Jugendhilfe
Sep 272006
 

Neue Wege

Vernetzung, Kooperation, Sozialraumorientierung – die Jugendhilfe sucht neue Wege

(ub) Die freien Träger der Jugendhilfe im Landkreis Friesland hatten erstmalig eine gemeinsame Fachveranstaltung zum Thema „Jugend- und Familienhilfe in Zeiten knapper Kassen – Anspruch und regionale Realitäten in sich verändernden Lebenswelten“ angeboten. Die ca. 80 Teilnehmer, überwiegend Mitarbeiter aus sozialen Einrichtungen der Region, informierten sich an zwei Tagen im Waisenstift Varel über die aktuellen Entwicklungen in der Jugend- und Familienhilfe und diskutierten mit den Vertretern der kommunalen Kostenträger Ute Janssen (Landkreis Friesland), Carsten Feist (Jugendamtsleiter Wilhelmshaven) und Georg Schäfer (Jugendamt Celle), welche Hilfsleistungen angesichts der aktuellen Nachfragesituation Priorität haben sollen und wie diese Hilfsangebote längerfristig finanziell abgesichert werden können.

Einig waren sich die Vertreter der veranstaltenden Einrichtungen in ihrem abschließenden Resümee: Eine professionelle Jugend- und Familienhilfe muss auch in Zeiten knapper Kassen kontinuierlich gewährleistet sein. Dort, wo sich Hilfebedarfe abzeichnen, muss Unterstützung so früh wie möglich einsetzen. Präventive Ansätze in der ambulanten Jugendhilfe müssen verfolgt werden. Eine hohe Qualität der professionellen Hilfe muss gesichert werden. Die Beteiligten warnten auch mit Verweis auf die Folgekosten davor, notwendige Angebote für hilfebedürftige Familien aus Kostengründen zu verzögern oder etwa unzureichend zu gewährleisten.
Aber auch die Effizienz der Hilfeleistung steht auf dem Prüfstand. Landrat Sven Ambrosy forderte in seinem Begrüßungsreferat die anwesenden Vertreter der ambulanten Jugendhilfe, Schulsozialarbeiter, Lehrer und die Fachkräfte der Jugendpsychiatrie auf, „das vorhandene Wissen auszutauschen, gemeinsam zu handeln, nach Synergieeffekten zu suchen um einen effektiven Einsatz der vorhandenen Mittel zu gewährleisten“.
Mit den Möglichkeiten, die Qualität sozialer Arbeit zu entwickeln und zu sichern, beschäftigte sich in einem Fachvortrag Dr. Harald Tornow, Geschäftsführer einer Gesellschaft, die sich mit Qualitätsmanagement beschäftigt. Freie Träger der Jugendhilfe befinden sich, so Tornow, „in Konkurrenz zueinander auf einem Dienstleistungsmarkt.“ Aufgrund der Knappheit der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel erlangen laut Tornow die wirtschaftlichen Aspekte der Maßnahmen sozialer Hilfe zunehmende Dominanz. Dr. Harald Tornow verdeutlichte den Fachkollegen der vertretenen Einrichtungen, dass eine planvolle Steuerung der Hilfeorganisation und eine effiziente Ausrichtung der Hilfsangebote in Zeiten knapper Kassen hohe Priorität haben muss. Entscheidend ist aber dann, „die nachhaltige Wirkung der Hilfe“, denn wenn alle Träger der Jugendhilfe als Dienstleister unter gleichen Bedingungen agieren, müsse der Preis der Leistung sich folglich nahezu gleichen. Es kommt also darauf an, die Qualität der Arbeit so zu entwickeln, dass eine nachhaltige Wirkung erzielt werden kann. An die Vertreter der Kostenträger gerichtet stellte Tornow klar, dass eine aus Gründen der Kostenersparnis reduzierte Hilfe der Kommune langfristig unter Umständen wesentlich teurer wird, wenn aufgrund eingeschränkter Hilfsleistungen die Nachhaltigkeit nicht gesichert werden kann.
