Rituale
Juni 012006
 

Tschingderassabumm

Zapfenstreiche und andere Militärrituale – kritisch betrachtet

(iz) In diesem Jahr blickt Wilhelmshaven auf fünfzig Jahre Marinegeschichte zurück. Für die „Offiziellen“ ein Grund zum Feiern, für andere Anlass genug, einen kritischen Blick hinter die Kulissen des militärischen Pomps zu werfen und dessen Funktionen im gesellschaftlichen Zusammenhang zu betrachten.

Im Rahmen seiner Informations- und Veranstaltungsreihe „50 Jahre Marine – ohne Krieg“ hatte das Antifaschistische Bündnis Wilhelmshaven Dr. Markus Euskirchen als Referenten zum Thema „Militärrituale“ gewinnen können. Der 33jährige Politologe hat 2004 über dieses Thema promoviert und zählt bundesweit zur Spitze der Experten in der kritischen Militärwissenschaft. Auf Grundlage der Promotion entstand sein Buch „Militärrituale – Analyse und Kritik eines Herrschaftsinstruments“*. Während das Buch auch den theoretischen Rahmen der Forschungsarbeit aufzeigt, konzentrierte sich der Vortrag auf konkrete Rituale, ihren Ablauf und ihre staatlich-gesellschaftliche Funktion. Euskirchen trug die komplexen Zusammenhänge sehr präsent, anschaulich und allgemeinverständlich vor, aufgelockert durch Lesungen entsprechender Passagen aus dem Buch.

Das Feierliche Gelöbnis

ZapfenstreichAm Gelöbnis nimmt jeder Rekrutenjahrgang zum Abschluss der Grundausbildung teil. Es wird öffentlich (bevorzugt) oder nichtöffentlich durchgeführt, in der Regel mit einem Gottesdienst verbunden. Dieses Ritual manifestiert die „körperliche, ethisch-moralische und staatsbürgerliche“ Grundausbildung.
Ein Ziel ist die Darstellung der Bundeswehr „in der Tradition des antifaschistischen Widerstands des 20. Juli“. Untermalt wird dies durch diverse militärische und zivile Reden. Zum Ritual gehört auch das Aufsagen der Eidesformel sowie der Schlachtruf „Semper fides“ („Immer treu“). Letztlich geht es um die „Suspendierung des Gewissens“, das Beschwören der Bereitschaft, zu töten oder getötet zu werden.
Bezeichnend ist die körperliche Überlastung der Rekruten während des Rituals, hervorgerufen durch langes Stehen und Exerzieren mit schweren Gewehren. Regelmäßig brechen Teilnehmer zusammen, die entstehenden Lücken werden aus nachfolgenden Reihen aufgefüllt, damit das Bild wieder stimmt. Interviews, die Euskirchen mit Rekruten führte, belegen, wie hart die jungen Männer für dieses Spektakel gefordert werden, das vorher ausführlich trainiert wird.
Rekruten können die Teilnahme am Gelöbnis verweigern, verzichten damit aber auf die Regelbeförderung einschließlich des erhöhten Soldes.

Der Große Zapfenstreich

Dieses Ritual soll am 11. Juni auf dem Rathausplatz stattfinden. Hier kommen nicht „normale“ Rekruten zum Einsatz, sondern ein speziell geschultes Bataillon, das ausschließlich dafür trainiert wird. Zumeist wird das Wachbataillon aus Berlin dafür „eingeflogen“, das zu je einem Drittel aus Angehörigen von Heer, Luftwaffe und Marine besteht.
Zum Ritual gehören das Lied „Ich bete an die Macht der Liebe“ und der Befehl „Helm ab zum Gebet“.
Der Zapfenstreich stammt aus der Zeit der Landsknechte und war das Zeichen für den Beginn der Nachtruhe in den Feldlagern. Die Soldaten zogen mit ganzen Familien durch die Lande, abends gab es eine große Party, zu deren Abschluss der Zapfen am Bierfass gestrichen wurde. Dazu gehörten auch die heute rituell eingebundenen Pfeifen und Trommeln.

