Offener Brief
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
schon wieder wurde in Wilhelmshaven eine Familie am frühen Morgen von einem großen Polizeiaufgebot „ausgehoben“ und aus dem Land geworfen. Mit Sicherheit ist auch diese erneute Abschiebung nach Recht und Gesetz vor sich gegangen, genau wie die versuchte Abschiebung der Familie Mucaj, die uns vor sechs Wochen Anlass war, Ihnen zu schreiben.
In Ihrem Antwortbrief haben Sie uns erläutert, dass und inwiefern Ihre Mitarbeiter so und nicht anders handeln mussten. Bestimmt könnten Sie uns Entsprechendes auch für den Fall der Familie Manukjan erklären. Doch das wollten und wollen wir mit unserem Schreiben gar nicht erreichen. Nein, mit unserer Bitte, unsere MitbürgerInnen und NachbarInnen ausländischer Herkunft künftig vor Abschiebung zu schützen, weil Abschiebung unmenschlich ist, wollten wir Sie zur Nichtbefolgung von Recht und Gesetz, zu zivilem Ungehorsam ermutigen, und wir wollten Sie ermutigen, Ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu zivilem Ungehorsam zu ermutigen.
Ein städtischer Bediensteter erklärt in der „Guten Morgen Sonntag“, bei Dienstantritt sein Gewissen an der Garderobe abzugeben. Das entsetzt uns. Städtische MitarbeiterInnen und Mitarbeiter erklären in der „WZ“, wenn sie etwas, das sie als Unrecht empfinden, nicht tun wollten, dass sie sich dann versetzen lassen müssten und dass dann halt andere es tun würden. Das entsetzt uns.
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, kennen Sie das Milgram-Experiment (Stanley Milgram, Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Reinbek 1995) ? „Ganz gewöhnliche Menschen, die nur schlicht ihre Aufgabe erfüllen und keinerlei persönliche Feindseligkeit empfinden, können zu Handlangern in einem grausigen Vernichtungsprozess werden. Schlimmer noch: Selbst wenn ihnen die zerstörerischen Folgen ihres Handelns vor Augen geführt und klar bewusst werden, verfügen doch nur vereinzelte Menschen über genügend Standfestigkeit, um der Autorität wirksam Widerstand entgegenzusetzen“, so lautet Stanley Milgrams Fazit in der Dokumentation seines sozialpsychologischen Experiments, in dem er feststellen musste, dass Menschen bereit sind, andere Menschen zu quälen, nur weil jemand es anordnet und behauptet, es sei wichtig.
Die jungen NVA-Soldaten, die Republikflüchtlinge erschossen, haben auch nach Recht und Gesetz und auf Befehl gehandelt. Jemand hat es angeordnet und ihnen gesagt, es sei wichtig. In ihren Strafprozessen hat es ihnen allerdings nichts genützt, dass sie sich auf ihre Befehle berufen haben; sie wurden verurteilt.
Befehle und Recht und Gesetz sind schön und gut, und sie sind notwendig für das Zusammenleben in Gemeinschaften. Doch sie sind falsch und zerstörerisch, wenn wir aufhören, sie zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen, sie immer wieder in Frage zu stellen und an höherwertigen Maßstäben, an Moral, Ethik, Menschlichkeit zu messen; sie sind falsch und zerstörerisch, wenn wir sie blind befolgen. Es ist notwendig, Recht und Gesetz zu brechen, wenn es falsch ist.
Wir nehmen an, dass Sie die „Wilhelmshavener Zeitung“ regelmäßig lesen. Da wurden Ihnen in den letzten Tagen und Wochen die Folgen von (versuchten und erfolgten) Abschiebungen vor Augen geführt: Die Familie Mucaj kann nicht mehr ruhig schlafen, alle vier haben Angst. Eine ältere Dame weiß nicht, wie sie ihrem demenzkranken Mann erklären soll, dass die kleine Aregnas nie mehr kommen wird. Ein weiteres armenisches Mädchen und ihr kleiner Bruder können vor Angst nicht mehr schlafen und schrecken weinend hoch. (Leserbrief von Elke Albers in der „WZ“ vom 25. März)
Herr Oberbürgermeister, wir hoffen und wünschen, dass Sie und Ihre Mitarbeiter zu den Menschen gehören mögen, die genügend Standfestigkeit besitzen, um der Autorität wirksam Widerstand entgegenzusetzen!
Unser Bundesland Niedersachsen richtet jetzt endlich (als zweitletztes) eine Härtefallkommission ein. Diese Kommissionen haben die Aufgabe, in Fällen wie denen der Familie Mucaj und der Familie Manukjan zu prüfen, ob ein Aufenthaltsrecht gewährt werden kann, obwohl nach „Recht und Gesetz“ eigentlich Ausreisepflicht bestünde. Wir vermuten stark, dass u.a. hier geborene und/oder aufgewachsene Kinder, die in Schule und/oder Kindergarten gehen und Freunde und Freundinnen haben, ein Grund sind, damit ein „Fall“ (dann sogar nach Recht und Gesetz) zum „Härtefall“ wird.
Johann und Sabine Janssen weisen in ihrem Leserbrief in der „WZ“ vom 20. März auf die UN-Kinderrechtskonvention hin, in der es in Artikel 3 heißt. „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“
Angesichts dessen meinen wir, dass die Stadt Wilhelmshaven alle anstehenden Abschiebungen aussetzen muss.
Mit freundlichen Grüßen
Anette Nowak, Herward Meier
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