Aufhören, Herr Becker, hören Sie auf! (Kabarettist Wilfried Schmickler)
Der Nationalismus ist ein garstig Ding
(hk) Es ist normal, dass Menschen sich zu ihrem Staat bekennen, dass Menschen stolz auf ihr Land sind. Das gilt auch für Deutsche und für Deutschland. Erlaubt ist, was gefällt! Doch der Nationalismus hat auch eine zweite Seite – es ist das Gesicht der Überheblichkeit, des Chauvinismus. Und die Freude über die Leistungen und Errungenschaften des eigenen Landes/Staates kippen oft in diese Richtung. Und dann wird es normalerweise übel. Der ‚Fall’ Stefan Becker ist hierfür ein gutes Beispiel unter vielen.
Die Fußball-Weltmeisterschaft brachte trotz der überbewerteten Leistung des DFB-Teams die Nation zum Kochen – ein Land versank in einem schwarz-rot-goldenen Meer. Dass der Eindruck einer großen Leistung der Kicker entstehen konnte, hatte zwei Ursachen: Zum einen waren die Erwartungen nach den kläglichen Vorbereitungs-Auftritten eher niedrig angesetzt, zum anderen puschte eine in ihren Ausmaßen bis zum Beginn der WM völlig unbekannte Öffentlichkeitskampagne die Stimmung im Land in Richtung Nationalmannschaft. Zu Beginn hatte die ganze Aktion mehr einen karnevalistischen Charakter. Haare und Gesichter wurden schwarz-rot-gold gefärbt, kleine Filzstift-Fähnchen zierten Oberarm, Wange und Backe. Das schwarz-rot-goldene Tuch war auch als Sitzunterlage angenehm, die Menschen liefen mit bunten Zauberer-Hütchen, mit schwarz-rot-goldenen Plastik-Keulen herum, selbst die Baby-Kleidung machte klar, dass da der kommende Ballack das Licht der Welt erblickt hat – in all dem war ein gehöriger Spaßfaktor enthalten.
Doch irgendwann drehte sich das Bild: Autos waren plötzlich nicht einfach mehr mit Fähnchen bestückt – sie wurden aufgedonnert, dass man denken konnte, da fährt der Potentat einer Operettenbananenrepublik an einem vorbei. Die totale Beflaggung einer ganzen Nation nahm immer mehr militaristische Züge an. Gleichzeitig stieg die Frequenz der Kommentare, in denen betont wurde, dass das alles ganz normal sei – und irgendwann war die Bevölkerung der Meinung, dass das wirklich alles ganz normal sei.
Dabei war das, was in Deutschland passierte, alles andere als normal – und es ist und war auch nicht in anderen Ländern normal, wie es uns die Herren und Damen Kommentatoren und Politiker glauben machen wollten.
Zum Beispiel Italien: „Nicht nur die Ausfälle des Rechtspopulisten und Lega-Nord-Mitglieds Calderoli, der in Berlusconis Kabinett als Sportminister saß, gegen das französische Team (Neger, Moslems und Kommunisten) haben für heftigen Wirbel zwischen Rom und Paris gesorgt. In Südtirol kam es zu offenen faschistischen Sympathiebekundungen – besonders nach dem Sieg gegen Deutschland. Sogenannte „Fans“ fielen regelrecht mit einem grün-weiß-roten Fahnenmeer in Bozen ein und paradierten vor einem immer noch dort stehenden „Duce“-Denkmal. (…) Mit zum Faschistengruß gestrecktem Arm bejubelte die Tifosi-Menge die Tore gegen die Klinsmann-Elf. (…)
Unterdessen lieferten fanatisierte Azzuri-Anhänger auch in Rom nach dem Sieg im Weltmeisterschaftsfinale üble Visitenkarten ab. Am Tag danach sind im früheren jüdischen Ghetto der Hauptstadt Hakenkreuz-Schmierereien entdeckt worden.“ (Nach WZ vom 12.7.2006)
Noch beweiskräftiger sind die antisemitischen Äußerungen von Stefan Becker, Herausgeber des hochglänzenden Non-Informationsblattes ‚Scout’ und Vorsitzender von Radio Jade:
Endlich braucht man sich nicht mehr verstecken, nur weil man Deutschland und seine Fußballnationalmannschaft liebt. Und wir tun gut daran, es so auszuleben, denn Spaß ist ein Stück Lebensqualität. Es erhöht die Freunde am Leben und es erhöht die Umsätze der Wirtschaft. Dieses benötigen wir in unserem Land, denn beides garantiert auch einen Teil des erhofften Aufschwung. Und wenn es Menschen wie die neue Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland gibt, die die Politik wieder ins Sportleben reinlabern will (ihr wisst schon, die eventuelle Einreise des iranischen Ministerpräsidenten), dann kann ich nur sagen: Mädel, einfach mal die Klappe halten. Wir wollen kein Kriegs- und Holocaustgequatsche bei unserer WM. Wir wollen begeisternden Fußball sehen, wir wollen gute Gastgeber sein und wir wollen Deutschland leben.