Funktion der Rituale

In einer Gesamtschau betrachtete Euskirchen die genannten und weitere Rituale in ihrer „staatstragenden“ Funktion:

  • Staatsempfang / Parade: Imponieren und Visualisieren der Macht gegenüber dem anderen Staat, für dessen Repräsentanten dieses Ritual ausgerichtet wird
  • Gelöbnis: Initiation und Integration der Rekruten in den Militärapparat
  • Staatsbegräbnis, Volkstrauertag: nationale Heldenproduktion (Rehabilitierung der Gefallenen aus den beiden – von Deutschen provozierten – Weltkriegen, „Umwidmung“ des Faschismus zum antifaschistischen Widerstand vom 20. Juli 1944)
  • Kranzniederlegung: Gedenken, Geschichtskonstruktion
  • Zapfenstreich: religiöse Überhöhung der Bedeutung von Militär; beinhaltet auch die Funktionen der vorgenannten Rituale
Schwören stören

So präsent wie die öffentlich zelebrierten Militärrituale sind auch die Protestaktionen ihrer Gegner („Schwören stören“, „Gelöbnix“). Als effektiv erwiesen sich z. B. „Flitzer“, also Nackte, die das „feierliche“ Bild eines Berliner Gelöbnisses nur durch ihre Anwesenheit und somit völlig gewaltfrei störten. Das Militär hat für solche Veranstaltungen eine Sondernutzungsgenehmigung für den genutzten öffentlichen Platz und kann einen eigenen Sicherheitsbereich einrichten. Die Feldjäger fungieren als interner Sicherheitsdienst – und haben alle Hände voll zu tun, die „Störer“, weil im Rampenlicht, gewaltfrei zu „entfernen“, auch wenn sie im Rahmen des Gesetzes „des unmittelbaren Zwanges“ agieren. Kommt es zwischen Bewachern und Militärgegnern zu Rechtsverfahren, entscheiden die Gerichte nicht selten zu Gunsten der gewaltfreien DemonstrantInnen, die zu Opfern von „Körperverletzung in Amtsausübung“ wurden.
Die Proteste richten sich gegen

  • die Militarisierung öffentlicher Räume
  • die symbolisch-rituelle (völkerrechtswidrige) Verherrlichung von Militär, die Wehrpflicht und zivile Zwangsdienste
  • die Produktion eines männlich-autoritären Charakters
  • die Instrumentalisierung von Frauen in der Bundeswehr (Anm.: Sich „männlich“ verhaltende Frauen sind in der Bundeswehr „erfolgreicher“)
  • die staatliche Rekonstruktion von Nationalität, Tradition und Geschichte
  • die Rolle von Militär und Staat zur Aufrechterhaltung von kapitalistischer Vergesellschaftung (mit allen ihren menschenfeindlichen Konsequenzen)
Kritikansätze und Widersprüche

Komplex, aber wichtig für das Gesamtverständnis war ein Bogen, den Euskirchen quer durch die Palette politischer Couleurs spannte: Argumente der verschiedensten Richtungen für oder gegen Militärrituale – und ihre Widersprüche.

  1. Konservative fordern mehr Militärrituale (als es ohnehin schon gibt). Dabei übersehen sie, dass gerade dezente Militärauftritte die Remilitarisierung der BRD ermöglichten.
  2. Linksradikale kritisieren das Militär, im Kontext mit Staat, Nation und Kapitalismus. Aber: Auch ihre eigenen Aktionsformen tendieren zu Ritualen. Vor allem aber besteht die Gefahr, als demokratischer Bestandteil in die Obrigkeitsinszenierung integriert zu werden („seht her, die Bundeswehr verteidigt einen demokratischen Staat, indem sogar öffentliche Kritik am Militär zulässig ist“).
  3. Rechte Sozialdemokraten: Wird das Militär durch seine Öffentlichkeit zivilisiert? Gegenfrage: Wird nicht vielmehr die Öffentlichkeit dadurch militarisiert?
  4. Modernisierung (Grüne der 90er Jahre): „Weg mit den alten Zöpfen“ – Rituale sind überflüssig. Ist diese reine „Effizienzkritik“ zulässig? Die Bereitschaft, zu töten bzw. zu sterben, muss, wenn sie nicht ideologisch (über Rituale) hergestellt wird, bezahlt werden (Berufsarmee).
  5. Friedensbewegung: Argumentiert mit Grundrechten auf Leben, Würde, Gewissensfreiheit; verbietet Zwangsdienste und Kriege. Kritikansatz: Wie sind diese Grundrechte durchzusetzen? (staatlich, gewaltmonopolistisch, militärisch)

Das Spannungsfeld dieser Argumente und ihrer Widersprüche lässt sich etwa wie folgt umreißen: Ordnet sich der Soldat dem Gemeinwohl unter – oder kapitalistischen Interessen?

