, seine “Legende vom springenden Alleebaum”. Mit Schadenfreude gegenüber alkoholisierten Rasern hat das nichts zu tun. Mit seiner Polemik wollte Rosendorfer nur die nicht weniger polemische Schuldzuweisung in Frage stellen, wonach Bäume nicht mehr als ein Sicherheitsrisiko im Verkehr darstellen.

Dabei besitzen Bäume durchaus positive Funktionen gerade auf Landstraßen. Als feste Strukturen vermitteln sie beim Vorbeifahren ein Gefühl für die tatsächliche Geschwindigkeit – sofern die Wahrnehmung nicht getrübt ist durch Alkohol oder andere Drogen, Müdigkeit, Terminstress. Bäume schützen vor Wind, blenden die Sonne ab und dämpfen prasselnden Regen. Bäume filtern Autoabgase. Um einen großen alten Alleebaum als CO2-Filter zu ersetzen, muss man 200 junge Bäume nachpflanzen.

Nein, der Baum ist nie schuld. Er verstärkt nur die Wirkung des “Abkommens” von der Straße, die der Fahrer eines Unfallfahrzeugs verursacht. Jede Straße in eine hindernisfreie Rennbahn zu verwandeln, kann nicht der Weg sein zum Ziel der EU-Leitlinie, die bis 2020 die Zahl der Verkehrstoten halbieren soll. Die sieht dafür noch ganz andere Instrumente vor – so die konsequente Kontrolle und Ahndung von Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften und intensive Schulung besonders gefährdeter Gruppen von Verkehrsteilnehmern. Selbst der ADAC schreibt in seinem “Standpunkt Baumunfälle”: Der Fahrer steht unbestritten zuvorderst in der Verantwortung, durch umsichtige und defensive Fahrweise Unfälle zu verhindern. Die tödliche Gefahr durch Baumunfälle ist jedoch vielen Verkehrsteilnehmern gar nicht bewusst. Durch Information kann die Akzeptanz für z. B. Geschwindigkeitsbeschränkungen in Alleen gesteigert werden.

Heinz Muth, dessen Sohn 18-jährig nach einem unverschuldeten Aufprall auf einen Baum zum Pflegefall wurde, vertritt die Initiative “Sicherer Straßenrand”. „Für mich war die Entscheidung, alte Bäume am Straßenrand nicht mehr zu ersetzen, die beste Nachricht seit Jahren“, sagte Muth in einem Gespräch mit Udo Borkenstein. „Heute gibt es keinen Grund mehr für Alleen.“ Sie seien historisch gewachsen. „Damals fuhr dort einmal am Tag eine Kutsche lang.“ – Wie? In Schlössern wohnen heute auch keine Könige mehr, aber wir erhalten sie mit großem Aufwand als ein Stück schöner Architektur und lebendiger Geschichte.

Doch es kommt noch dicker: Bäume, sagt Muth, gehörten schließlich in den Wald und nicht dahin, wo sie Menschenleben gefährden. Bei allem Respekt für Familie Muth: So geht das nicht! Mag sein Sohn auch vorschriftsmäßig gefahren sein – allgemein gesprochen für die wesentlichen Unfallursachen könnte man ihm entgegenhalten: Und Rennfahrer gehören auf die Rennstrecke und alkoholisierte Fahrer gehören ins Taxi und nicht auf die Landstraße, wo sie Menschenleben gefährden. Statt eines Baumes könnte das aufprallende Auto auch einen Radfahrer oder Fußgänger treffen, der sich parallel zur Straße bewegt. Spätestens dann wird die Autorepublik Deutschland und das unbedingte Mitgefühl für Autofahrer in Frage gestellt.

Imke Zwoch

Das OLG Hamm erklärt in einem Urteil (VersR 1995, 1206): „Wie in den letzten Jahren zunehmend in das allgemeine Bewusstsein gedrungen ist, besteht an der Erhaltung des Baumbestandes auch an öffentlichen Straßen ein allgemeines Interesse, so dass zwischen den Belangen der Verkehrssicherheit und den ökologischen Interessen an der Erhaltung des Baumbestandes abzuwägen ist.“

 

 

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