Abschiebungen
Jun 012006
 

Aus den Augen, aus dem Sinn

Landtagsabgeordnete berichtete zur Situation im Kosovo

(iz) Wer sich von Amts wegen mit Abschiebungen beschäftigt, hat selten eine realistische Vorstellung davon, wie es den Betroffenen nach der Ankunft am Zielflughafen ergeht. Filiz Polat, Mitglied der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und des Petitionsausschusses im niedersächsischen Landtag, hat sich vor Ort ein Bild gemacht. Auf Einladung der UnterstützerInnen der Familie Mucaj berichtete sie über die wenig hoffnungsvolle Situation im Kosovo und über Möglichkeiten und Grenzen des Bleiberechts.

Filiz PolatKoordiniert wird die hiesige Bleiberechtskampagne von einem Bündnis aus dem Unterstützerkreis für Mucajs, der BürgerInneninitiative gegen Ausländerfeindlichkeit (BIGAF) und kirchlichen Vertretern. „Wir sind eine Kirche, die sich mit Geschichte auseinandersetzt“, unterstrich Pastor Frank Morgenstern als Gastgeber der Informationsveranstaltung im Gemeindehaus der Christus- und Garnisonkirche.
Eingangs nannte Polat die vordringlichen migrationspolitischen Ziele ihrer Fraktion:

  • Ende der so genannten Kettenduldung (Teufelskreis aus Asylantrag – Ablehnung – Widerspruch usw.)
  • Einrichtung einer Härtefallkommission (HFK), die nicht aus politischen Vertretern besteht, wie es sie in allen Bundesländern außer Niedersachsen und Hessen gibt.Im April gab es grünes Licht für eine solche Kommission in Niedersachsen. Problematisch ist jedoch,
  • dass die Zusammensetzung dieses Gremiums allein dem Landtagspräsidentenn überlassen ist
  • dass die Entscheidung, ob ein Flüchtling überhaupt in der HFK behandelt wird, dem Petitionsausschuss obliegt – die HFK entscheidet also nicht mehr über das „Ob“, sondern nur noch über das „Wie“.

Wie viele Flüchtlinge befindet sich Familie Mucaj in folgender Zwangslage: Wenn sie von Sozialhilfe abhängig sind oder wenn bereits ein konkreter Abschiebetermin anberaumt ist, haben sie keinen Zugang zur HFK. Ohne Arbeitserlaubnis ist die Familie jedoch gezwungen, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Liegt ein Arbeitsangebot vor, ist der potenzielle Arbeitgeber zunächst verpflichtet, bevorzugt einen deutschen Arbeitslosen einzustellen – es sei denn, er kann nachweisen, dass besondere Kenntnisse (z. B. Sprache, Gastronomie) erforderlich sind. Hier gibt es Ermessensspielräume, die von den Nachbarkreisen eher zu Gunsten der Flüchtlinge genutzt werden – anders als in Wilhelmshaven. Herr Mucaj würde längst in einem Restaurant mit albanischer Küche arbeiten, wenn der Leiter der hiesigen Arbeitsagentur ihm die Genehmigung erteilt hätte. Der Job ist in zweierlei Hinsicht schicksalsentscheidend:

  • Kein Job bedeutet Sozialhilfebezug, Sozialhilfe bedeutet: kein Zugang zur HFK
  • Liegt dem Petitionsausschuss ein Bleiberechtsantrag vor, wird die Duldung automatisch verlängert, bis darüber entschieden ist – dies gilt jedoch nicht für Sozialhilfeempfänger, sie können jederzeit abgeschoben werden, ehe ihr Fall überhaupt behandelt wird.
Ende Januar waren die Eheleute Mucaj und ihre beiden Söhne nachts aus ihrer Wohnung geholt und zum Düsseldorfer Flughafen gebracht worden. Eine Intervention des Anwalts konnte in letzter Minute verhindern, dass Mucajs in den Kosovo geflogen wurden. Zurück in Wilhelmshaven, erleben sie jeden neuen Tag zwischen Hoffen und Bangen: Auf der einen Seite die überwältigende Unterstützung ihrer Mitbürgerinnen (über 1000 haben mittlerweile die Petition unterzeichnet), auf der anderen Seite der ungewisse Ausgang des Verfahrens. Für eine Familie aus Armenien kam jede Hilfe zu spät: Die nächtliche Abschiebung ging aus Sicht der Behörden „reibungslos“ über die Bühne. Gleichwohl fand die Empörung der Nachbarschaft, der Schule und anderer Mitmenschen großen Widerhall in den örtlichen Medien.
Kosovo: „Alles schön“?