Aktionsformen

Euskirchen benannte verschiedene Aktionsformen gegen die fortschreitende geistige und praktische Re-Militarisierung der Bundesrepublik:

  • Aufklärung der Gesellschaft (über vermeintliche und tatsächliche Funktionen von Militär / Bundeswehr)
  • Kriegsdienst- oder Totalverweigerung
  • Verweigerung der Rüstungssteuer aus Gewissensgründen. Hierzu gibt es schon einen Gesetzesentwurf, aber keine Mehrheit im Bundestag. (Hinweis: ein Achtel des bundesdeutschen Haushaltes fließt in die Rüstung – zum Vergleich: nur 7% in die Kultur)
  • Desertion, oder der Aufruf dazu
  • Wehrdienstverweigerung aus dem Wehrdienst heraus
  • Streiks, Blockaden, Sabotagen (z. B. werden in Italien Stützpunkte blockiert; in Irland der Shannon Airport – eine Frau zerschlug ein Militärflugzeug mit einer Axt

Bei alldem ist wesentlich, so Euskirchen, dass der Protest massenhaft zum Ausdruck kommt.

Bügeln als Wehrkraftzersetzung

entwaffnungIm Publikum saß auch ein Vater, der angesichts der Auslandseinsätze im Kosovo große Angst um seinen Sohn hatte und überhaupt mit dessen Engagement in der Bundeswehr nicht einverstanden war. Ein Akt des väterlich-zivilen Ungehorsams war es, den Kampfanzug des Sohnes zu bügeln – was für den darob von den „Kameraden“ verspotteten Sohn schon der „Wehrkraftzersetzung“ gleichkam.
Die Angst des Vaters ist jedoch durchaus ernst und ernst zu nehmen, wie Euskirchen bestätigte: Es steht zu erwarten, dass für derlei „Protektoratseinsätze“ die Freiwilligkeit der Teilnahme aufgehoben wird. An diesem Beispiel wurde deutlich, wie sich die Funktion der Bundeswehr in den letzten 50 Jahren gewandelt hat. Nach den Erfahrungen aus dem 2. Weltkieg nur zögerlich und als reine Friedensarmee von den Alliierten geduldet, hat sie sich mittlerweile, vom unbedarften Bürger unbemerkt, aber von der politischen und wirtschaftlichen Lobby gefördert, wieder in die Chefetage der staatlichen Meinungsführung gemogelt. Die Einsätze außerhalb des Staatsgebietes sind „verfassungsrechtlich bedenklich, aber parlamentarisch abgesegnet“, fasste Euskirchen das Ergebnis dieses schleichenden Prozesses zusammen.
Ein weiteres Thema der angeregten Diskussion war die „soziale Wehrpflicht“, wie sie sich z. B. in den USA schon deutlich zeigt: Angehörige der Unterschicht wählen mangels Alternativen aus sozialer Not das Militär als Beruf. Mit zunehmendem Auseinanderklaffen der Sozialstruktur in Deutschland könnte dies auch hier die Zukunft des Militärs bestimmen. Ungeachtet dessen ist derzeit schon zu beobachten, dass es Wehrdienstverweigerer in Deutschland wieder schwerer haben, als es jahrelang der Fall war.
Die Militarisierung Deutschlands bleibt weiterhin ein Thema, bei dem kritische BürgerInnen Augen und Ohren offen halten sollten. Insbesondere in Wilhelmshaven, das sich als Marinestandort intensiv und nicht nur einseitig mit deutscher Militärgeschichte beschäftigen sollte. Dem antifaschistischen Bündnis sei für diesen und weitere wichtige Beiträge zur politischen Bildung ausdrücklich gedankt.

*Buchtipp:
Markus Euskirchen: Militärrituale. Analyse und Kritik eines Herrschaftsinstruments. 250 S.
Papyrossa Hochschulschriften 59, 2005.
ISBN 3-89438-329-1. 17,50 Euro.
Weitere Infos zum Thema unter
www.euse.de / www.kampagne.de /

Bundeswehr: Polizei ermittelt nach Schlagstockeinsatz
Nach dem Großen Zapfenstreich vor dem Reichstag ermittelt die Berliner Polizei gegen einen Kollegen, der einen Demonstranten mit einen Schlagstock verletzt hat. Der Beamte habe die Waffe unverhältnismäßig gegen einen Militärgegner eingesetzt, teilte die Polizei am Donnerstag mit. Es sei ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt eingeleitet worden. (RBB-Meldung vom 27.10.2005)

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