Riesenschritte
Wilhelmshavens rosige Zukunft
(hk) „Chemie-Pläne: Riesenschritt für die Region“, „Chemie-Pläne: Großer Schritt nach vorn steht bevor“ – so und ähnlich sprangen die Schlagzeilen der Wilhelmshavener Zeitung in den letzten Wochen der Bevölkerung ins Auge. Was ist denn da los?
Es geht um Investitionen von 1,4 Milliarden Euro – davon rund 800 Millionen allein durch den ICI-Nachfolger INEOS. Weiter geht es um den Bau einer Ethylen-Pipeline nach Marl (ca. 100 Mio.) und um öffentlich nicht näher dargestellte Vorhaben der lokalen und internationalen Chemiebetriebe. Diese Vorhaben schwirren schon seit mehreren Jahren durch die Chefetagen der Industrie und die Büros der Ministerialbürokratie.
Als größtes Hindernis für die Realisierung der ehrgeizigen Chemiepläne wurde der Energiepreis benannt. Bekanntlich ist Deutschland für knapp ein Viertel der Treibhausgasemissionen in Europa verantwortlich und damit der größte Treibhausgasverursacher in der EU (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, 28.07.2004). Die Pläne der Bundesregierung, den Anteil der Emissionen zu reduzieren, hatte natürlich Auswirkungen auf den Strompreis. Und das brachte die energieintensive chemische Industrie, wie z.B. das Chlorgaswerk auf dem Rüstersieler Groden, auf die Palme. Parallel zu den öffentlich wirksamen Schließungsdrohungen wurde eine intensive Lobbyarbeit betrieben.
Im September 2003 konnte die SPD-Bundestagsabgeordnete Evers-Meyer dann den ersten Vollzug melden: Für das INEOS-Chlor-Werk wird die Härtefallregelung in Anwendung kommen. Statt erwarteter 3,0 Mio. Energiesteuern (ca. 5% des Umsatzes) wird das Chlorwerk zukünftig man gerade noch 1,2 Mio. Euro (~ 2% des Umsatzes) berappen müssen. Im April 2004 gab es noch einen Nachschlag von Frau Evers-Meyer: „Die neue Härtefallregelung bringt massive Entlastungen für die stromintensive Industrie hier vor Ort. Die für Investitionen dringend notwendige Planungssicherheit ist damit gewährleistet. Die Unternehmen können sich jetzt dem internationalen Wettbewerb stellen. (…) Für die besonders stromintensive Industrie (mehr als 100 GW/h Stromverbrauch) wie z.B. INEOS in Wilhelmshaven sind noch weitere Reduzierungen vorgesehen: Unternehmen wie INEOS werden bereits ab der ersten Gigawattstunde entlastet.“ Nun hatte die Industrie also ihr Ziel erreicht: Der Rohstoff Strom wird beinahe zum Nulltarif geliefert. Und wie versprochen wurden jetzt auch wieder die 1,4 Milliarden Investitionen aus der Schublade gezogen.
Schon im Jahre 2001 wurde der erste Schritt in der Studie ‚Wirtschaftliche Entwicklungsperspektiven des Jade-Weser-Raums unter besonderer Berücksichtigung des geplanten Jade-Weser-Ports’ des Bremer und niedersächsischen Institutes für Wirtschaftsforschung dargestellt:
Der erste Schritt in Richtung eines Ausbaus des Chemiestandortes Wilhelmshaven besteht in der Verlegung der Chlorproduktion auf dem Voslapper Groden, die den Anstoß zu einer Modernisierung und Erweiterung der Produktionskapazitäten bildet. Produktionstechnisch hätte dies den Vorteil, das alte, im Jahr 2010 auslaufende Produktionsverfahren auf Quecksilberbasis aufgeben zu können. Mit einem Investitionsvolumen von rd. 500 Mio. DM würden etwa 200 Arbeitsplätze neu geschaffen bzw. gesichert werden. Die Erhöhung der Kapazität der Chlorproduktion am Standort Wilhelmshaven ist eine Voraussetzung für einen Ausbau der nachgelagerten PVC-Produktion.
Das heißt nichts weiter, als dass ein altes Werk und die den JadeWeserPort behindernde Chlorgasleitung abgerissen werden und ein schmuckes neues Werk (mit den entsprechenden Fördermillionen) errichtet wird.
Da dieses neue Werk mehr Chlorgas als das alte produzieren soll, will man auch gleich die PVC-Produktion erhöhen. Und dafür braucht man den Rohstoff Ethylen, der bisher kostenträchtig per Schiff angelandet wird. Da bietet es sich natürlich an, eine Pipeline zu bauen, um kostengünstiger an das Ethylen zu kommen. Damit würde sich ein alter Traum der chemischen Industrie, die Vernetzung der Produktionsanlagen von Ost nach West und von Süd nach Nord, erfüllen.
Wir zitieren wieder aus dem Gutachten von 2001:
Eine dauerhaft wettbewerbsfähige Steigerung der PVC-Produktion setzt den kostengünstigen Bezug größerer Mengen Ethylen voraus, was aus Sicht der betroffenen Unternehmen im ersten Schritt nur durch eine Produkten-Pipeline-Anbindung an einen großen Ethylen-Hersteller (Cracker) gewährleistet werden kann. In Marl wird die Veba einen Jumbo-Cracker bauen, für den die Abnahme von ca. 400.000 t Ethylen noch nicht durch Vorverträge gebunden ist, so dass die Belieferung eines norddeutschen Standortes mit dieser Menge möglich wäre. (…)
Folgen sollte die Schließung der vorhandenen Lücken zu einem Produktenpipeline-Netz, das neben der Verbindung Marl-Wilhelmshaven längerfristig durch eine Trasse von Groningen über Wilhelmshaven nach Stade und Brunsbüttel ergänzt wird. Im Sinne einer möglichst weitgehenden Flexibilität im Produktenaustausch passen hierzu auch Pläne, Stade mit ostdeutschen Standorten zu verbinden.
Nun fehlen noch einige hundert Millionen an 1,4 Milliarden Euro. Die sollen zum Einen in den Ausbau der PVC-Produktion fließen (KFZ-Teile, Verpackungen, CDs, Glasfaserkabel usw.), gleichzeitig will man aber auch noch einen Cracker bauen, um Ethylen vor Ort herstellen zu können. Das macht eigentlich keinen Sinn – man hat ja schon die Pipeline. Nun verfügt Wilhelmshaven über einen Wasseranschluss – und da könnte das produzierte Ethylen mit Schiffen an andere Chemiestandorte geliefert werden, die noch nicht an die große Ringleitung angeschlossen sind.
Erstaunlich ehrlich ist die Presse in der momentanen Propagandaoffensive in Bezug auf die Arbeitsplätze: Es „könnten einige hundert Arbeitsplätze entstehen.“ (WZ v. 21.09.2004) Und „mindestens der Erhalt einiger hundert Arbeitsplätze“, hieß es dann am 23.09.2004.
Da gibt es wieder viel zu tun!
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