Wer hat in Wilhelmshaven die Planungshoheit?
Am Mittwoch soll der Rat den Bebauungsplan beschließen, der es ALDI an der nördlichen Gökerstraße (zwischen Schelling- und Hegelstraße) ermöglicht, die Verkaufsfläche dort erheblich auszuweiten. Ein mehr als doppelt so großer Neubau soll entstehen, ein ortsbildprägender Grünstreifen mit Bäumen an der Gökerstraße soll zusätzlichen Kundenparkplätzen weichen. Hier stellt sich wieder mal die Frage, wer bei uns die Planungshoheit der Stadtentwicklung in der Hand hat: Der Rat der Stadt oder doch eher Einzelhandelskonzerne und andere Investoren?
„Im Rahmen des (Einzelhandels-)Konzeptes wurde festgestellt, dass der Bereich unterversorgt ist und als integrierte Standorte (angrenzende Wohnbebauung, städtebauliche Integrationsmöglichkeiten, Erreichbarkeit für Fußgänger, ÖPNV-Nutzer) sehr gute Ansiedlungsmöglichkeiten aufweist“, so die Begründung des städtischen Planungsamtes. Wir haben das CIMA-Einzelhandelskonzept[i] sorgfältig studiert und finden beim besten Willen keinen Hinweis darauf, dass ausgerechnet in diesem Bereich eine „Unterversorgung“ besteht. Im Gegenteil: „Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass in einem Siedlungsraum oder Ortsteil, wie ihn die Stadtbereiche der Stadt Wilhelmshaven darstellen, ein gutes Nahversorgungsniveau vorliegt, wenn die Handelszentralität in der Warengruppe Lebensmittel/ Reformwaren sich in einem Korridor zwischen 85 und 95 bewegt.“ In WHV-Mitte, wozu der fragliche Standort gehört, liegt die Handelszentralität laut CIMA sogar bei 110. „Ein dringender Handlungsbedarf zur Ansiedlung weiterer Lebensmittelnahversorger kann entsprechend nicht festgestellt werden“, schreiben die CIMA-Fachleute. „Die Ansiedlung weiterer Nahversorgungsbetriebe würde eher zu Verdrängungseffekten führen als dass zusätzlich Kaufkraft gebunden werden könnte.“ Kleine Fachgeschäfte haben gegenüber den Marktriesen das Nachsehen, Leerstände sprechen für sich. „Mit Blick auf das qualitative Angebotsniveau liegt damit kein ausgewogenes Verhältnis zwischen Angeboten aus dem Lebensmitteldiscountbereich sowie dem Frischesegment vor. Das Lebensmittelangebot wird maßgeblich durch die vorhandenen Lebensmitteldiscounter dominiert.“ Wir lesen daraus: Weitere ALDI-, LIDL- und NETTO-Märkte sind nicht gerade das, was die Stadt braucht. Das Planungsamt argumentiert hingegen: „Der geplante Neubau des Aldi-Lebensmittelmarktdiscounters würde die Versorgungssituation nachhaltig absichern und qualitativ und quantitativ aufwerten.“
ALDI will seine Verkaufsfläche durch Abriss und Neubau mehr als verdoppeln (von 466 auf 1.100 m²). In diesem Zuge werden rein rechnerisch zusätzliche Parkplätze erforderlich[ii]. Dafür soll der etwa sieben Meter breite Grünstreifen zwischen Gökerstraße und Einzelhandelszentrum auf 130m Länge beseitigt werden, einschließlich fünf großer Birken. Der Fachbereich Stadtplanung ist sich des Problems bewusst: „Dies ist mit negativen Auswirkungen auf das Straßenbild, auf das Schutzgut Tiere und Pflanzen sowie auf die kleinklimatische Funktion des Gebietes verbunden. Insbesondere die Beeinträchtigung des Straßenbildes ist als erheblich zu werten, da keine Maßnahmen zur Wiederherstellung einer straßenbegleitenden Baumreihe vorgesehen sind“. Aus Sicht des Fachbereichs Umwelt ist dieser Grünzug ortsbildprägend und müsste eigentlich erhalten werden. Das Planungsamt räumt ALDIs Forderungen jedoch Vorrang ein „Die Sicherung der Nahversorgung für die umliegenden Wohngebiete geht einher mit einer zusätzlichen Versiegelung von Freiflächen. Diesem Belang muss zwangläufig dem Vorrang eingeräumt werden.