„Alles in Ordnung“, lautet das Urteil der Bundesregierung zur aktuellen Lage im Kosovo. „Ich konnte dort alles kaufen, auch Medikamente“, berichtete ein Wilhelmshavener, der unlängst durch den Kosovo reiste. Frau Polat rückte diese Aussagen ins rechte Licht: Offizielle Informationsreisen politischer VertreterInnen laufen nach einem zeitlich gestrafften und wohlgeordneten Protokoll ab, das keinen Blick hinter die Kulissen erlaubt. (Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann genügten letztes Jahr gerade 6 Stunden in Pristina, um sich ein Bild von der Lage im Kosovo zu verschaffen.) Und wer genug harte Währung bei sich trägt, kann freilich alles kaufen, was ein von Korruption geprägter Markt hergibt.
Um sich ein realitätsnahes Bild von einem Land zu verschaffen, das immer noch von den Folgen des jahrelangen Bürgerkrieges geschüttelt ist, begab sich die grüne Landtagsabgeordnete vergangenes Jahr gemeinsam mit Georgia Langhans, der migrationspolitischen Sprecherin der Fraktion, auf eine inoffizielle Reise. Letztere hatte bereits einen offiziellen Besuch mit dem Landtagspräsidenten hinter sich, mit dem Ergebnis „alles schön“.
Die zweite, andere Reise war alles andere als schön. Die beiden Politikerinnen suchten u. a. Kontakt zu ÄrztInnen bzw. Krankenhäusern, aber auch zu abgeschobenen Familien.

Lieber nicht krank werden

Das Gesundheitswesen bewegt sich auf einem Minimalstandard, der nur eine Schlussfolgerung zulässt: „Lieber nicht krank werden“. Die Medikamentenschränke der Kliniken sind leer, auch, weil viele Ärzte nebenbei frei praktizieren und ihren Bedarf dort „decken“. Besonders gravierend ist das bei Psychopharmaka, die zur Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) eingesetzt werden. Mindestens jede/r Fünfte leidet nach den schrecklichen Kriegserfahrungen unter PTBS. Die Arbeitslosigkeit (bzw. der Anteil der SozialhilfeempfängerInnen) liegt je nach Altersgruppe zwischen 40 und 70 Prozent. Das Medikament kostet monatlich ca. 140 €; die Sozialhilfe beträgt im Kosovo monatlich 35,- €. Eine wirkliche Heilung oder zumindest Besserung der PTBS ist nur psychotherapeutisch möglich; solche Angebote, die in Deutschland lebenden Betroffenen offen stehen, sind im Kosovo nicht in ausreichendem Umfang verfügbar bzw. nicht bezahlbar.
Nicht selten werden Anträge auf Asyl bzw. Bleiberecht damit begründet, dass chronische Erkrankungen eines Familienmitgliedes im Herkunftsland nicht adäquat behandelt werden können. Außer PTBS, einer unter Kriegsflüchtlingen zwangsläufig verbreiteten Erkrankung, gilt dies auch für „Volkskrankheiten“ wie Diabetes, die altersabhängig verstärkt auftreten. Frau Polats Lagebericht aus dem Kosovo zeigt, dass diese Antragsgründe keine juristische Spiegelfechterei, sondern sehr ernst zu nehmen sind.
Vielen KosovarInnen und anderen Abschiebeopfern ist ein Überleben in der fremden „Heimat“ nur möglich, weil sie von Familienmitgliedern oder anderen UnterstützerInnen aus Deutschland finanzielle Hilfe erhalten.

25.000 geduldete AsylbewerberInnen leben in Niedersachsen, davon 15.000 seit mehr als fünf Jahren. Die Mehrheit davon sind KosovarInnen, die vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs Anfang der 90er Jahre nach Deutschland kamen.
Schule im Schichtbetrieb

Auch das Bildungssystem im Kosovo liegt nach dem Krieg immer noch darnieder. Der Kosovo ist das jüngste Land Europas: 33% der Bevölkerung sind jünger als 15 Jahre, insgesamt 50% jünger als 25. An den Schulen wird im 3-Schicht-Betrieb unterrichtet, 25 Kinder teilen sich einen Klassenraum von 15 m². Nach internationalen Standards sollen pro Kind mindestens 2 m² zur Verfügung stehen.
In Deutschland geborene Kinder, die in dieses ihnen völlig fremde Herkunftsland ihrer Eltern abgeschoben werden, haben – mangels Sprach- und anderen sozial bedeutsamen Kenntnissen – keine Chance, dort in bestehende Netzwerke Gleichaltriger aufgenommen zu werden.
Kinder, die Deutschland mit einem Schulabschluss verlassen, hätten es leichter. Lange Zeit war es üblich, mit der Abschiebung zumindest zu warten, bis die Kinder ihr Zeugnis in der Hand hielten. Derzeit ist es in Niedersachsen aber wieder gang und gäbe, sie mitten im Schuljahr oder sogar wenige Tage vor der Zeugnisvergabe durch Abschiebung vieler Chancen zu berauben.
Derzeit wird das Bleiberecht für Kinder neu diskutiert. Schünemanns Vorschlag: 15- bis 23-Jährige können hier bleiben – unter der Voraussetzung, dass die Eltern gehen.
Drastisch waren auch die Schilderungen aus den Lagern der Roma, einer besonders stark von ethnischen Konflikten betroffenen Volksgruppe im Kosovo. Ihre Siedlungen wurden komplett zerstört, zum Teil leben sie seit Jahren in Flüchtlingscamps. In einem Lager wurden extrem hohe Bleibelastungen im Boden entdeckt, das Camp wurde daraufhin um 250 m verlagert. Polats Fazit: „Ich habe schon einige Slums gesehen, aber das …“ Auf Grund dieser besonders schweren Bedingungen gilt für Roma ein genereller Abschiebeschutz.