Zum Thema Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP), ihre möglichen Schnittstellen zur Jugendhilfe und gemeinsamen Kooperationsperspektiven referierten der Leiter der KJP Dr. Michael Stern und sein psychologischer Mitarbeiter Dr. Eugene Eppstein. Die Anmeldezahlen der Wilhelmshavener Psychiatrie belegen es: Immer mehr Kinder und Jugendliche sind mit Problemen konfrontiert, die eine psychiatrische Intervention erforderlich machen. Eppstein und Stern machten vor allem deutlich, dass auf dem Gebiet der psychiatrischen Hilfen auch relativ viele offene Fragen den gesicherten Erkenntnissen entgegenstehen. Schon die Diagnostik kann täuschen. Der Einsatz von Psychopharmaka kann u. U. schnell helfen. Die Verabreichung von Retalin für ADS- (hyperaktive) Kinder verspricht rasche Besserung, aber die Experten warnen vor hohen Nebenwirkungen und verweisen darauf, dass „die Langzeitwirkung von Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen noch nicht ausreichend erforscht ist“ (Dr. Michael Stern). Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe haben unterschiedliche Handlungsmaximen. Die Psychiatrie bietet Heilung oder Besserung an. Die Jugendhilfe will beispielsweise die Erziehungskompetenz der Eltern erhöhen. Eppstein und Stern wiesen darauf hin, dass dem Rat- und Hilfesuchenden nicht immer deutlich ist, wann die Handlungsfelder Psychiatrie und Jugendhilfe zuständig sind. Dass ihr Kind „krank“ sei und deshalb behandelt werden muss, ist, so die Experten der Wilhelmshavener KJP, Eltern manchmal erträglicher, als sich in der Jugendhilfe mit Defiziten ihrer Erziehungskompetenz auseinanderzusetzten.
Soziale Hilfen, wenn sie von Experten organisiert angeboten werden, kosten Geld. Die stationäre Unterbringung eines Kindes in einem Heim z. B. belastet das Budget der kommunalen Hilfe mit bis zu 50.000 Euro pro Jahr. Fremdunterbringungen auf das absolute Mindestmaß zu reduzieren ist ein vorrangiges Anliegen aller kommunaler Kostenträger. Wenn Einsparungen nicht zu Lasten der Hilfebedürftigen gehen sollen, müssen alternative Handlungsmöglichkeiten geschaffen werden. „Sozialraumorientierung und -budgetierung“ heißt dazu bundesweit das neue Zauberwort. Sozialraumorientierung als sozialpädagogisches Konzept wird mittlerweile in vielen Städten umgesetzt. Die Stadt Celle hat im Rahmen eines aus Bundesmitteln geförderten Modellprojektes die Sozialraumorientierung als neues Steuerungsmittel der Jugendhilfe umgesetzt. Der Celler Jugendamtsmitarbeiter Georg Schäfer erläuterte deren Grundprinzipien.
Die Konzepte der Sozialraumorientierung schlagen auch ein neues Finanzierungsmodell vor: die Finanzierung durch Sozialraumbudgets. Nach diesem Modell soll die Finanzierung von freien Trägern nicht mehr an die individuelle Fallbearbeitung gekoppelt werden. Vielmehr werden Träger ausgehend von sozialräumlichen Kriterien über auszuhandelnde Budgets finanziert – unabhängig von fluktuierenden Fallzahlen. Mit diesem Modell wird es für Träger attraktiv, Fälle eher früher als später zu beenden, Klienten und Familien zu aktivieren, die eigenen Selbsthilfepotenziale auszubauen und zu nutzen. Darüber hinaus werden die Finanzen sowohl für die Jugendämter als auch für die freien Träger planbarer, es können eher längerfristige Perspektiven ins Auge gefasst werden als bisher.
Der Wilhelmshavener Jugendamtsleiter Carsten Feist erläuterte in der abschließenden Podiumsdiskussion, warum er im Gegensatz zur Jugendhilfe im Landkreis Friesland im Jahr 2007 das Konzept der Sozialraumorientierung zügig umsetzen will. Die kommunale Jugendhilfe will, so Feist, unter Einbeziehung der freien Träger die insbesondere präventiven Hilfen so früh wie möglich an Kindergärten, Schulen und in den Sozialräumen installieren, um später hohe Folgekosten zu vermeiden.

Die Fachtagung „Jugend- und Familienhilfe in Zeiten knapper Kassen“ wurde organisiert von der Arbeitsgemeinschaft der Träger ambulanter Jugendhilfe in Friesland. Dieser AG gehören an:
Freie Soziale Dienste Friesland e.V.
Gemeinnützige Gesellschaft für Paritätische Sozialarbeit
Pädagogische Praxis für Kinder, Jugendliche und Familien „Lichtblick“
SOS-Hilfeverbund Wilhelmshaven-Friesland
Sozialpädagogisches Zentrum Schortens
Waisenstift Varel – Familienhilfen
Zentrum für Familie, Frauen und Jugend „Pusteblume“

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