Ohne vergessen zu wollen, was zwei Generationen vor mir passiert ist, ist es endlich an der Zeit, auch die alten Patriotismus,- und Nationalstolzdebatten verblassen zu lassen. Meine Generation und die neue Generation haben keine Lust mehr auf falsche Zurückhaltung in diesem Bereich, sondern wir freuen uns darüber, Deutsche zu sein, wie viele deutschstämmige Türken, Griechen, Albaner und Russen auch, die ebenfalls mit Deutschlandfahne durch das Land fahren und mitfeiern. Deutschland lebt. Endlich!
Solch nationalistischen und antisemitischen Äußerungen entstehen ja nicht in wenigen Tagen zwischen dem Beginn der WM und dem Erscheinen des Scout, sie sind latent vorhanden. Die schwarz-rot-goldene Stimmung in WM-Deutschland spülte so etwas dann an die Oberfläche. Endlich darf man seine seit Jahren heruntergewürgte Kritik laut sagen – die ganze Nation schwimmt ja auf einer gemeinsamen nationalen Besoffenheit.
Und das alles geschieht mitten in Wilhelmshaven, mitten in Deutschland, mitten in der Demokratie.
Stolz, ein Deutscher zu sein? Ganz bestimmt nicht wegen einer millionenschweren Kickertruppe. Mir fällt bei Betrachtung meiner Gegenwart nichts ein, was mich als deutschen Staatsbürger von Bürgern anderer Nationen abhebt, nichts, was mich veranlassen könnte, stolz darauf zu sein, dass ich Deutscher bin.
Inzwischen ist Stefan Becker von seinem Posten bei Radio Jade zurückgetreten, der Text im Internet wurde entschärft – aber er hat auch noch einen nachgelegt – In der August-Ausgabe des Scout beweist Becker, dass er nichts verstanden hat.
Offener Brief
Lieber Stefan Becker,
wir mögen vielleicht in einem Land leben, in dem jeder seine Meinung frei zum Ausdruck bringen darf, aber liegt es nicht in der Verantwortung eines Journalisten und vor allem eines verantwortlichen Redakteurs, mit welcher Wortwahl und Meinung er die Öffentlichkeit beeinflusst?
Ich frage mich, wer bei einem Thema wie dem Patriotismus bewerten kann, wo berechtigter Nationalstolz anfängt und endet und an welcher Stelle er über die Grenzen hinausgeht? Sie vielleicht?
Sind wir nicht in erster Linie alle ‚nur’ Menschen, bevor der jeweilige Geburtsort, die Nationalität, Kultur und Konfession eine Rolle spielen? War es nicht das, was Rio Reiser schon vor meiner Zeit mit dem Song „Mein Name ist Mensch“ zum Ausdruck bringen wollte? Ist es nicht das, worin wir erst einmal alle einer Meinung sein sollten?
In Deutschland musste erst eine Fußball-Weltmeisterschaft stattfinden, um ein Gefühl von Gemeinschaft hervorzurufen, obwohl unser Volk aufgrund seiner Geschichte doch eine einheitliche und überzeugte Meinung haben müsste.
Wenn die Bewohner dieses Landes erst beginnen, ihre Fahnen zu schwingen, wenn eine Fußballweltmeisterschaft hier stattfindet, zeigt das wohl deutlich, dass auch „Kriegs- und Holocaustgequatsche“, um es mit Ihren Worten auszudrücken, immer noch notwendig ist. Dabei sollte jeder bereit sein, Meinungen und Ängste anderer zu respektieren. Diesen Respekt sollten wir dabei auch dem „Mädel“ des Zentralrats der Juden gewähren.
Darüber hinaus stehe ich Ihrer Gleichung, die Sie zum Ausdruck gebracht haben, eher kritisch gegenüber. „Wir tun gut daran, es so auszuleben. Spaß ist ein Stück Lebensqualität – erhöht Freude am Leben und Umsätze der Wirtschaft – beides garantiert einen Teil des erhofften Aufschwungs.“ Wenn Spaß und Fußball den erhofften Aufschwung bringen sollen, dann gute Nacht, Deutschland!
Mag sein, dass die Zeit wirklich vorbei ist, in der man schon als Nazi galt, wenn man eine Deutschlandfahne im Garten hängen hatte, wie Sie schreiben. Dennoch bezweifle ich, dass es den Fahnen schwenkenden Fans darum ging, sich mit ihrem Land zu identifizieren, sondern ich denke, dass Fahnen schwenkende Trikot-Träger sich eher mit ihrer Fußball-Nationalelf im Einklang sehen und dabei nicht über unsere Geschichte nachdenken.
Mich wundert, dass es so etwas wie Nationalstolz überhaupt noch auf der Welt gibt. Für mich ist es ein unbegreifliches Phänomen, dass es im 21. Jahrhundert und im Zeitalter eines gemeinsamen Europas überhaupt noch zu Wettstreitereien einzelner Länder kommen kann. Wenn Sport wirklich ein fairer Sport ist, dann gilt, dass der Bessere gewinnen möge. Dann sollten wir nicht schon im Vorfeld erwarten, dass die deutsche Mannschaft Weltmeister wird, und uns nicht danach mit Tränen in den Augen in die Arme fallen. Woher rührt diese Form von Gemeinschaftsgefühl und Vaterlandsliebe? Wenn wir durch jahrhundertelang praktizierte Politik dazu erzogen worden sind, patriotisch zu sein, sollte man das mal überdenken.