“ Und kann sich auch eine Spitze gegenüber den Kollegen vom Umweltamt nicht verkneifen: „Seitens des Fachamtes wurde seit dem Bestehen des Nahversorgungszentrums (um 1990) keine Aufwertung des Grünstreifens unternommen, um eine optische Qualitätserhöhung (Aufwertung des Straßenbildes) zu erreichen. Wenn dieser Streifen aus naturschutzrechtlicher Sicht so eine Bedeutung besitzt, besteht schon seit über 25 Jahren.“ Tatsächlich ist der sieben Meter breite Grünstreifen ein perfekter Standort für Stadtbäume, die ansonsten meist zwischen gepflasterten oder asphaltierten Flächen eingekesselt um ihr Dasein kämpfen. Die Umweltbehörde macht hier allerdings weniger Naturschutzbelange geltend, sondern eine positive Gestaltung des Stadtbildes, die auch Aufgabe des Planungsamtes ist.
Laut Baumschutzsatzung müssen für die gefällten Birken an anderer Stelle Ersatzbäume gepflanzt werden, doch „die negativen Auswirkungen auf das Straßenbild durch Entfernung der Birkenreihe an der Gökerstraße … verbleiben als erhebliche Beeinträchtigung durch die vorliegende Planung.“
Nach bestehenden rechtlichen Vorschriften ist auch eine Kompensation für die versiegelte Grünfläche erforderlich. Auf Vorschlag des Fachbereichs Umwelt sollen am Ollacker See (Sengwarden) knapp 700m² Intensivgrünland zu Sumpf- und Röhrichtlebensräumen sowie Feuchtgebüschen entwickelt werden. Damit wären die an der Gökerstraße verloren gegangenen ökologischen Werteinheiten zumindest an anderer Stelle innerhalb des Stadtgebietes wieder ausgeglichen.
Da macht der Bauherr dicke Backen: „Hiergegen legen wir Widerspruch ein, da wir der Meinung sind, dass wir keine Ausgleichsflächen im externen Bereich aufpflanzen müssen. Bei der vorgenannten Maßnahme handelt es sich lediglich um einen Nahversorger, der bereits Bestand hat und lediglich in dem dortigen Gebiet die Nahversorgung abdeckt.“ Also Expansion = Bestandsschutz? Und der Fachbereich Planung springt ihm bei: „Der Plangeber muss hier das besondere Gewicht auf die Versorgung der Bevölkerung legen und dieses bei der bauplanungsrechtlichen Abwägung besonders berücksichtigen. Im Rahmen der Planabwägung besteht im Bereich der Gökerstraße ein besonderes öffentliches Interesse … an der Sicherung der Nahversorgungssituation. So muss hier dem privaten Interesse des Investors den Vorzug gegeben werden; der naturschutzrechtliche Belang muss zurücktreten. Damit ist auch der Verlust der Werteinheiten zu respektieren.“
Das Planungsamt bleibt also dabei: Ohne den ALDI-Neubau sind die Anwohner quasi vom Hungertod bedroht. Wir lesen das CIMA-Konzept anders und finden dort eine weitere interessante Aussage: „Leistungsfähige und moderne Lebensmitteldiscounter streben aktuell eine Verkaufsflächendimensionierung von mind. 1.000 m2 bis zu 1.300 m2 an. Kleinere und unrentable Standorte werden tendenziell geschlossen.“ Da kommen wir der Sache schon näher. ALDI macht Druck. Entweder Expansion oder Schließung. Und da Discounter ihre Läden, die sie aus Profit-Erwägungen geschlossen haben, nicht zurückbauen müssen, würde da – neben weiteren – ein richtig fetter Leerstand verbleiben.