Die Rolle der UNMIG

Nur vier MitarbeiterInnen dieser UN-Interimsregierung im Kosovo teilen sich die Aufgabe, über die „Rückführung“ von Flüchtlingen zu entscheiden. U. a. prüfen sie, ob es noch Besitz bzw. Verwandte vor Ort gibt. Frau Polat traf eine mehrköpfige Familie, die sämtlichst in die winzige Wohnung der Großmutter eingezogen war – auf Dauer für alle Beteiligten unzumutbar.
Gibt es weder Besitz noch Verwandte, muss die UNMIG ihr Veto gegen die Abschiebung einlegen. Ob die Vetos beachtet werden, kann die UNMIG nur bei Charterflügen kontrollieren. Deutsche Behörden gehen dazu über, die Betroffenen auf (teurere) Linienflüge zu setzen.
Derzeit wird über den zukünftigen Status des Kosovo verhandelt. Zum Jahresende sollen die UNMIG und die KFOR dort abgezogen sein. Damit wären auch die größten Arbeitgeber aus der Region verschwunden.
Derzeit liegt die angestrebte Abschiebequote bei 500 Menschen monatlich, tatsächlich sind es etwa 50 bis 100. Wie es ihnen nach der Ankunft im Herkunftsland ergeht, wird nicht kontrolliert.

Signale von Freunden für Freunde

Abschließend kam Frau Polat auf den konkreten Fall der Familie Mucaj zurück. Sie bestätigte den Eingang der Petition, die nun dem Innenministerium zur Stellungnahme vorliegt. Dieses hält zunächst Rücksprache mit der zuständigen Ausländerbehörde (die ihre ablehnende Entscheidung bereits getroffen hat, weshalb der Ausschuss ja angerufen wird).
Polat riet den Betroffenen, den gesamten Rechtsweg auszuschöpfen. So könnte z. B. das Sozialgericht wegen Verweigerung der Arbeitserlaubnis eingeschaltet werden. Zudem sollten Betroffene nicht zu bescheiden sein, wenn es um die Darstellung ihrer Integrationsbemühungen geht: „Ehrenamtliches Engagement ist ein Supersignal.“
Vor allem aber machte sie deutlich, dass „der öffentliche Druck sehr wichtig ist, weil er das Ganze hinauszögern kann.“ Sie nannte Beispiele, wonach ganze Kommunalparlamente entsprechende Petitionen unterzeichnet hatten. Diese wurden „zur Chefsache erklärt“, d. h. der Landtagspräsident beschäftigte sich persönlich damit. Statt einer können auch mehrere Petitionen abgesandt werden, was allerdings für die Unterzeichner mehr Aufwand bedeutet, aber: „100 Petitionen aus Cuxhaven zeigten Wirkung“.

 

Kommentar:

Meinungsfreiheit

Bedauerlich ist, dass sich nur jene, die ohnehin sensibilisiert sind, ausführlich mit der wirklichen Lage in den Herkunftsländern von Flüchtlingen beschäftigen, weniger aber solche, die nach Aktenlage entscheiden und Verlautbarungen glauben, die konform zur aktuellen Politik gehen.

Wer hoch und trocken sitzt und sich ein Abonnement der Tageszeitung leisten kann, der kann auch einen dieser widerlichen Leserbriefe absondern, wie sie in den letzten Wochen in der WZ zu finden waren: Da plädieren Ewiggestrige für rasche Abschiebungen, „Gesetze sind dafür da, befolgt zu werden.“ Die Geschichte zeigt, dass Gesetze dafür da sind, ständig hinterfragt und erforderlichenfalls im Sinne einer wirklich zivilisierten und humanitären Gesellschaft geändert zu werden.

Andererseits steht es MigrantInnen in Deutschland zu, die Gesetzeslage zu ihren Gunsten bis zum Schluss auszuschöpfen. Voraussetzung ist, dass sie ihre Rechte kennen und bei deren Durchsetzung unterstützt werden. Und dass ihnen der Weg bis zur letzten Instanz, sei es der Petitionsausschuss, sei es die Härtefallkommission, nicht durch widersprüchliche Regelungen verwehrt bleibt, die eine vorzeitige Abschiebung ermöglichen
Jene, die sich öffentlich für das Bleiberecht von MigrantInnen engagieren, sehen sich auch mit Repressalien konfrontiert. Wir hoffen, dass sie und alle MitstreiterInnen sich dadurch nicht einschüchtern lassen und weiterhin die äußeren Grenzen eines demokratischen Systems ausloten, statt sich, getreu dem Motto „nichts sehen, nichts hören, nicht sagen“ im stillen Zorn zu verkriechen.

Imke Zwoch

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