Diese durch Fußball und Industrie initiierte Fahnenschwenkerei ist mit anderen Ländern gar nicht zu vergleichen. Sie schreiben, dass wir Spaß an etwas haben, was andere Länder uns schon jahrzehntelang vorleben, nämlich, sich mit seinem Land zu identifizieren. Andere Völker haben im Gegensatz zu uns ein natürliches Wir-Gefühl und holen nicht erst zur WM ihre Fahnen aus den Taschen, um sie nach der WM, vor allem nachdem die eigene Nationalmannschaft nicht Weltmeister geworden ist, nach und nach wieder in der Schublade verschwinden zu lassen.
Zudem frage ich mich, wer eigentlich mit Ihrem doppelt und dreifach betonten „Wir“ gemeint ist, welches Sie z.B. verwendeten, als Sie betonten, dass wir begeisternden Fußball sehen wollen, dass wir gute Gastgeber sein wollen, dass wir Deutschland leben wollen?
Wir wollten gute Gastgeber sein, und die meisten von uns wollten begeisternden Fußball sehen. Aber meinen Sie mit „wir“ auch, dass begeisterte Fußballfans, die ihre Fahnen schwenkten, ein Symbol dafür sind, Deutschland zu leben? Bedeutet „Deutschland leben“ Ihrer Ansicht nach, sich mit Fußballern zu identifizieren und dabei schwarz-rot-goldene Accessoires an sich zu tragen, nicht aber, sich mit den Werten und Vorstellungen unseres Landes zu beschäftigen oder sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen? Wenn das mit Ihrem „Wir“ gemeint sein sollte, dann bitte ich Sie darum, Ihre Texte demnächst in der Ich-Form zu verfassen, um die Menschen, die anderer Meinung als Sie sind, nicht einbeziehen.
Jessica Kramhöft
Klappe halten!
Stefan Becker hat Wilhelmshaven mit seinem unsäglichen Intro zum Juli-„Scout“ publizistisch gut über das unmittelbar auf die Fußball-WM folgende Sommerloch gebracht. Beckers Rücktritt vom Vorstandsposten bei Radio Jade wurde gefordert, Beckers Rücktritt wurde berichtet. Wir konnten lesen, dass Michael Konken Beckers Ausschluss aus der SPD will, und Becker hat versichert, dass er kein Antisemit sei. Jetzt wäre für ihn ein guter Zeitpunkt gewesen, endlich mal die Klappe zu halten.
Hätte er innegehalten, eine Runde nachgedacht und vielleicht auch mit ein paar politisch denkenden Menschen gesprochen, dann hätte er die Chance gehabt, das Sommertheater, das er – berauscht von dem einen oder anderen Fußballspiel und vielleicht dem einen oder anderen Glas Bier – angerichtet hatte, so halbwegs ehrenvoll zu beenden. Zwar lief es mit Sicherheit ziemlich vielen Leuten eiskalt den Rücken runter, als sie über mehrere Wochen auf den Straßen Tausenden von Deutschland-Fähnchen begegneten, weil sie befürchteten, dass auf das Fähnchenschwingen als nächstes „Deutschland, Deutschland über alles“ und danach bald „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“ folgen könnten – aber nach der WM ebbte das Fähnchenmeer schnell ab, und die meisten hätten wahrscheinlich bald gnädig vergessen, zu welchen geistigen Tiefen es in Zeiten der Flut den Stefan Becker führen konnte.
Aber in der August-Ausgabe des „Scout“ schwingt er noch einmal Fähnchen und Stift zu einer Mischung aus Trotz, Flucht nach vorn, Beschönigung seiner Entgleisung und weiteren Peinlichkeiten: Keinesfalls wird er sich öffentlich entschuldigen, schließlich hat er doch im Juli „an das Leid der jüdischen Mitbevölkerung erinnert und hervorgehoben“ (so, hat er das?), alle, die ihn kritisieren, sind böswillig, und alle wissen doch, „dass der ‚Scout’ keine FAZ oder Süddeutsche Zeitung ist“ und dass darin „anstelle des Wortes ‚Gerede’ schon mal das Umgangswort ‚Gequatsche’ genommen wird“. Hm. Wie hätte es geklungen, hätte Becker im Juli geschrieben: „Wir wollen kein Kriegs- und Holocaustgerede bei unserer WM“? Irgendwie weniger schlimm oder weniger antisemitisch?
Und die Aufforderung an Charlotte Knobloch „Mädel, einfach mal die Klappe halten“ ist okay, weil „Volkes Mund“? Was sind das denn für Leute, denen Stefan Becker aufs Maul schaut? Über 500 Bürger, so Becker im August-Scout, haben sich bei ihm gemeldet und gingen mit seinem Intro konform. Ja, Millionen von Fliegen können sich nicht irren! Also, Leute, esst Scheiße!
Anette Nowak
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