In der Sitzung des Bauausschusses fasste Frank Amerkamp, Leiter des Planungsamtes, das (laut WZ-Bericht vom 9.3.) so zusammen: „Wenn der Grünstreifen erhalten werden soll, dann können sie die Baumaßnahme an dieser Stelle vergessen.“ Darauf Martin Harms (CDU): „Wir wollen doch wohl nicht für fünf Birken die Aldi-Erweiterung gefährden . . .“. Alles klar?
Es geht hier nicht (nur) um ein paar Birken und 1000 m2 Rasenfläche. Es geht (wieder mal) um die Frage, ob die Stadt sich ihre Planungshoheit und damit ihre Zukunft von Investoren aus der Hand nehmen lässt, die allein zugunsten der Profitmaximierung entscheiden.
In der Raumordnung und Stadtplanung wird Nahversorgung definiert als Versorgung der Verbraucher mit Waren für den täglichen, kurzfristigen Bedarf, insbesondere den Nahrungs- und Drogeriebedarf. Der Begriff „nah“ wird von Kommunen mit einer Distanz zwischen 500 und 1000 m definiert. Grundsätzlich gelten Wege bis zu 1000m als fußläufig machbar und werden tatsächlich auch zu 60% zu Fuß erledigt, bis 2000m auch per Fahrrad, darüber meist mit dem Auto. (Quelle: raumkom, „Nahversorgung näher bringen“.) Da fragt man sich, warum das Auto bzw. die Parkplätze beim Nahversorgungszentrum Gökerstraße so eine große Rolle spielen, dass stadtbildprägende Grünstrukturen dafür geopfert werden. Zumal auf einer Karte im CIMA-Konzept ersichtlich ist, dass die Anwohner in diesem Bereich Wilhelmshavens gleich drei solcher Zentren in einem Radius von 500m verfügbar haben, deren Einzugsbereich sich sogar überschneidet.
Bäume entscheiden nicht nur über die Lebensqualität von Vögeln, sondern auch von Menschen. „Stadtgrün ist kein ’nice to have‘. Es ist ein Muss, um Lebensqualität und sozialen Zusammenhalt der Stadtgesellschaft zu stärken„, sagt Harald Herrmann, Direktor des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Auch das Bundesamt für Naturschutz misst dem Stadtgrün neben der ökologischen eine große soziale Bedeutung bei: „Grünräume im urbanen Raum können vor allem bei Kindern und Jugendlichen die motorische, kognitive, emotionale und soziale Entwicklung fördern.“ Bäume (und Vogelgezwitscher) vor der Haustür sind also ein wichtiger Beitrag zur Prävention. „Doch Grün in der Stadt tut nicht nur Kindern gut, sondern sichert und verbessert die Lebensqualität aller Generationen. Dort, wo Stadtgrün schnell und direkt erreichbar ist, steigen Lebensqualität und Lebenserwartung insbesondere älterer Stadtbewohner“. Selbst aus wirtschaftlicher Perspektive ist Stadtgrün ein wichtiger Faktor, denn eine attraktive Aufenthaltsqualität lädt zum Bummeln, Flanieren und Verweilen ein.
Jetzt (und in Zukunft) liegt es in der Hand des Rates, ob wir unsere Stadt im Sinne von Konzernen gestalten oder im Sinne ihrer BürgerInnen.
[i] Fortschreibung Einzelhandelskonzept für das Oberzentrum Wilhelmshaven. CIMA Beratung + Management GmbH. November 2014.
[ii] Ebenfalls plant der ansässige COMBI Verbrauchermarkt sich zu erweitern. Dabei soll die Verkaufsfläche um ca. 186 m2 von 1.425 auf 1.611 m2 erhöht werden. Zusätzliche Parkplätze werden jedoch nicht beansprucht.
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